„Ohne Bauch geht´s auch“: Nicht bei Entscheidungen!

Professor Gerd Gigerenzer, der Autor des Buches „Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten“ und Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, sprach mit uns über die „Angstkultur“ in deutschen Unternehmen, wenn es um Entscheidungen geht.
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Cover: Goldmann Verlag
Von 24. März 2011

Zahlen, Daten, Fakten und mathematische Analysemodelle – wenn es nach Professor Gerd Gigerenzer geht, können sie alle nicht unsere Intuition ersetzen. Er sprach mit uns darüber, dass intuitive Entscheidungen durchaus rational und nicht verdächtig sind. Also darüber, dass „Ohne Bauch geht´s auch“ zwar für den nächsten Badeurlaub gelten kann – aber nicht für die Entscheidung darüber, wohin man fährt. Und wen man mitnimmt.

Epoch Times: Herr Professor Gigerenzer, es geht in Ihrer Forschung um Entscheidungen und wie und warum Menschen sie treffen. Im Internet findet sich ein Vortrag des Unternehmensberaters Simon Sinek. Er hat erwähnt, dass Entscheidungen in einer tieferen, in einer älteren Schicht des Gehirns getroffen werden, als normalerweise Wissen gespeichert wird. Es würde also nichts bringen, zehntausend Informationen über ein Produkt zu haben – die Kaufentscheidung wird trotzdem auf einer anderen Basis getroffen. Stimmen Sie dem zu?

Professor Gerd Gigerenzer: Ja, nur so simpel wie Sinek Entscheiden versteht, ist es nicht. Hier muss man erst einmal mit Vorurteilen aufräumen. Der verbreitetste Irrtum besteht darin, bewusstes Entscheiden mit rational gleichzusetzen und unbewusste Entscheidungen mit irrational. Das wird immer noch geglaubt.

In meiner Forschung habe ich gezeigt, dass intuitive Entscheidungen auf Prinzipien beruhen, die wir identifizieren können, und die in vielen Fällen zu besserem Erfolg führen als langes Nachdenken oder die Verwendung von komplexen statistischen Algorithmen. Das erfordert ein Umdenken.

Epoch Times: Ein Umdenken – in welcher Hinsicht?

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Cover: Goldmann Verlag

Gigerenzer: Man hat lange Zeit in der Philosophie, Psychologie und auch Ökonomie Rationalität mit überlegtem, bewusstem Denken gleichgesetzt und zugleich intuitive Entscheidungen belächelt oder sie gar als verdächtig angesehen. Hier braucht es ein Neudenken. Beides sind intelligente Prozesse und wir brauchen beide. Also einerseits bewusstes oder rechnerisches Denken und auf der anderen Seite intuitives Denken. Die richtige Frage ist: „Wann kann ich mich auf meine Intuition verlassen und wann sollte ich mir besser Zeit zum Nachdenken nehmen?“. Die falsche Frage ist: „Ist der Kopf besser als der Bauch?“

Epoch Times: Wie soll man dann damit umgehen? Das Unbewusste kann man sich ja schwer ins Bewusste hineinholen. Das ist doch das Problem mit der Intuition: Sie ist mal da, mal nicht. Hat die überhaupt jeder Mensch gleich stark ausgeprägt aus Ihrer Sicht und aus Ihren Erkenntnissen?

Gigerenzer: Nun, da gibt’s natürlich individuelle Unterschiede in der Qualität der Intuition; aber genauso wichtig ist, dass es große Unterschiede darin gibt, in welchem Maße man zu seiner Intuition steht. Viele Unternehmer, Wissenschaftler, Sportler, Künstler treffen intuitive Entscheidungen – doch in einigen dieser Bereiche gilt dies als verdächtig. Gerade in der Wirtschaft. Ausnahmen sind Familienunternehmen, dort weniger. Wenn Sie ein Entscheider sind, der nach oben berichten muss, der den Aktionären berichten muss, dann gelten in Deutschland intuitive Entscheidungen als fragwürdig. Denn eine Intuition ist schnell im Bewusstsein, aber man kann sie nicht begründen. Die Intelligenz des Unbewussten drückt sich eben nicht in Sprache aus. Und das gilt als unakzeptabel.

Epoch Times: Viele sehr erfolgreiche Top-Manager sagen, sie schauten sich die Zahlen natürlich an, aber trotzdem – die Entscheidungen, die meistens auch richtig lagen, kamen eher aus dem Bauch heraus.

