Deutschland wird zum Abwanderungsland

Für viele Unternehmen wird der Wirtschaftsstandort Deutschland immer unattraktiver. Sie verlegen daher ihre Forschung oder ihre Werke ins Ausland. Andere gehen ganz. Hinzu kommt, dass Deutschland im Moment am Rande einer Rezession steht.
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Der Wirtschatsstandort Deutschland steckt in einer schweren Krise.Foto: iStock
Von 31. Januar 2023


Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist in einer schweren Krise. Das legt zumindest der jüngst veröffentlichte Länderindex der Stiftung Familienunternehmen nahe. Seit dem Jahr 2006 vergleicht das Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW in Mannheim, im Auftrag der Stiftung, 21 Industriestandorte. Deutschland ist seitdem um sechs Rangplätze abgerutscht und kommt nur noch auf Platz 18. Beim letzten Länderindex aus dem Jahr 2020 stand Deutschland noch auf Platz 14.

Dramatisch an Qualität verloren

Der Absturz um vier Plätze zeigt deutlich auf, dass im Land etwas im Argen liegt. Nachteilig werden vor allem die Entwicklungen in den Bereichen Steuern, Regulierung und Infrastruktur empfunden. Auch das Verhältnis Arbeitskosten und Produktivität zeigt einen Trend nach unten im Vergleich zu den übrigen Wettbewerbern. Deutschlands Standortfaktoren für Familienunternehmen können mit denen an Spitzenstandorten in Nordamerika, Westeuropa und Skandinavien nicht mithalten.

Greift man dann nur den Standortfaktor Steuerlast für Familienunternehmen heraus, dann wird das Ergebnis noch schlechter: Deutschland rangiert hier auf dem vorletzten Platz. Das sei vor allem auf die „über die Jahre anhaltende Passivität der deutschen Steuerpolitik“ zurückzuführen, schreibt der Leiter der Studie, Professor Friedrich Heinemann. Der Absturz sei laut ZEW mit der Erbschaftsteuerreform im Jahr 2016 gekommen. Seitdem wäre keine Erholung mehr eingetreten.

Ein Grund, der in der Studie als eine wichtige Ursache für das schlechte Ranking gesehen wird, sind die Energiepreise. Professor Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmer, bringt es in seinem Pressestatement auf den Punkt:

 

Der Industriestandort Deutschland hat dramatisch an Qualität verloren. Gerade die hohen Energiepreise, an denen wir wenig ändern können, müssten doch Anreiz bieten, die übrigen Rahmenbedingungen für Investitionen zu verbessern. Im internationalen Vergleich auf den hintersten Plätzen – das ist nicht das Feld, in das wir gehören.“

Insgesamt sechs Faktoren werden im Ranking gewichtet: Steuern, Arbeit, Regulierung, Finanzierung, Infrastruktur und Investitionen, Energie. Er kann Punktwerte zwischen 0 und 100 annehmen.

Positiv wurde in der Studie für den Wirtschaftsstandort Deutschland laut ZEW die vergleichsweise geringe Verschuldung des Staates und der privaten Haushalte benannt. Das gebe dem Staat die Möglichkeit, auf Krisen zu reagieren. Allerdings verweisen die Experten auch an dieser Stelle darauf, dass das Land „ausgehend von einer guten Position nun ins Mittelfeld zurückgefallen“ sei.

Dass sich Deutschland in naher Zukunft im Ranking verbessert – hier machen die Experten wenig Hoffnung. Die Länder auf den Plätzen 14 bis 19 mit ihren Punktwerten lägen sehr nah beieinander. Aber, es gibt für Deutschland keinerlei Anzeichen für eine Aufwärtsbewegung.

Bürokratie wird zunehmend innovationshemmend

Nicht nur Familienunternehmen sehen den Standort Deutschland kritisch. Gerade erst verkündete das Mainzer Pharmaunternehmen Biontech in Großbritannien ein Forschungs- und Entwicklungszentrum zur Krebstherapie aufzubauen. Damit wandert ein Teil der Forschung von Deutschland weg. Auch wenn das nicht die völlige Abwanderung des Unternehmens bedeutet, muss die Mitteilung trotzdem die Alarmglocken schrillen lassen. „Diese Vereinbarung ist ein Ergebnis der Lehren aus der COVID-19-Pandemie. Wir haben gesehen, dass die Entwicklung von Arzneimitteln beschleunigt werden kann – ohne dabei Abkürzungen zu nehmen –, wenn alle nahtlos zusammen auf das gleiche Ziel hinarbeiten“, begründet Biontech-Geschäftsführer Ugur Sahin den Schritt nach Großbritannien.

Das kann als indirekte Kritik an der Bürokratie verstanden werden, die zunehmend als innovationshemmend empfunden wird. Im vergangenen Jahr hatte das Institut für Demoskopie Allensbach im Auftrag des Gemeinschaftsausschusses der Deutschen Gewerblichen Wirtschaft eine Umfrage unter Unternehmen in Deutschland durchgeführt. Das Ergebnis: Eine Mehrheit von 62 Prozent bewerten die Verwaltung entweder als weniger leistungsfähig (46 Prozent), kaum leistungsfähig oder gar nicht leistungsfähig. So wurde vor allem die lange Dauer von Planungs- und Genehmigungsverfahren kritisiert.

Biontech hat mit der Investition in ein Forschungs- und Entwicklungszentrum in Cambridge nun ein Signal gesetzt. Ziel soll es sein, bis zum Jahr 2030 bis zu 10.000 Patientinnen und Patienten mit personalisierten mRNA-Krebsimmuntherapien zu behandeln. Im Rahmen klinischer Studien sei ein frühzeitiger Zugang zu solchen bisher nicht zugelassenen Therapien möglich.

