Ist die Ernährungssicherheit in Deutschland in Gefahr?

Während die Kurse für Getreide steigen, will die EU Ackerflächen in Deutschland stilllegen. Die Kritik wächst.
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Weizen ist das Grundnahrungsmittel für mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung und macht fast 20 Prozent der Kalorien und Proteine aus, die Menschen weltweit verbrauchen.Foto: iStock
Von 9. März 2022

Seit Anfang März kennen die Kurse für Weizen an der wichtigen Handelsbörse MATIF in Paris nur eine Richtung: nach oben. Weizen stieg von 300 auf über 410 Euro pro Tonne, Mais von rund 270 auf 350 Euro/t, Raps von 750 auf 850 Euro/t. Tendenz meist steigend.

Angesichts der Zahlen und der nahenden Umsetzung des Green Deals der EU werden warnende Stimmen laut. Insbesondere die Vorgabe der EU-Agrarreform, ab dem Jahr 2023 vier Prozent der Ackerflächen stillzulegen, ruft Bedenken hervor.

Özdemir: „Die Versorgung innerhalb der EU ist nicht gefährdet“

Landwirtschaftsminister Cem Özdemir sieht die Ernährung innerhalb der EU nicht in Gefahr. Die Auswirkungen auf die Agrarmärkte behält das Ministerium genau im Blick. Er warnt: „Wer aber in dieser Situation fordert, erste Schritte der Europäischen Agrarpolitik hin zur Förderung einer klima- und umweltschonenden Landwirtschaft zurückzudrehen, dem will ich ganz deutlich machen, dass er hier auf dem Holzweg ist. Um das Recht auf Nahrung nachhaltig weltweit zu sichern, müssen wir die ökologischen Krisen entschieden bekämpfen.“

Die jetzige Situation sollte niemand für agrarpolitische Eigeninteressen „missbrauchen“, so der Minister. Deutschland habe bei Weizen einen Selbstversorgungsgrad von fast 120 Prozent, davon ging die Hälfte ins Tierfutter. „Wenn wir jetzt vom Recht auf Nahrung sprechen, dann sollten wir nicht die Axt an Klima- und Naturschutz legen, sondern gemeinsam dafür sorgen, dass die Agrarproduktion nicht mehr vorrangig im Futtertrog landet, sondern Menschen direkt versorgt“, sagt er im Interview mit „Top Agrar“.

Was bedeutet die Zahl von 120 Prozent? Der Selbstversorgungsgrad ist jeweils auf ein Jahr bezogen, erklärt Agraringenieur Dr. Kremer Schillings. Dieser Wert kann in einem Superjahr erreicht werden, in einem Jahr mit schlechter Ernte (wegen Trockenheit, Nässe oder Kälte) kann der Wert schnell unter 100 Prozent fallen.

120 Prozent bedeutet auch, dass man Weizen beispielsweise nach Ägypten verkaufen kann. Im Nildelta bauen  Landwirte auf den wenigen bewässerten Flächen gern teure Frühkartoffeln an, die zu 3 Euro das Kilo im März auch in deutschen Supermärkten verkauft werden. Dafür führt die ägyptische Regierung Weizen ein, den die Menschen für Brot oder Fladenbrot benötigen. Wird der Weizen teuer, kann der ägyptische Staat dies vermutlich nicht länger leisten. Fährt Europa 2022 eine schlechte Ernte ein, kann auch nichts exportiert werden und die Lage verschärft sich nochmals.

Barbara Otte-Kinast, Agrarministerin in Niedersachsen, kann die „defensive Haltung“ von Bundesminister Özdemir nicht nachvollziehen. „Es darf auch im Agrarsektor keine Denktabus geben. […] Er muss sich zwingend enger mit den Verantwortlichen in den Ländern abstimmen und aktives Krisenmanagement betreiben – gerade im Bereich der Agrarpolitik.“

Wenn woanders der Weizen knapp und für viele Menschen unbezahlbar wird, sei es kaum zu vermitteln, dass hier vier Prozent der Ackerfläche verpflichtend stillgelegt würden. „Diese Vorgabe aus Brüssel muss unbedingt vorübergehend ausgesetzt werden.“

Staatsziel „Ernährungssicherheit“

Sven Schulze, Landwirtschaftsminister von Sachsen-Anhalt, forderte die Bundesregierung auf, in puncto Ernährungssicherheit einen „klaren Plan“ vorzulegen. Die oberste Priorität sollte in der aktuellen Situation die Erzeugung der Nahrungsmittel haben, ebenso die Stabilisierung der Landwirtschaft.

