EuGH läutet das Ende der Vertrauensarbeitszeit ein – FDP warnt vor „Bürokratiemonster“

Die EU-Mitgliedstaaten müssen Arbeitgeber dazu verpflichten, Systeme einzurichten, mit denen die tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.
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Ein Maschinenbauer bei der Arbeit.Foto: iStock
Epoch Times14. Mai 2019

Mit einem wegweisenden Urteil hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die EU-Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, die Unternehmen zur vollständigen Erfassung der Arbeitszeiten ihrer Beschäftigen zu verpflichten. Das könnte weitreichende Folgen haben.

WIE IST DIE GESETZLICHE LAGE?

Ein Arbeitnehmer darf laut Arbeitszeitgesetz in der Regel nicht mehr als acht Stunden am Tag arbeiten. Ausnahmsweise darf auch bis zu zehn Stunden gearbeitet werden, wenn innerhalb der nächsten sechs Monaten durchschnittlich acht Stunden nicht überschritten werden. Zudem muss eine Ruhezeit von elf Stunden zwischen zwei Arbeitsschichten gewahrt und nach spätestens sechs Stunden Arbeit eine Pause eingelegt werden. Staatliche Aufsichtsbehörden wie zum Beispiel die Gewerbeaufsichtsämter überwachen, ob die Vorschriften eingehalten werden.

Dokumentieren der Betrieb oder die Beschäftigten ihre Arbeitszeiten aber nicht, können die Behörden wenig tun: „Arbeitgeber müssen nach dem Arbeitszeitgesetz nur Überstunden erfassen“, sagt die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht, Inken Gallner.

WAS IST DER VORTEIL DER ERFASSUNG?

„Die Erfassung der Arbeitszeit dient den Arbeitnehmern selbst als Beweis für ihre Leistung und den Behörden und Gewerkschaften zur Kontrolle, dass die Arbeitszeitvorschriften eingehalten werden“, sagt Gallner.

Corinna Brauner von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) ergänzt: „Der Vorteil an der Erfassung ist, dass ich auch mal früher nach Hause gehen kann und keiner meiner Kollegen komisch guckt, weil sie wissen, dass ich die Zeit ein anderes Mal wieder reinarbeite.“

Die Erfassung könnte laut Brauner auch zu einem Abbau der Überstunden beitragen, weil mehr Aufmerksamkeit auf der tatsächlichen Arbeitszeit liegt. „Mit zunehmender Anzahl an Überstunden nehmen die gesundheitlichen Beschwerden zu. Die Betroffenen klagen häufig über Rückenschmerzen und Müdigkeit, das allgemeine Gesundheitsgefühl sinkt und die Work-Life-Balance leidet“, sagt die BAuA-Forscherin.

WO WIRD DIE ARBEITSZEIT BEREITS ERFASST?

Die BAuA hat zuletzt 2015 die Beschäftigten zu dem Thema befragt. „Dabei gab etwa die Hälfte an, dass die Arbeitszeit betrieblich erfasst wird. Etwa ein Drittel erfasste sie selbst und ein Fünftel gar nicht“, sagt Brauner.

Am weitesten verbreitet ist die betriebliche Erfassung in der Industrie und im öffentlichen Dienst. Die eigenständige Dokumentation der Arbeitszeiten durch die Beschäftigten ist im Handwerk das häufigste Mittel. Je größer der Betrieb, desto üblicher sind betriebliche Erfassung und Arbeitszeitkonten, über die Überstunden verwaltet werden.

Am seltensten wird die Arbeitszeit bei Beschäftigten im Bereich Unterricht und Erziehung erfasst. „Das liegt unter anderem daran, dass Lehrer viel zuhause arbeiten“, sagt Brauner.

Außerdem ist in vielen Unternehmen die sogenannte Vertrauensarbeitszeit gängige Praxis, bei der sich die Beschäftigten die Arbeitszeit selbst einteilen können.

WELCHE AUSWIRKUNGEN HAT DAS URTEIL?

„Vertrauensarbeitszeit und nicht im Einzelnen erfasste Überstunden wird es in der bisherigen Form nicht mehr geben können“, erklärt Michael Fuhlrott, Arbeitsrechtler an der Hochschule Fresenius. Nach dem Urteil müssten auch diese erfasst werden.

