Trotz Zinssteigerungen: Die „finanzielle Repression“ geht weiter

Die Realzinsen in den USA und im Euroraum sind negativ, und es ist zu befürchten, dass sie noch viele Jahre unter der Nulllinie verharren. Das Inflationsproblem ist nicht zu übersehen. Wer profitiert davon?
EZB: Anleihenblase geplatzt, Zentralbanken in der Sackgasse
Die EZB in Frankfurt am Main.Foto: iStock
Von 3. Juni 2022

Spätestens seit Mitte 2021 zeigte sich eine dunkle Seite der Anti-Zins-Geldpolitik: Die Güterpreisinflation ist geradezu explodiert, mittlerweile strebt die Inflation der Konsumgüterpreise in vielen Volkswirtschaften auf die 10-Prozent-Marke zu oder hat sie bereits überstiegen.

Das Inflationsproblem, das die Zentralbanken (mit-)verursacht haben, lässt sich mittlerweile nicht mehr übersehen oder kleinreden. Die öffentliche Missbilligung der Geldentwertung, der wachsende Zweifel in die Werthaltigkeit der offiziellen Währungen zwingen die Geldpolitiker, etwas zu tun. 

Die US-Zentralbank hat bereits die Zinsen etwas angehoben. Im Mai wird eine Zinsanhebung um 50 Basispunkte erwartet, sodass der US-Leitzins dann bei 0,50 bis 0,75 Prozentpunkte liegen wird. Weitere Zinserhöhungen sind in Aussicht gestellt. Sogar in der Europäischen Zentralbank bewegt sich mittlerweile etwas: Äußerungen von Zentralbankräten lassen einen ersten Zinsschritt zu Beginn des dritten Quartals erwarten. Die Kapitalmärkte haben auf die Ankündigungen bereits reagiert.

Ist damit die „Zinswende“ eingeläutet? Was spricht dafür, was spricht dagegen?

Was Zinssenkungen bewirken

Im heute überall vorherrschenden Fiat-Geldsystem bildet sich der Zins nicht frei durch Angebot und Nachfrage. Vielmehr muss man von einer „gehemmten“ Zinsbildung sprechen.

Das Fiat-Geld wird (vorzugsweise) erzeugt, indem die Zentralbanken, in enger Kooperation mit den Geschäftsbanken, die Kreditvergabe ausweiten, ohne dass dafür eine entsprechende Ersparnis (Konsumverzicht) vorhanden wäre. Es handelt sich um „Geldschaffen aus dem Nichts“. 

Das künstliche Kreditangebot senkt den Marktzins ab – und zwar unter das Niveau, das sich einstellen würde, wenn es kein künstliches Kreditangebot gäbe. Das wiederum sorgt für einen Konjunkturanschub. Die Ersparnis geht zurück, Konsum und Investitionen legen zu.

Dabei verändert sich die volkswirtschaftliche Produktions- und Beschäftigungsstruktur: Knappe Ressourcen werden zusehends in langfristige, zeitintensive Projekte, weniger in die konsumgüternahe Produktion investiert. Erfolg der Investitionen und Fortbestand des Konjunkturaufschwungs („Boom“) hängen nun davon ab, dass der Zins niedrig bleibt beziehungsweise, dass er auf noch niedrigere Niveaus fällt.

Solange der Boom voranschreitet, scheint alles gut und richtig zu funktionieren: Den Firmen scheint alles zu gelingen, sie machen Gewinne; die Kreditaufnahme ist ohne große Probleme jederzeit möglich; die Arbeitnehmer können auf höhere Löhne und ein erhöhtes Arbeitsplatzangebot hoffen; die Steuereinnahmen sprudeln; die Kurse auf den Aktienmärkten erklimmen neue Höchststände.

Allerdings steigen dabei auch die Schulden weiter an, absolut und im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung. So werden vielfach Konsumausgaben „auf Pump“ finanziert. Insbesondere der Staat verschuldet sich in der Regel sehr kräftig, um seine Ausgaben zu finanzieren, die in der Regel nur einen geringen oder gar keinen Beitrag zum Produktivitätszuwachs der Volkswirtschaft leisten.