„Ökologische Aspekte sind wichtig, müssen aber für die nötige Zeit in den Hintergrund treten“, konstatiert Schulze (CDU), der auch Vorsitzender der Agrarministerkonferenz ist. Er fordert, dass alle Strategien der EU von der Bundesregierung geprüft und Vorgaben zu Obergrenzen in der Lebensmittelherstellung zurückgenommen werden.

Flächen, die laut der Reform der Gemeinsamen EU-Agrarpolitik (GAP) ab 2023 stillgelegt werden sollten, müssten zur Futtererzeugung freigegeben werden. In Sachsen-Anhalt betrifft das rund 2,3 Prozent der Ackerfläche, ab 2023 mindestens 4 Prozent. Das seien rund 22.280 beziehungsweise rund 39.000 Hektar, die der Landwirtschaft fehlen.

Es wird davon ausgegangen, dass der Green Deal der EU zu einem Ernterückgang von 10 bis 20 Prozent führen würde. Obwohl der ökologische Landbau in der Regel weniger Treibhausgasemissionen je erzeugtes Produkt verursacht, produziert er deutlich weniger Nahrungsmittel per Flächeneinheit.

Landwirte von „Landwirtschaft verbindet Deutschland e.V.“ fordern, dass die Ernährungssicherheit durch regionale Erzeugung und Verarbeitung in den Rang eines Staatsziels erhoben wird. Es sei dringend notwendig, die Situation auf dem Agrarmarkt neu zu bewerten.

„Können wir es uns noch leisten, Flächen stillzulegen?“

Ähnlich der Deutsche Bauernverband: „Nicht nur Außen- und Sicherheitspolitik, sondern auch unsere Liefer- und Logistikketten müssen neu gedacht werden“, sagte Verbandspräsident Joachim Rukwied. „Versorgungssicherheit für Energie, Rohstoffe und Nahrungsmittel muss dabei im Mittelpunkt stehen.“

Die Frage „Können wir es uns noch leisten, Flächen stillzulegen?“ sollte beantwortet werden, fordert Udo Hemmerling, Vize-Generalsekretär des Bauernverbandes. „Szenarien wie den derzeitigen Krieg“ seien im Green Deal und der „Farm to York“-Strategie offenbar nicht berücksichtigt worden. Nun müssten die Beschlüsse auf den Prüfstand.

Zwar gibt es eine hohe Eigenversorgung bei Getreide, diese kann allerdings nur aufrechterhalten werden, wenn die Bauern im Frühjahr ausreichend Düngemittel zur Verfügung haben. Die Herstellung von Düngemitteln kollidierte allerdings mit den hohen Energiepreisen, was die Erzeugung unwirtschaftlich machte. Russland, einer der führenden globalen Hersteller des Dünger-Rohstoffs Ammoniumnitrat, stoppte den Export im Februar komplett. Für die diesjährige Saison sind die Landwirte daher eher schlecht mit Dünger ausgerüstet.

Michaela Kaniber (CSU), bayerische Agrarministerin, warnt, bei der Versorgung mit Lebensmitteln „nicht in ähnliche Abhängigkeiten wie auf dem Energiesektor“ zu kommen. Europa brauche Ernährungssouveränität. Ein Problem sei, dass die landwirtschaftlichen Produktionsflächen immer kleiner würden – durch Wohnungsbau, Infrastrukturprojekte, Photovoltaik- und Windkraftanlagen oder Ausgleichsflächen. Wer weniger Dünger einsetzt und Pflanzenschutzmittel reduziert, verringere damit auch die Ernten.

Am 11. März treffen sich Agrarminister und Verantwortliche, um die Lage zu beraten.



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