Wie viel Potenzial haben Gezeitenkraftwerke?

Bei der Energiewende dreht sich fast alles um Wind und Sonne, seltener um, beziehungsweise im, Wasser. Dabei sind Wasserkraftwerke nicht auf Flüsse oder Speicherseen begrenzt: Seit Jahrhunderten nutzen Menschen die unerschöpfliche Kraft der Gezeiten.
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Der Hafen von Blyne Quay, Irland, bei Niedrigwasser. Foto iStock
Von 3. Januar 2022
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Photovoltaikanlagen auf dem Dach und ausgedehnte Solarfarmen fangen Sonnenlicht ein und machen es als elektrische Energie nutzbar. Zumindest am Tag, was aber passiert nachts? Könnte nicht auch der Mond zur Stromerzeugung nützen?

Natürlich kann er und dazu braucht es nicht einmal Science Fiction. Denn die Anziehungskräfte des Mondes produzieren im Zusammenspiel mit der Rotation der Erde ein hochenergetisches Naturphänomen: die Gezeiten. Obwohl auch Ebbe und Flut nicht kontinuierlich Strom liefern können, haben sie gegenüber Sonne und Wind doch einen gewaltigen Vorteil: Sie lassen sich sehr genau vorhersagen.

Zweimal am Tag Energie frei Haus dank Gezeitenkraftwerke

Zweimal am Tag läuft ein Wasserberg um die Erde. Ein Flutberg liegt direkt unter dem Mond, der kräftig zieht. Ein anderer Flutberg befindet sich auf der gegenüberliegenden, mondabgewandten Seite. Hier überwiegen die Fliehkräfte des Erde-Mond-Systems. Sechs Stunden nach dem Hochwasser folgt das Niedrigwasser. Nach etwa zwölf Stunden gibt es dann wieder Hochwasser und das Spiel beginnt wieder von Neuem.

Die Gezeiten sind aber nicht überall gleich stark ausgeprägt. Einen besonders starken Tidenhub findet man zum Beispiel an der europäischen und kanadischen Atlantikküste. Und auch in Neuseeland und Ostafrika gibt es zweimal täglich ein heftiges Auf und Ab des Wasserspiegels.

Generell ist der Tidenhub auf offener See meist kleiner als an den Meeresküsten, wo sich das Wasser staut. Ganz besonders hoch staut sich das Wasser bei trichterförmigen Küstenverläufen, wie beispielsweise an den Mündungen von tidegeprägten Flüssen, sogenannten Ästuaren.

Abseits dieser Trichtermündungen beträgt der mittlere Tidenhub der deutschen Nordseeküste etwa zwei Meter: 1,8o m auf Sylt, 2,3o m auf Helgoland. Der mittlere Tidenhub von Cuxhaven in der Elbmündung beträgt bereits 2,90 m. Vor Bremerhaven in der Wesermündung steigt das Wasser zweimal am Tag um 3,50 m, in Wilhelmshaven am Jadebusen sogar um 3,70 m. Und der Effekt ist nicht nur auf die Küste beschränkt. So beträgt der mittlere Tidenhub in Hamburg noch immer 2,52 m und in Bremen sogar 3,88 m.

Einen der höchsten Gezeitenunterschiede Europas gibt es in der Bucht von Saint-Malo in der französischen Bretagne. Hier kann der Tidenhub bei Springtiden bis zu 13 m betragen. Ähnlich extreme Gezeiten gibt es 300 km nördlich, im Bristolkanal im Südwesten Großbritanniens. Hier herrschen sogar bis zu 15 m Tidenhub. Während Springtiden könnten hier Gezeitenkraftwerke Strömungen von bis zu 4 Meter pro Sekunde nutzen. Ähnlich starke Tidenströmungen gibt es auch auf den Orkneyinseln nördlich von Schottland.

Potenzial bereits im „rückschrittlichen“ Mittelalter erkannt

Die große Frage lautet nun: Könnte man die gigantischen Wasserbewegungen des Gezeitenspiels nicht zur Stromerzeugung nutzen? Die Idee ist keineswegs neu. Bereits im Mittelalter hatte man die Kraft der Gezeiten erkannt und entwickelte Techniken, um etwas von der frei Haus gelieferten natürlichen Energie abzuzweigen. Ein idealer Standort für sogenannte Gezeitenmühlen befindet sich beispielsweise am Tejo in Portugal.

Durch seinen Trichtereffekt beträgt der Gezeitenhub hier im Tejo-Ästuar stattliche zweieinhalb Meter. Bei Springtiden sind es sogar bis zu 4 m. Zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert bauten die Lissabonner in der Tejo-Mündung gleich 45 dieser Mühlen für Weizen und anderes Getreide. Eine dieser mittelalterlichen Gezeitenkraftwerke ist die „Moinho de Maré de Corroios“. 1403 erbaut und bis Ende der 1970er Jahre kommerziell in Betrieb gewesen, ist sie heute die am besten erhaltene Gezeitenmühle Portugals.