Gigerenzer: Ja, das ist auch meine Erfahrung. Nach meinen Studien wird im Schnitt jede zweite wichtige Entscheidung in der Wirtschaft aus dem Bauch heraus getroffen. Das bedeutet nicht, dass Bauchentscheidungen mit zufälligen oder willkürlichen Entscheidungen gleichzusetzen sind, sondern: Man sitzt sozusagen auf einem Berg von Informationen, aber was macht man dann? Viele dieser Informationen sind unsicher und man fragt sich, warum man sie überhaupt erhalten hat und wie zuverlässig sie sind. Ein Rechenverfahren kann das nicht beurteilen.

Epoch Times: Es gibt solche Algorithmen mittlerweile sogar für die Partnerwahl.

Gigerenzer: Also, ich habe keinen Partnerwahl-Algorithmus benötigt (lacht). Es gibt natürlich Personen, die sagen, dass sie ihren Partner so gefunden haben. Die klassische Entscheidungstheorie würde genau das nahelegen: erst wägen, dann wagen; erst analysieren, dann agieren. Viele meiner Kollegen stellen ihren Studenten die Theorie der Nutzensmaximierungs als die rationale Methode an sich dar. Ich habe sie gefragt, ob sie denn ihre Frau (es sind meistens Männer) auch so gewählt haben. Aber dann kam die Antwort: „Nein, hör auf damit, das war jetzt ernst.“ Ich habe nur einen gefunden, der sagte, er sei seiner Theorie gefolgt. Er erklärte, dass er zuerst alle Alternativen aufgelistet habe und dann alle Konsequenzen, wie: Wird es noch ein prickelndes Gefühl nach den Flitterwochen geben? Wird sie mich in Ruhe arbeiten lassen und auf die Kinder aufpassen? Dann hat er den Nutzen jeder Konsequenz bestimmt, hat für jede Frau die Wahrscheinlichkeit geschätzt, dass diese Konsequenz eintreten wird, schliesslich gerechnet und der Frau mit dem höchsten erwarteten Nutzen einen Antrag gemacht. Sie hat akzeptiert. Er hat ihr nie erzählt, wie er das gemacht hat. Die beiden sind mittlerweile geschieden.

Epoch Times: Zurück zur Bedeutung der Intuition für wirtschaftliche Entscheidungen. Was tut man, wenn man in einem großen, nicht familiengeführten Unternehmen als Manager sitzt, der, sagen wir mal, eine gute Verbindung zu seiner Intuition oder zu seinem Bauch oder wie auch immer hat.

Gigerenzer: Da kann man einiges tun. Als Erstes kann man in einer Firma das Thema Entscheiden endlich zum Thema machen. Dann die Angst, intuitiv zu entscheiden, und wie häufig diese zu defensiven Entscheidungen führt. Das heißt, man entscheidet sich nicht für die beste Option, sondern für eine zweit- oder drittklassige, mit der man aber besser dasteht, falls was schief geht.

Also hier ist ein Abteilungsleiter, der eine gute Idee hat, wie es besser ginge, aber weil es eine intuitive Entscheidung wäre, diese nicht ausspricht und lieber eine schlechtere Option ergreift, die sich im Nachhinein besser begründen lässt. Damit wird viel Zeit, Geld und Intelligenz in Unternehmen verschwendet. Und dieses Problem könnte man in jedem Unternehmen angehen: Wie viele von unseren Entscheidungen sind defensiver Natur? Und wie können wir, vom Abteilungsleiter bis zum Vorstand, eine „Fehlerkultur“ entwickeln, in der Mitarbeiter sich nicht selbst schützen müssen, sondern aus Fehlern lernen und das Beste für die Firma tun können?

Eine Unternehmenskultur zu schaffen, die dem Wohl des Ganzen statt dem Schutz des Einzelnen dient, ist ein überlebenswichtiges Ziel. Ein anderes Beispiel, wie man aus der Forschung über intuitives Entscheiden lernen kann, nehme ich von einer deutschen Bank, für deren Spitzenkunden ich Vorträge über gute Entscheidungen gehalten habe. Als ich den Vortrag zum zweiten Mal hielt, für eine neue Gruppe, sagte ein Vorstand in der Diskussion: „Ich habe etwas gelernt, seit dem letzten Mal.“ Und er erklärte: „Wenn wir im Vorstand früher eine wichtige Entscheidung, wie eine Fusion, zu treffen hatten und einer von uns hatte ein schlechtes Bauchgefühl, dann haben wir anderen ihn gefragt: ‚Was sind deine Gründe dagegen?’ Und dann musste er Gründe produzieren und wir haben sie zerschlagen und sind in unser Unglück gesegelt.“

