Schweiz reicht Migranten einfach nach Deutschland weiter

Vereinbarungen zwischen EU-Mitgliedstaaten werden nicht erst seit gestern gebrochen. Und nicht selten ist Deutschland hier im Nachteil. Aber insbesondere was die ungerechte Verteilung oder punktuelle Abweisung von Asylbewerbern angeht, trifft Berlin eine Mitschuld. Eine Analyse.
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Wegweiser zur Grenze Schweiz / Deutschland.Foto: Stadtratte/iStock
Von 30. Dezember 2022


Der Unterschied zwischen Schengen-Abkommen und Dublin-Verordnung ist schnell erzählt: Ersteres regelt einen weitestgehend kontrollfreien Grenzverkehr zwischen den EU-Ländern und weiteren teilnehmenden Staaten und die Dublin-Verordnung (mittlerweile Dublin III) sieht vor, dass in den teilnehmenden Ländern ankommende Asylbewerber ausschließlich dort das Asylverfahren durchlaufen müssen.

In der Praxis sieht das freilich ganz anders aus, wie die Schweiz jetzt – übrigens nicht als erstes teilnehmendes Land – bewiesen hat: Dort ankommende Asylbewerber werden umstandslos in Züge Richtung Deutschland gesetzt und faktisch durchgewunken, als wären sie nie in der Schweiz gewesen.

Wer hier noch einen kommenden Familiennachzug einrechnet, kann sich ausmalen, welche Kosten und auch Probleme der Schweiz hier mit jedem weitergeleiteten Asylbewerber erspart bleiben.

Der Konstanzer „Südkurier“ titelte schon Ende Oktober: „Kritik aus Deutschland: Schweizer winken Migranten einfach durch.“ Und die „Neue Zürcher Zeitung“ will herausgefunden haben, dass es sich hier um solche Migranten handelt, die von Österreich in die Schweiz reisen, um nach Deutschland zu gelangen.

Demnach muss auch Österreich bereits durchgewunken haben, ohne mindestens Fingerabdrücke für die Eurodac-Datei zu nehmen, denn Papiere können ja einfach weggeschmissen werden.

Interessant ist in dem Zusammenhang der Blick sieben Jahre zurück, als die Schweiz ihre Dublin-Verpflichtung noch sehr ernst nahm. Und die Schweiz hat es bis heute nicht vergessen: Damals gab es aus Deutschland – beispielsweise von den Öffentlich-Rechtlichen – deutliche Rügen Richtung Eidgenossen, der „Bayerische Rundfunk“ (BR) untertitelte: „Die Schweiz kennt keine Gnade“.

Redakteur Daniel Hechler klagte damals für den BR stellvertretend empört:

„Der Flüchtlingsstrom zieht an den Eidgenossen bislang weitgehend vorbei. Dennoch schicken die Behörden Asylbewerber – anders als in Deutschland – konsequent zurück, wenn sie woanders zuerst registriert wurden.“

Hechler schreibt 2015 weiter, mehrere Asylbewerber hätten aus der Schweiz nach Ungarn zurückkehren müssen und deshalb versucht, sich das Leben zu nehmen.

Deutsche Medien und Politik machten Stimmung gegen Einhaltung der Dublin-Regel

Ungarn stand hier aus dem polit-medialen Blickwinkel der Deutschen aus betrachtet kurz davor, zu einem nicht sicheren Herkunftsland erklärt zu werden, einfach, weil die Schweiz darauf bestand, das Dublin-Abkommen einzuhalten.

Und wie schnell das tatsächlich passieren kann, zeigt das Beispiel Griechenland. Faktisch gilt Griechenland bezogen auf das Dublin-Verfahren heute als nicht sicheres Herkunftsland. Asylbewerber, die bereits in Griechenland registriert wurden, werden dennoch seit Anfang 2021 und entgegen dem Dublin-Abkommen zum Asylverfahren in Deutschland zugelassen.

Dem vorausgegangen war, dass die griechische Regierung die Eurodac-Fingerabdruckkartei nicht ordnungsgemäß führte und Daten zudem verschleiert haben soll. Aber selbst wenn Daten ordnungsgemäß geführt wurden, torpedierten deutsche Gerichte die ordnungsgemäße Durchführung der Dublin-Regelungen, indem Rückführungen von Ausländern aus der sogenannten Sekundärmigration postwendend von Nichtregierungsorganisationen (NGO) mit Prozessen belegt wurden.