Was Zinssteigerungen bewirken

Was passiert, wenn die Zentralbank die Zinsen anhebt? Bei steigenden Zinsen verringern die Menschen ihren Konsum und sparen mehr aus ihrem laufenden Einkommen. Die Unternehmen bemerken, dass die Gewinne geringer als erhofft ausfallen, neue Investitionen sich wider Erwarten doch nicht rechnen, dass sie „floppen“. 

Projekte werden gestoppt, liquidiert, und Arbeitsplätze, die im Boom geschaffen wurden, werden wieder abgebaut. Mit anderen Worten: Der Boom kippt in einen Bust um. Eine Umwidmung und Neubewertung der Produktionsfaktoren – Werkzeuge, Maschinen, Arbeit etc. – wird daraufhin erforderlich. „Bauruinen“ sprießen. Menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten werden nicht mehr im bisherigen Umfang gebraucht, Arbeitnehmer müssen sich umorientieren und umlernen.

Weil all das Zeit braucht, läuft die Neuausrichtung der Volkswirtschaft, die ein Bust erzwingt, üblicherweise nicht ohne eine Rezession und Arbeitslosigkeit ab.

Zahlungsverzögerungen und -ausfälle kommen bei den Banken an. Sie müssen Rückstellungen beziehungsweise Wertberichtigungen vornehmen, werden vorsichtiger und zurückhaltender bei der Kreditvergabe. Der Zustrom von neuen Krediten und neuem Geld in die Volkswirtschaft ebbt ab.

Das wiederum setzt die Vermögenspreise unter Druck: Aktien- und Anleihekurse, aber vor allem auch Immobilien- und Grundstückspreise geben nach. Die Werte für die Sicherheiten, die der Kreditvergabe der Banken zugrunde liegen, schwinden dahin. Womöglich steht der Bankrott der Schuldner ins Haus. 

Das bisherige Inflationsregime schlägt so plötzlich in ein Deflationsregime um, in dem die Güterpreise auf breiter Front nachgeben. Eine solche Entwicklung bringt – wenn es keine „Gegenkräfte“ gibt – das Fiat-Geldsystem zu Fall.

Chronisch negative Realzinsen

Im letzten Jahrzehnt sind die Realzinsen (also die Nominalzinsen abzüglich der Inflation) negativ gewesen. Das heißt, nicht nur (zinsloses) Bargeld, sondern auch Sicht-, Termin- und Sparguthaben bei Banken sowie kurzlaufende Schuldpapiere (hoher Kreditqualität) haben den Anleger ärmer gemacht. Das Sparen wurde zum Verlustgeschäft. 

Dem gegenüber standen die Gewinner: Schuldner wurde es ermöglicht, ihre Verbindlichkeiten mit wertgemindertem Geld zurückzuzahlen. Vor allem die Staaten konnten sich so „gesunden“ auf Kosten ihrer Gläubiger – und das sind in der Regel vor allem ihre Bürger.

Die Kreditschulden der letzten Jahre wurden auf negativen Realzinsen aufgebaut. Fällige Kredite wurden durch neue Kredite ersetzt und neue Kredite aufgenommen, basierend auf negativen Realzinsen. 

Das hat dazu beigetragen, dass der Verschuldungsaufbau insbesondere der Staaten – relativ zur Wirtschaftsleistung der Volkswirtschaft – verlangsamt wurde. (Das liegt an der sogenannten „Schuldendynamik“: Wenn der Zins negativ ist, zu dem sich der Staat verschuldet, sinkt seine Schuldenlast pro Bruttoinlandsprodukt im Zeitablauf, selbst wenn die Wirtschaft ein Nullwachstum hat.)

Verständlich also, dass die Staaten sehr wenig Interesse an einem geldpolitischen Kurswechsel haben, der die Zinskosten erhöht und die Inflation herabdrückt – denn niedrige Zinsen, verbunden mit hoher Inflation, kommt den Staatsfinanzen wie gerufen: Es entschuldet die Staaten fast geräuschlos auf Kosten der Gläubiger und Geldhalter. 

Die Zentralbanken haben den Staaten diese geradezu paradiesischen Bedingungen beschert, vor allem, indem sie bereitwillig deren Schuldpapiere in großen Beträgen aufgekauft haben. Ein „Ausstieg“ aus dieser Praxis ist natürlich nicht ohne Probleme zu haben.