Wir müssen uns fragen: „Ist die entscheidende Person derjenige unter uns, der am meisten Erfahrung hat?“

Epoch Times: Sie sagen also: „Auch wenn jemand die Begründung nicht in Worte fassen kann, soll man ihm folgen?“

Gigerenzer: Nein, ich sage zunächst, man sollte ihn nicht fragen. Der Vorstand hat verstanden, dass es keinen Sinn macht, eine Person mit einem schlechten Bauchgefühl nach Gründen zu fragen. Denn per Definition kennt sie ihre eigenen Gründe ja gar nicht und wird irgendetwas produzieren. Vielmehr wurde dem Vorstand klar, dass man eine ganz andere Frage stellen muss, um zu entscheiden, ob man dem schlechten Bauchgefühl folgen soll: „Wir müssen uns selbst fragen: Ist die Person derjenige unter uns, der über die meisten Erfahrungen für die vorliegende Entscheidung verfügt. Wenn ja, dann stellen wir keine Fragen und suchen uns ein anderes Projekt.“

Epoch Times: Also ist für dieses Vorgehen wirklich Akzeptanz vorhanden.

Gigerenzer: Ich habe den Eindruck, dass viele Führungskräfte erleichtert sind, weil sie plötzlich sehen, es gibt eine wissenschaftliche Basis für das, was sie bisher immer getan haben und versucht haben zu verschweigen.

Die letzte Wirtschaftskrise etwa hatte viele Ursachen, aber eine davon war der verbreitete blinde Glaube an die analytischen Methoden, die verwendet wurden – für die AAA-Ratings wie für die Vorhersage der Wirtschaftsentwicklung. Wenn man hier auf die gute Intuition eines erfahrenen Schweizer Bankers gehört hätte, statt auf die analytischen Methoden, dann wäre die Krise so nicht passiert. Wir sollten uns erinnern, dass diese statistischen Methoden auf Annahmen beruhen, von denen man oft nicht weiss, ob sie zutreffen. Blinder Glaube an komplexe statistische Methoden kann gefährlich sein, gerade weil man leicht glaubt, dass sie einen schützen, da man sich immer rechtfertigen kann: „Ja, aber die anderen verwenden dieses Programm doch auch.“

Für Anlagen gibt es viele Optimierungsmethoden, vom Nobelpreis-gekrönten „Mean-Variance“ Model von Markowitz bis hin zu komplexen Bayesianischen Algorithmen. Wir haben bis heute keinen Nachweis dafür, dass diese komplexen Algorithmen besser sind als einfache intuitive Heuristiken wie 1/N, das heisst, verteile dein Geld gleichmässig auf die N-Optionen.

„Wer nicht nach der besten Lösung sucht, findet meist etwas Besseres.“

Epoch Times: Haben Sie auch untersucht, was es für einen Menschen bedeutet, wenn er sich gegen dieses Bauchgefühl stellt – hat das auch Auswirkungen auf den Körper?

Gigerenzer: Untersuchungen weisen darauf hin, dass Menschen, die maximieren – also das zu tun versuchen, was die klassische Entscheidungstheorie vorgibt und was als „rational“ bezeichnet wird –eher zur Unzufriedenheit mit ihren Entscheidungen tendieren, wie auch zur Depression, zum Perfektionismus und zu Selbstvorwürfen neigen.

Menschen, die dagegen nach einer Option suchen, die „gut genug“ ist und diese dann auch wählen statt weiterzusuchen, sind mit ihrer Entscheidung zufriedener und haben eine höhere Selbstachtung und ein positiveres Lebensgefühl.

In einer Welt, in der man die beste Entscheidung ja gar nicht treffen kann, sind schnelle intuitive Entscheidungen nicht notwendig ein Ausdruck von geistiger Beschränktheit, sondern entspringen oft der Einsicht, dass die Unsicherheit zu groß ist, um die beste Entscheidung überhaupt finden zu können. Weniger kann daher mehr sein. Und dadurch, dass man das Beste nicht sucht, findet man etwas Besseres.

Epoch Times: Wenn man sich einen Kopfmenschen und einen Bauchmenschen vorstellt, dann hat man bereits ein Bild im Kopf. Mit Bauchmenschen wird eher Zufriedenheit assoziiert.