Noch immer voll funktionstüchtig veranschaulicht sie das einfache Prinzip: In einem der hinteren Flussarme des verwinkelten Ästuars wurde ein Staubecken abgegrenzt. In der Staumauer befindet sich ein Tor, das bei steigendem, auflaufendem Wasser automatisch öffnet und bei ablaufendem Wasser automatisch schließt. So wird das Becken bei Hochwasser vollständig gefüllt. In der Staumauer befinden sich unterhalb des Mühlengebäudes acht Kanäle, aus denen das Wasser aus dem Staubecken kontrolliert abgelassen werden kann.

Beim Durchströmen der Kanäle treibt das Wasser horizontale Wasserräder an, sogenannte Rodizios. Diese sind mechanisch direkt mit darüber liegenden Mühlsteinen verbunden, wo der Mahlvorgang des Getreides stattfindet. Pro 12-stündigem Gezeitenzyklus kann die Gezeitenmühle drei Stunden lang betrieben werden. Zweimal pro Tag. Das bedeutete Schichtbetrieb.

Gezeitenkraftwerke weder neu für Deutschland noch für die Stromversorgung

Im Süden Portugals waren einst mindestens 25 weitere Anlagen in Betrieb. Doch auch im heutigen Spanien, in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Großbritannien und Irland gab es derartige Gezeitenmühlen. In Deutschland gab es dagegen nur eine einzige: Die „Sierkesche Mühle“ im niedersächsischen Horneburg. Sie nutzte die Kraft der Flut, welche von der Unterelbe durch die Lühe bis in die Alte Aue hineindrückt.

Das Grundprinzip der modernen Anlagen unterscheidet sich zunächst gar nicht grundlegend von den mittelalterlichen Vorgängern: Mithilfe eines Dammes wird an geeigneter Stelle in einer Bucht ein Becken abgetrennt. Auch hier befinden sich im Damm Kanäle mit darin installierten Turbinen. Im Gegensatz zu den historischen Gezeitenmühlen könnte elektrische Energie sowohl aus dem bei Flut einfließenden Wasser als auch aus dem bei Ebbe ausfließenden Wasser erzeugt werden. Auch diese Technik ist bereits über 50 Jahre alt.

In Saint Malo in der Bretagne wurde 1966 das Gezeitenkraftwerk „La Rance“ in Betrieb genommen. Das Staubecken mit einer Oberfläche von 22 Quadratkilometern kann etwa 180 Millionen Kubikmeter Wasser fassen. Die 24 Turbinen im Damm haben eine Spitzenleistung von zusammen 240 Megawatt und liefern jährlich rund 600 Gigawattstunden an elektrischer Energie – etwa ein Tausendstel des deutschen Strombedarfs. Damit war es lange Zeit das größte Gezeitenkraftwerk der Welt.

Zu wenig geeignete Standorte

2011 löste Südkorea mit dem Bau des Gezeitenkraftwerk „Sihwa-ho“ den bisherigen Rekordhalter ab. Die 254-MW-Anlage liegt 40 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Seoul in der Asan-Bucht, wo ein Tidenhub von bis zu 8 m herrscht. Eigentlich war die Anlage zur Gewinnung von Land und zur Schaffung eines Süßwasserreservoirs für die Bewässerung in der Landwirtschaft gebaut worden. Da sich die Wasserqualität jedoch durch eingeleitete Abwässer rapid verschlechterte, wurde die Anlage umfunktioniert. Aufgrund dieser unvorhergesehenen Planänderungen kann die Anlage nur in eine Richtung, nämlich bei auflaufender Flut, Energie erzeugen.

Alle anderen weltweit in Betrieb befindlichen Gezeitenkraftwerke sind deutlich kleiner, mit einstelligen Megawatt-Kapazitäten. Lediglich eine Anlage im kanadischen Annapolis erreicht noch 20 Megawatt. Die weltweit installierte Gezeiten-Spitzenleistung beträgt etwa ein halbes Gigawatt. Das entspricht ungefähr einem halben Kohle- oder Kernkraftwerk.

Wenn ein Mindesttidenhub von 5 m ansetzt wird, kommen so lediglich etwa 100 Buchten als möglicher Standort in Betracht. Weltweit. Lediglich für die Hälfte ist ein wirtschaftlicher Betrieb vorstellbar. Da Ebbe und Flut alle 12 Stunden auftreten, kann die Leistung auch nicht gleichmäßig abgegeben werden. Verstärkt wird das Problem der schwankenden Energiegewinnung zudem durch hohe Springtiden und schwache Nipptiden.

Bislang kein Großprojekt umgesetzt

Das größte Problem der klassischen Gezeitenkraftwerke sind jedoch die langen Staumauern. Sie trennen die dahinterliegenden Staubecken vom offenen Ozean ab. Dies bringt zahlreiche ökologische Probleme mit sich. So kann sich der Salzgehalt des Wassers hinter der Barriere reduzieren. Der Abtransport von Sedimenten zum offenen Meer wird behindert, sodass es zur lokalen Verlandung kommen kann. Die Wanderung großer Meerestiere zwischen dem Speichersee und dem Meer wird behindert, da sie nicht durch die Turbinenöffnungen passen. Zudem können Geräusche der Anlage die Meeresfauna stören. Viele geplante Megaprojekte mit riesigen Staudämmen sind daher bereits an der Umweltunverträglichkeit gescheitert.