Man sollte nicht der Täuschung unterliegen, die Realzinsen – also die Nominalzinsen abzüglich der Inflation – wären ganz plötzlich und unerwartet negativ. Sie sind es seit vielen Jahren. Spätestens mit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 sorgen die Zentralbanken für chronisch negative Realzinsen.

Die heimliche Entschuldung der Schuldner durch den negativen Realzins wird also schon seit geraumer Zeit praktiziert.

Das Motiv der Zentralbanken

Das führt zur Kernfrage: Was ist das Motiv der Zentralbanken? Ihr Motiv ist sicherlich nicht, die Inflation (der Konsumgüterpreise) bei beziehungsweise unter der 2-Prozentmarke zu halten. Denn dann hätten sie längst schon reagiert und die Zinsen angehoben. 

Es ist vielmehr zu vermuten, dass sie eine höhere Inflation herbeiführen wollen, um das prekäre Verschuldungsproblem der Volkswirtschaften zu entschärfen. Das kann gelingen, wenn die Zinsen niedrig gehalten werden und die Inflation den Zins übersteigt. Dabei stellt sich aber ein Problem: Die Inflation darf nicht zu hoch werden, und sie muss überraschend kommen.

Wenn die Inflation zu hoch wird, dann fliehen die Menschen sprichwörtlich aus dem Geld, und das Geld droht seine Funktion zu verlieren. Das wollen die Regierungen natürlich nicht. 

Sie wollen vielmehr, dass die Inflation weiterhin ihren politischen Umverteilungszweck erfüllt, dass sie für die Geldverwender „akzeptabel“ ist, dass sie von ihnen quasi zähneknirschend hingenommen wird. Vor allem muss die Inflation ein „Überraschungselement“ haben: Sie muss überraschend eintreten, und/oder sie muss überraschend länger andauern.

Anders gesagt: Die Inflation muss eine Fast-Täuschung sein, muss die Menschen auf dem falschen Fuß erwischen, damit die Inflation die von ihr erhoffte Wirkung entfaltet: Geldhalter und Gläubiger enteignen und Schuldner, allen voran den Staat, bereichern.

Wenn man annimmt, dass die Zentralbanken die Politik der erhöhten Inflation bewusst im Dienste der Staaten verfolgen, gleichzeitig aber Sorge tragen wollen, dass die Inflation nicht außer Kontrolle gerät, müssen sie im aktuellen Umfeld nun aber „gegensteuern“, beziehungsweise sie müssen den Eindruck erwecken, sie gehen gegen die Inflation vor. 

Doch wird damit eine echte Zinsverteuerung verbunden sein? Wird der Realzins aus dem Negativbereich, in dem er sich seit etwa 15 Jahren befindet, wieder in den Positivbereich gehoben? Zweifel sind anzumelden.

Mögliche Szenarien

Es ist davon auszugehen, dass die anstehenden Zinsanhebungen der Zentralbanken begrenzt sein werden. Der Leitzins der US-Notenbank wird vermutlich die Marke von 3 Prozent nicht überschreiten; und die Europäische Zentralbank wird vermutlich auch nur in geringerem Umfang den Zins anheben, ungefähr auf 2 Prozent. 

Selbst wenn die Inflation der Konsumgüterpreise etwas nachgeben sollte (in den kommenden ein bis zwei Jahren) werden die Realzinsen sehr wahrscheinlich weiter im negativen Territorium verharren und der Geldwert weiterhin im Zeitablauf schwinden. Die „Außenwirkung“ der Zinserhöhungen wird jedoch sein: Die Zentralbanken tun etwas gegen die unerwünschte Inflation.

Die „finanzielle Repression“ wird so lange weitergehen wie die Menschen „stillhalten“, es zu keiner Flucht aus dem Fiat-Geld, den in Fiat-Geld ausgewiesenen Sicht-, Termin- und Sparguthaben sowie Schuldpapieren kommt. 

