Streit um Tschernobyl-Opferzahlen

Wir können den Behörden nicht vertrauen
Titelbild
Kinder in einem Krankenhaus - heutige Spätfolgen nach der Reaktorkatastrophe von 1986Foto: ADALBERTO ROQUE/AFP/Getty Images
Von 28. April 2006

Nach Auffassung der atomkritischen Ärzteorganisation IPPNW kann der Streit um die Opfer der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl beigelegt werden, wenn die zuständigen staatlichen oder staatsnahen Behörden und wissenschaftlichen Fachgremien dazu übergehen, seriöse und öffentlich nachvollziehbare wissenschaftliche Fakten zu veröffentlichen. „Wir brauchen den makaberen Streit um die Tschernobyl-Opfer nicht“, so IPPNW-Atomexperte Henrik Paulitz. „Es würde uns vollständig genügen, wenn die zuständigen Behörden und die offiziellen Organisationen damit aufhören würden, ihre eigenen Zahlen zu manipulieren und die Öffentlichkeit zu täuschen.“ Die Internationale Atomenergie Organisation IAEO und die Weltgesundheitsorganisation WHO haben sich nach Auffassung der IPPNW mit ihrer Vorgehensweise selbst ins Abseits gestellt.

„Entgegen so mancher Erwartungshaltung und entgegen dem öffentlichen Eindruck haben die IPPNW und auch andere atomkritische Organisationen den offenkundig falschen Zahlen von IAEO und WHO keine vermeintlich richtigen Zahlen entgegengesetzt. Das haben wir in unserer Studie auch sehr deutlich gemacht und auf die zahlreichen methodischen Schwierigkeiten hingewiesen“, so Paulitz. „Anhand von wissenschaftlichen Arbeiten haben wir allerdings aufgezeigt, mit welchen Größenordnungen man es zu tun hat und mit welchen Gesundheitsfolgen wir uns befassen müssen.“

Nach Auffassung der Ärzteorganisation gibt es durchaus ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit, über die Dimensionen der Tschernobyl-Folgen informiert zu werden, um Lehren für das zukünftige Handeln ziehen zu können. Immerhin müsse man angesichts der wesentlich höheren Bevölkerungsdichte in Deutschland damit rechnen, dass nach einem Super-GAU etwa im Atomkraftwerk Biblis möglicherweise die 10-fache Opferzahl zu beklagen wäre.

„Es stellt sich aber auch generell die Frage nach den Entscheidungsgrundlagen der Politik“, so Paulitz. „Politische Richtungsentscheidungen mit sehr weit reichenden Auswirkungen für die Bevölkerung basieren sehr häufig auf wissenschaftlichen Einschätzungen. Wir können den Vorgang nicht einfach so hinnehmen, dass internationale Organisationen wie die IAEO und die WHO der Öffentlichkeit Forschungsergebnisse bewusst vorenthalten und der Politik falsche Entscheidungsgrundlagen liefern. Hier müssen Konsequenzen gezogen werden. Wir kennen das Problem auch vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz. Jahrelang dementierte die Behörde, dass es erhöhte Kinderkrebsraten in der Nahumgebung von deutschen Atomkraftwerken gibt. Erst auf Druck der IPPNW überprüfte das Bundesamt schließlich die Forschungsergebnisse des Umweltinstituts München und bestätigte diese.“

Auch die Diskussion um einen zweiten Tschernobyl-Sarkophag zeigt nach Ansicht der IPPNW, wie wichtig eine seriöse wissenschaftliche Forschung ist. So gebe es ernst zu nehmende wissenschaftliche Hinweise darauf, dass das radioaktive Inventar des Katastrophenreaktors während des Unfalls größtenteils freigesetzt wurde und von dem Reaktor heute praktisch keine Gefahr mehr ausgehe. „Statt aber diese Einschätzung des renommierten Moskauer Kurtschatov-Instituts für Atomenergie ernsthaft zu überprüfen, geben die westlichen Regierung lieber Milliarden von Steuergeldern für westliche Gutachterorganisationen und für große Baukonzerne aus, die den möglicherweise überflüssigen zweiten Sarkophag bauen sollen. Für medizinische Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung werden hingegen fast keine staatlichen Mittel zur Verfügung gestellt.“

„Die gegenwärtige Politik, auch universitäre Forschung zunehmend über Drittmittel zu finanzieren, wird die Unabhängigkeit und Seriosität der Wissenschaft nicht erhöhen“, so Paulitz. „Inzwischen werden schon Lehrstühle von großen Atomkonzernen wie E.On co-finanziert.“

Für Fragen können Sie sich wenden an:

Henrik Paulitz, Tel. 0171-53 888 22

Kurzfassung der Studie „Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl – 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe“    



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