Derzeit am erfolgversprechendsten ist wohl ein russisches Staudammprojekt im Penschinabusen an der Nordwestküste Kamtschatkas. Sie ist Teil des Ochotskischen Meeres und besitzt mit bis zu 13 m den höchsten Tidenhub des gesamten Pazifiks. Zum Bau eines neuen Gezeitenkraftwerkes liegen zwei Vorschläge in der Schublade. Die größere der beiden Varianten bezieht die gesamte Bucht in die Planung ein und peilt eine Leistung von 87 Gigawatt an (entspricht 200 Terawattstunden im Jahr). Zum Vergleich: Dies ist etwa ein Drittel des aktuellen jährlichen Strombedarfs in Deutschland.

Allerdings gibt es in dieser abgelegenen Region derzeit nicht genügend Abnehmer für derart große Strommengen. Falls das Projekt realisiert werden sollte, könnten sich hier energieintensive Industrien ansiedeln, wie zum Beispiel Aluminiumhütten. Außerdem könnte grüner Wasserstoff produziert werden. Per Schiff würde der dann zu Abnehmern im bevölkerungsreicheren Zentral- und Südasien gelangen.

Andere zunächst erfolgversprechende Projekte wie etwa in Kanada oder Großbritannien wurden kurz nach der Planung gestoppt. Diese wurden wegen der hohen Investitionen und starken ökologischen Bedenken nicht realisiert. So befürchtete man die Störung intensiv von der Fischerei genutzter Gebiete oder die Überflutungen nahegelegener Städte. Stattdessen wird nun an dammlosen Varianten zur Nutzung der Strömungsenergie geforscht.

Gezeitenkraftwerke noch günstiger und umweltfreundlicher?

Diese Variante ist nicht nur ökologisch sanfter, sondern auch billiger. Kraftwerkentwickler arbeiten jetzt an „Unterwasser-Windkraft-Farmen“ beziehungsweise „In-Flow-Gezeitenkraftwerken“. Dabei stehen die Turbinen an einem Mast befestigt frei in der Gezeitenströmung. Mit einer Rotordrehzahl von langsamen 21 Umdrehungen pro Minute haben diese Anlagen eine geringere ökologische Auswirkung, da Meerestiere laut Herstellerangaben unbeschadet durch die Turbine schwimmen können.

Große Turbinen mit 16 Meter Durchmesser haben eine Leistung von etwa einem Megawatt. Zum Vergleich: Neu installierte Windkraftanlagen an Land mit mehr als 100 Meter Durchmesser liefern bis fünf Megawatt. Die größten bisher entwickelten Offshore-Anlagen erreichen bei nochmals verdoppelter Anlagengröße bis zu 15 MW.

Das Problem der In-Flow-Gezeitenkraftwerke sind derzeit noch die hohen Kosten. Der mit ihnen produzierte Strom ist momentan noch doppelt so teuer wie Windenergie. Doch auch hier könnten die Kosten noch deutlich fallen. So können die Turbinen direkt auf dem Meeresboden aufgestellt werden anstatt auf Pfeilern, was Kosten spart. Alternativ wäre auch eine Befestigung der Turbinen unter schwimmenden Plattformen oder Booten möglich. Weitere Einsparungen könnte später die Serienproduktion bringen.

Die Anwendung der untermeerischen Turbinenfarmen ist aber nicht auf Gezeitenströmungen beschränkt. Die Technik wäre auch problemlos in gezeitenunabhängigen Meeresströmungen wie etwa dem Golfstrom oder für Flussströmungen einsetzbar. Umfangreiche ökologische Untersuchungen dieser Kraftwerksart werden notwendig sein, um ihre Umweltauswirkungen besser zu verstehen – und die sind nicht (nur) negativ.

Einer gewinnt, einer verliert

Eine derartige Studie wurde kürzlich von Forschern der Queen’s University Belfast durchgeführt. Mithilfe von Drohnen untersuchten die Wissenschaftler ein Meeresströmungskraftwerk in Nordirland. Wenn die Gezeiten um die Turbinentürme strömen, bilden sich hier kräftige Wasserstrudel. Diese erleichtern Seeschwalben den Fischfang, da die starke Wasserbewegung die Orientierung von Beutetieren stört. Sie treibt die Tiere näher an die Wasseroberfläche und macht den Seeschwalben die Beute so an diesen Stellen zugänglicher. Positiv für die Seeschwalben, jedoch nicht für die Beutefische.

Mit Material der 79. Klimaschau und freundlicher Genehmigung von Dr. Sebastian Lüning.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 25, vom 30. Dezember 2021.



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