Damit eine solche Flucht ausbleibt, ist es erforderlich, dass die Menschen weiterhin glauben und überzeugt sind, die Inflation sei nur vorübergehend, sei ungewollt, werde bekämpft und bald wieder auf akzeptable Niveaus absinken. Wer die Kommentare der Zentralbankräte hört und liest, der wird erkennen, dass sie eben dieses Ziel verfolgen: die Menschen zu beruhigen, ihr Vertrauen in das ungedeckte Geld aufrechtzuerhalten, Zweifel daran zu zerstreuen.

Wenn die Menschen allerdings aufwachen, den Schwindel mit der Geldentwertung durchschauen und darauf konsequent reagieren, dann ist mit großen Erschütterungen im Finanz- und Wirtschaftssystem zu rechnen. Hochinflation ist dann unausweichlich, Hyperinflation ein mögliches Extremergebnis. 

Eine Flucht aus dem Geld kann dann nur noch durch eine stark rezessive Geldpolitik beendet werden – die jedoch nur allzu leicht einen Zusammensturz des Fiat-Geldsystems herbeiführen würde: Rezession, Massenarbeitslosigkeit, Kreditausfälle, Bankzusammenbrüche. 

Planvorhaben des Great Reset: Keinen Markt zulassen 

Solange die Auffassung vorherrscht, mit Geld- und Schuldenpolitik ließen sich Krisen erfolgreich abwehren und überwinden, wird man sich eben dieser Instrumente bedienen wollen. Vor allem steht der Zeitgeist, die vorherrschende politische Ideologie, der Bereitschaft entgegen, eine Anpassungs- beziehungsweise Bereinigungskrise zuzulassen. 

Vielmehr gibt es in der westlichen Welt den Konsens, die bestehenden wirtschaftlichen und politischen Strukturen zu bewahren, sie keinesfalls einer marktgetriebenen Erneuerung „auszusetzen“. Es gilt, den sogenannten „Wohlfahrtsstaat“, der vor allem finanziert ist mit immer mehr Schulden und immer mehr neu ausgegebenem Fiat-Geld, mit allen Mitteln zu verteidigen.

Auf diesem ideologischen Nährboden gedeihen auch die Umbaupläne derjenigen, die Wirtschaft und Gesellschaft im Zuge eines „Großen Neustarts“, einer „Großen Transformation“ umzugestalten gedenken. 

Man mag über die Frage trefflich spekulieren: Können die Befürworter dieser Planvorhaben eine „ungeordnete“ Krise des Fiat-Geldsystems und die damit verbundene Rezession der Volkswirtschaften gebrauchen oder nicht? 

Unbestritten ist: Der Erhalt des Fiat-Geldsystems ist für den Staat (und die Sonderinteressen, die ihn für ihre Zwecke einzuspannen suchen) ein ganz besonders wirksames Instrument, um das volkswirtschaftliche Geschehen zu steuern. Die Keynesianer sprechen nicht umsonst an dieser Stelle seit jeher unverblümt von „Globalsteuerung“. Das wird der Staat nicht leichtfertig aufgeben.

Diese Überlegungen sprechen dafür, dass die Zentralbanken dies- und jenseits des Atlantiks die Zinsschraube im aktuellen Zyklus nicht zu eng anziehen werden; dass sie eine existenzbedrohende Krise des Fiat-Geldsystems zu vermeiden suchen und dass sie vielmehr darauf bauen, eine Phase der erhöhten Inflation zuzulassen in der Hoffnung, dass die Inflation nicht völlig aus dem Ruder gerät. 

Eine ernste „Inflationsbekämpfung“ wird es sehr wahrscheinlich nicht geben.

Prof. Dr. Thorsten Polleit ist Chefvolkswirt der Degussa Goldhandel in Frankfurt/Main, Europas größtem Edelmetallhandelshaus. Davor war er als Ökonom 15 Jahre im internationalen Investment-Banking tätig. Er ist zudem Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Präsident des Ludwig von Mises Institut Deutschland und Buchautor. Seine letzten Bücher sind: „Mit Geld zur Weltherrschaft“ (2020), „Der Antikapitalist“ (2020) und „Ludwig von Mises. Der kompromisslose Liberale“ (2022). Weitere Informationen unter: www.thorsten-polleit.comDer Artikel erschien zuerst im Marktreport der Degussa.



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