Gigerenzer: Aber man soll das vielleicht nicht so gegeneinander stellen. Der ideale Mensch …

Epoch Times: … hat wohl alles. Und hoffentlich ein bisschen Herz auch noch.

Gigerenzer: Mut braucht es ebenfalls. Dies hat der Philosoph Immanuel Kant in seinem wunderschönen Aufsatz über die Aufklärung in zwei Worten ausgedrückt: „Sapere aude“ – „Habe den Mut, zu wissen.“ Wissen alleine reicht nicht. Und Mut auch nicht.

„Viele Entscheider streben nicht mehr den Erfolg der Firma an, sondern den Selbstschutz.“

Epoch Times: Sie sprechen gerne von Performance-Orientierung. Das passt gut zusammen mit dem, was Managementprofessoren wie Peter Drucker und Fredmund Malik schon lange sagen.

Gigerenzer: Es gibt eine Diskrepanz zwischen den Zielen der individuellen Entscheider in einer Firma und jenen der Firma selbst. Für die Firma zählt am Ende der Erfolg.

Aber viele Entscheider streben weniger den Erfolg der Firma an, sondern den Selbstschutz, aus Angst vor Verantwortung und Angst vor Risiko. Sie verbergen sich dann hinter Prozeduren, high-tech Absicherungsprozeduren. Und das halte ich für eine gefährliche Entwicklung.

Epoch Times: In welcher Form lässt sich dagegen angehen, gerade in Krisensituationen?

{Q}

Gigerenzer: Wir müssen wieder auf Performance umschalten und eine „Corporate Culture“ entwickeln, welche die Absicherungskultur ablöst. Vor Kurzem kam ein erfahrener, erfolgreicher Headhunter zu mir, der geholfen hatte, mit intuitiven Wissen Tausende von Managern und CEOs auszuwählen. Er berichtete, dass sein Berufsstand immer mehr durch Assessment-Center und psychometrische Methoden ersetzt wird, da man hier dem Auftraggeber die Prozedur erklären kann. Wir haben wenig Nachweis, dass diese Methoden viel taugen – aber was mehr und mehr zählt, ist nicht Performance, sondern Prozedur. Das gilt auch für Ärzte und Politiker. In einer Studie berichteten 93 Prozent der Ärzte in den USA, dass sie defensive Medizin betreiben, also nicht das Beste für den Patienten tun, sondern unnötige Diagnosen und Operationen durchführen, die dem Patienten schaden können, aber den Arzt gegen Klagen absichern. Wir leben in einer Kultur des ängstlichen Entscheidens.

Epoch Times: Hat das auch mit der deutschen „Michl-Mentalität“ zu tun, dass man Experten oder vermeintlich ausgewiesenen Experten auch wirklich „blind“ vertraut?

Gigerenzer: Sie meinen den „unmündigen Bürger“? im Klartext: Davon haben wir immer noch zu viele. Nicht nur im Wirtschaftsbereich.

Wir brauchen mehr Herzensbildung und Mut zur Verantwortung. Und zur Bildung gehört eben auch die Einsicht, dass gute Bauchentscheidungen genauso wichtig sind wie Berechnung und langes Nachdenken. Dann hätten wir auch eine Chance auf eine neue Gesellschaft, in der sich Menschen, die vernünftige intuitive Entscheidungen treffen, nicht mehr verstecken müssen. Und auch nicht mehr zu fürchten brauchen, dass sie durch irgendwelche mehr oder weniger nutzlose psychometrische Verfahren ersetzt werden. Denn an der Intuition führt kein Weg vorbei, ohne sie brächten wir wenig zustande.

Das Gespräch führte Florian Godovits.

Cover Ausgabe TaiwanCover Ausgabe Taiwan

Zur Person: Professor Dr. Gerd Gigerenzer ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und Direktor des Harding Zentrums für Risikokompetenz. Er ist Autor von „Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten“. Das in 17 Sprachen übersetzte Buch bekam in der Schweiz den Preis für das Beste Wirtschaftsbuch des Jahres und in Deutschland den Preis für das Beste Wissenschaftsbuch.

Es ist unter anderem auch in Taiwan erschienen.

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, s/w-Abbildungen im Text

ISBN: 978-3-570-00937-6, € 19,95 [D] | € 20,60 [A] | CHF 30,90* (empfohlener Verkaufspreis)

Als TB bei Goldmann

ISBN: 978-3-442-15503-3, € 8,95 [D] | € 9,20 [A] | CHF 15,50* (empfohlener Verkaufspreis)

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