Auf der kommerziellen Seite machen sie uns das Leben schwer

Biontech ist nicht das erste Unternehmen, das auf Standorte außerhalb Deutschlands setzt. Laut dem Fernsehsender „ntv“ möchte auch der Medizinkonzern aus Leverkusen sein Pharmageschäft nach China und die USA verlagern. In einem Interview mit der „Financial Times“ bezeichnete Bayer-Pharmachef Stefan Oelrich Europa als zu „innovationsunfreundlich“. „Die europäischen Regierungen versuchen, Anreize für Forschungsinvestitionen zu schaffen, aber auf der kommerziellen Seite machen sie uns das Leben schwer. Wenn man keine Umsätze hat, kann man auf der Kostenseite so viel profitieren, wie man will, aber das ist keine gute Gleichung“, so Oelrich.

China stehe Innovationen zunehmend positiv gegenüber, während höhere Medikamentenpreise in den USA es Bayer ermöglichten, die durch die hohe Inflation verursachte Kostenexplosion auszugleichen.

Jahr der Entscheidung

Nach China zog es auch den Chemie-Riesen BASF. Im südchinesischen Zhanjiang eröffnete der Konzern im September 2022 ein neues Werk. Grund seien die in China deutlich niedrigeren Energiepreise.

Deutschland könnte sich immer mehr zu einem Abwanderungsland für die Wirtschaft entwickeln. Der einflussreiche Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) machte auf seiner Pressekonferenz zum Jahresauftakt am 17. Januar 2023 deutlich, dass es dringenden Handlungsbedarf gibt. „Das Jahr 2023 muss zum Jahr der Entscheidung werden – für die Zukunft des Industrielands, Exportlands, Innovationslands Deutschland“, forderte BDI-Präsident, Siegfried Russwurm.

Mit den weiterhin sehr hohen Energiepreisen gerate Deutschland immer mehr ins Hintertreffen gegenüber anderen Regionen der Welt. So koste in den USA lokal gefördertes Gas gegenwärtig gerade einmal ein Fünftel so viel wie in Deutschland. „Der Kostenfaktor Energie schwächt längst nicht nur energieintensive Unternehmen, sondern hat spürbare Auswirkungen auf die gesamten Wertschöpfungsketten der Industrie. Folglich sind Produktionsverlagerungen auch in anderen Branchen nicht auszuschließen“, prognostiziert der BDI-Präsident.

Nach Ansicht Russwurms ist die Politik gefordert, nun schnell zu reagieren und die Rahmenbedingungen zu verbessern. Dafür müsse die Ampel-Koalition schleunigst vom Krisenmodus in den Gestaltungsmodus wechseln.

Für dieses Jahr rechnet der Verband mit einem Rückgang des Bruttoinlandproduktes (BIP) in Deutschland. „Wir erwarten ein kleines Minus von 0,3 Prozent“, sagte der BDI-Präsident.

Deutschland am Rand der Rezession

Am vergangenen Montag bestätigte das Statistische Bundesamt (Destatis) den Schrumpfkurs der deutschen Wirtschaft. Von Oktober bis Dezember 2022 ist demnach das BIP im Vergleich zum Vorquartal um 0,2 Prozent zurückgegangen. „Besonders die preis-, saison- und kalenderbereinigten privaten Konsumausgaben, die die deutsche Wirtschaft im bisherigen Jahresverlauf gestützt hatten, waren niedriger als im Vorquartal“, erklärten die Statistiker. Damit steht Deutschland kurz vor einer, zumindest technischen, Rezession. Von dieser spricht man, wenn die Wirtschaft zwei Quartale in Folge schrumpfen würde.

Experten rechnen genau mit diesem Rückgang in der ersten Jahreshälfte. Die immer noch enorme Teuerung belastet die Nachfrage der Verbraucher. Laut der internationalen Nachrichtensendergruppe „Bloomberg“ schlägt sich das auf den Jahresanfang nieder. „Wir erwarten für Anfang 2023 einen leichten Rückgang des realen BIP, der vor allem den geringeren Konsum widerspiegelt“, sagt Salomon Fiedler, Ökonom bei Berenberg. Trotzdem sieht der Ökonom Hoffnung am Horizont. „Nach der milden Winterrezession dürfte sich die Wirtschaft im Frühjahr stabilisieren und ab Mitte 2023 wieder deutlich wachsen.“

Die Bundesregierung prognostizierte vergangene Woche für das Gesamtjahr 2023 0,2 Prozent Wirtschaftswachstum — eine deutliche Verbesserung gegenüber der vorangegangenen Prognose einer Schrumpfung um 0,4 Prozent.

„Dringend drei Gänge nach oben schalten“

Wirklich gute Aussichten sind es für den Wirtschaftsstandort trotzdem nicht. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), versuchte in der vergangenen Woche, bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts 2023 Zuversicht zu verbreiten. Die Bundesregierung erwartet in diesem Jahr eine Zunahme des BIP um 0,2 Prozent. „Wir haben eine Krise beherrschbar gemacht. Die schlimmsten Szenarien konnten wir vermeiden“, so Habeck. Im vergangenen Jahr sei eine neue Dynamik entfacht worden. Deutschland könne schnell sein und viel leisten.

Dem widersprach umgehend der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Martin Wansleben. Die Unsicherheit der Unternehmen bleibe dennoch weiter hoch; oftmals seien die Aussichten nach wie vor eher trübe: „Hohe Energiepreise, Rekordinflation und ein weltweit merklich abgebremstes Wachstum begleiten unsere Unternehmen durch das Gesamtjahr“, so Wansleben. Bei Investitionen müsse das Land daher dringend drei Gänge nach oben schalten.



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