„Die EU-Mitgliedstaaten müssen Arbeitgeber verpflichten, Arbeitszeiterfassungssysteme einzuführen“, betont Richterin Gallner. Der EuGH lasse den Mitgliedstaaten aber Spielräume dafür, welche Zeiterfassungsmethoden sie den Arbeitgebern vorgeben. „Je nach Art des Unternehmens können die Arbeitszeiten zum Beispiel auf dem Papier oder elektronisch erfasst werden. Die Zeiterfassung muss nur objektiv und verlässlich sein.“

WAS BEDEUTET DAS FÜR DEN ARBEITSALLTAG?

„Der EuGH ist sehr klar, wenn es darum geht, die Ruhezeiten einzuhalten“, sagt Gallner. „Aus meiner Sicht können schon kurze Arbeiten die Ruhezeit unterbrechen, beispielsweise eine berufliche E-Mail oder ein berufliches Telefongespräch. Nach meiner Auffassung müssen Arbeitgeber unterbinden oder verbieten, dass Arbeitnehmer in der Ruhezeit etwa berufliche Telefonate führen oder E-Mails beantworten. Sonst beginnt die vollständige Ruhezeit erneut.“ Diese Sichtweise ist aber nicht unumstritten, wie Gallner selbst zugibt.

Nach Ansicht von BAuA-Forscherin Brauner trägt jeder Arbeitnehmer selbst Verantwortung für die Einhaltung seiner Rechte: „Wichtig ist, dass es alle mittragen. Wenn manche das Gefühl habe, dass sie in ihrem Betrieb nur durch Extraarbeit vorankommen, stempeln sie sich vielleicht selbst aus und arbeiten einfach weiter. Auch wenn die Arbeit in der Arbeitszeit generell nicht zu schaffen ist, ist das problematisch. Die Arbeitszeiterfassung ist auch kein Allheilmittel.“

Linke und Grüne begrüßen EuGH-Urteil zur Arbeitszeiterfassung

Die Linken und die Grünen haben das Urteil des Europäischen Gerichtshofs begrüßt. „Dieses Urteil ist ein starkes, europaweites Signal für die Rechte von Beschäftigten“, sagte Linksfraktionsvize Susanne Ferschl dem Nachrichtenportal T-Online. „Mit der einseitigen Flexibilisierung der Arbeitszeit zu Gunsten von Arbeitgebern ist nun Schluss.“

Sie erwarte von der Bundesregierung eine zügige Umsetzung des Urteils. Denn Arbeitszeiterfassung sei „kein Hexenwerk sondern bereits gelebte Praxis in vielen tarifgebundenen Unternehmen“. Sie forderte von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), „seine Pläne zur Abschaffung der Dokumentationspflicht beim Mindestlohn damit zu begraben“.

Auch eine Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag begrüßte das Urteil des Europäischen Gerichtshofes. „Jetzt ist es endlich amtlich: Arbeitszeit muss immer erfasst werden“, sagte Beate Müller-Gemmecke, die in der Fraktion für Arbeitnehmerrechte und Arbeitsmarktpolitik zuständig ist, zu T-Online.

Die Arbeitszeiterfassung sei Voraussetzung dafür, dass Überstunden sichtbar würden und jede Stunde Arbeit auch tatsächlich bezahlt werde. „Gerade wenn es um Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice geht, zeigt das EuGH: Es ist auf der Höhe der Zeit.“

Verhaltener äußerte sich Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der Unionsfraktion im Bundestag. Das Urteil müsse nun zunächst ganz genau geprüft werden, sagte er dem Nachrichtenportal. „Die meisten Arbeitgeber erfassen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter ohnehin.“

Zudem sei das deutsche Arbeitszeitgesetz schon deutlich präziser als die EU-Richtlinien. Auch Uwe Witt, arbeits- und sozialpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion, sagte auf Anfrage von T-Online, es sei längst üblich, die Arbeitszeit von Arbeitnehmern in Deutschland aufzuzeichnen. „Insofern stellt das Urteil für deutsche Unternehmen wahrscheinlich weder eine große Herausforderung noch erheblichen Aufwand dar.“

Nun müsse das Urteil daraufhin geprüft werden, welche technischen Voraussetzungen ausreichend seien. „Aufwand und Nutzen der Arbeitszeiterfassung müssen in einem vernünftigen Verhältnis stehen.“ Deutlich ablehnend reagierte der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Johannes Vogel, auf das Urteil des EuGH. „Durch das Urteil droht ein potenzielles Bürokratiemonster“, sagte Vogel dem Portal. In Zeiten der Digitalisierung brauche man mehr statt weniger Möglichkeiten für Vertrauensarbeitszeit und mobiles Arbeiten – „kein zurück zur Stechuhr“. (dts/afp)



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