Aber anstatt die griechische Verweigerung mit einer wirkmächtigen Rüge aus Brüssel beantworten zu lassen, entschied sich Deutschland unter Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu, Griechenland nicht mehr als sicheres Herkunftsland zu begreifen – initial dafür war ein Gerichtsurteil aus Münster.

So hieß es in einer Presseerklärung vom 26. Januar 2021 des OVG Münster (Aktenzeichen: 11 A 1564/20.A (I. Instanz: VG Arnsberg 12 K 3440/18.A) und 11 A 2982/20.A (I. Instanz: VG Düsseldorf 29 K 2705/18.A):

„Asylanträge von in Griechenland anerkannten Schutzberechtigten dürfen grundsätzlich nicht als unzulässig abgelehnt werden, weil zumindest derzeit – vorbehaltlich be­sonderer Umstände des Einzelfalls – generell die ernsthafte Gefahr besteht, dass sie im Falle ihrer Rückkehr dorthin ihre elementarsten Bedürfnisse (“Bett, Brot, Seife“) für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können. Das hat das Oberverwaltungsgericht durch Urteile vom 21. Januar 2021 entschieden und die vorausgehenden Ur­teile der Verwaltungsgerichte Arnsberg und Düsseldorf geändert.“

2022 scheinen sich die EU-Länder daran gewöhnt zu haben, dass Deutschland nicht auf die Einhaltung der Dublin-Verordnung besteht. Jedenfalls erweckte die CDU-Justizministerin Marion Gentges unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann noch Anfang 2022 diesen Eindruck, als sie sich über die Nichteinhaltung der Dublin-Regelungen empörte. Der „Merkur“ kommentierte damals, dass diese sogenannte Sekundärmigration nach Deutschland im EU-Asylrecht nicht vorgesehen ist. Die Menschen können in der Regel aber auch nicht einfach zurückgeschickt werden. „Diese Menschen haben keine Aussicht auf einen Schutzstatus, weil ihnen ein solcher bereits in einem anderen Staat der Europäischen Union zuerkannt wurde“, sagte Gentges. Das Problem: „Wir müssen Menschen unterbringen und versorgen, die keine Bleibeperspektive haben. Denn die Flüchtlinge könnten auch im Moment nicht zurückgeschickt werden.“

Die Schweiz sieht, was in Deutschland passiert und reagiert auf ihre Art

Die Schweiz umgeht diese Probleme jetzt, indem sie auf eine Registrierung der illegalen Migranten gleich vollkommen verzichtet. Da reisen also Menschen illegal durch die Schweiz, von denen die Schweizer annehmen dürfen oder sich erhoffen, dass diese sowieso nach Deutschland weiterziehen werden.

Oder wie es wieder der Konstanzer „Südkurier“ formulierte:

„Das Schweizer Staatssekretariat für Migration sieht demnach aber keine Rechtsgrundlage, um die Menschen festzuhalten. Und bevor ein Dublin-Verfahren durch sei, das feststellen soll, welches Land für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig sei, seien die Menschen längst weitergereist.“

„Für Personen, die nicht mehr anwesend sind, kann kein Dublin-Verfahren durchgeführt werden“, sagte der Sprecher des Staatssekretariats für Migration gegenüber der Zeitung.

Nun sagt die Dublin-Verordnung, dass ein Asylverfahren in jenem teilnehmenden Land geführt werden muss, indem der illegale Zuwanderer nachweislich zuerst einreiste. Die Schweiz verzichtet also für den Zeitraum, den der Migrant benötigt, das Land Richtung Deutschland zu durchqueren, auf eine Registrierung. Und die Schweizer Behörden stellen diesen Menschen Sonderzüge Richtung deutsche Grenze zur Verfügung, wie ebenfalls der „Südkurier“ berichtete.

  • Aber auch das ist keine Zäsur im eigentlichen Sinne. Spanien und Frankreich haben diese Vorgehensweise ebenfalls schon vor Jahren gegenüber Deutschland angewandt. Bereitgestellte Busse brachten Migranten aus Marokko von der Südspitze Spaniens bis zur spanisch-französischen Grenze, wo die Franzosen sie nach Deutschland weiterschickten.

Das alles geht nicht ohne ein Einverständnis der Bundesregierung. Deutschland ist größter Nettozahler der EU, aber dieses potenzielle Druckmittel wird nicht genutzt, um auf eine Einhaltung der Vereinbarungen zu pochen. Stattdessen wird, wie schon berichtet, Griechenland faktisch zu so etwas wie einem nicht sicheren Herkunftsland erklärt, weil die Sozialleistungen nicht deutschen Standards entsprechen. Die Schweizer winken durch und die Ampelregierung lässt die Eidgenossen gewähren.



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