Özdemir fordert Entkriminalisierung für „Containern“

Ein abgelaufener Joghurt, verschrumpelte Äpfel, verschimmelter Käse. Die Gründe, warum Lebensmittel in Containern landen, sind vielfältig. Mit seiner Forderung nach einer Straffreiheit für das Durchstöbern von Supermarktabfällen hat Landwirtschaftsminister Cem Özdemir eine neue Debatte entfacht. Spitzenreiter der Lebensmittelwegwerfer sind jedoch nicht die Händler.
Täglich landen Gemüse, Obst und andere Lebensmittel achtlos auf dem Müll - nicht nur in Supermärkten. Foto: iStock
Täglich landen Gemüse, Obst und andere Lebensmittel achtlos auf dem Müll – nicht nur in Supermärkten.Foto: iStock
Von 3. Januar 2023


Tonnentauchen – Essen retten. Die Idee, Abfallbehälter von Supermärkten nach essbaren Lebensmitteln zu durchstöbern, ist keinesfalls neu. Nach der aktuellen Rechtslage ist „Containern“ jedoch illegal. Wer sich ungefragt an den Abfallcontainern der Discounter bedient, riskiert eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch und Diebstahl. Neuen Wind in die Debatte um die Strafbarkeit dieser Art Lebensmittelbeschaffung und damit rund um das Thema Lebensmittelverschwendung bringt Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir. Doch das eigentliche Problem der Verschwendung kann damit nicht gelöst werden.

„Wer noch verzehrfähige Lebensmittel aus Abfallbehältern retten will, sollte dafür nicht belangt werden“, sagte Özdemir gegenüber der „Rheinischen Post“. Der Grünen-Politiker gehe davon aus, dass sich alle wünschen, „dass sich unsere Polizei und Gerichte stattdessen um Verbrecherinnen und Verbrecher kümmern“.

Das Thema Lebensmittelverschwendung ist auch einer der Aspekte, den sich die Regierung im Koalitionsvertrag auf die Fahne geschrieben hat. Darin heißt es: „Wir werden gemeinsam mit allen Beteiligten die Lebensmittelverschwendung verbindlich branchenspezifisch reduzieren, haftungsrechtliche Fragen klären und steuerrechtliche Erleichterung für Spenden ermöglichen. Wir stärken pflanzliche Alternativen und setzen uns für die Zulassung von Innovationen wie alternative Proteinquellen und Fleischersatzprodukten in der EU ein.“

Gerichtsentscheide zum Containern

Am 5. August 2020 entschied das Bundesverfassungsgericht zum Nachteil von zwei Studentinnen, die diverse Lebensmittel aus einem verschlossenen Abfallcontainer eines Supermarktes genommen hatten. Auch bei wirtschaftlich wertlosen Sachen dürfe der Gesetzgeber grundsätzlich das zivilrechtliche Eigentum schützen, so das Gericht.

Hingegen wurden Ermittlungen gegen den Nürnberger Jesuitenpater Jörg Alt zum zweiten Mal eingestellt. Zwar habe der Pater die Straftaten selbst eingeräumt, allerdings habe die Staatsanwaltschaft den zu beziffernden Wert der bereits entsorgten Lebensmittel als geringfügig bewertete, meldete die „Süddeutsche“. Außerdem hätten die betroffenen Supermärkte als rechtmäßige Eigentümer auf Strafanträge verzichtet.

Nach einer Umfrage aus dem September 2020 sprachen sich 80,9 Prozent der über 5.000 Befragten für eine Legalisierung des Containerns aus.

Bedürftigkeit oder aus Prinzip

Die Motivation zum Containern sind unterschiedlich, – manche tun es aus Bedürftigkeit, andere aus Prinzip. In einer Studie von aus dem Jahr 2016 wurden elf Studenten und Absolventen mit einem Durchschnittsalter von 25 Jahren zu ihren Motiven befragt. Das Autorenteam um Eva Maria Noack teilte die Beweggründe in Eigennutz, Öffentlichkeitsarbeit, Beeinflussung unternehmerischer Entscheidungen, Sensibilisierung des persönlichen Umfelds und Reduktion von Lebensmittelverlusten ein.

Zum Thema „Eigennutz“ berichtete eine befragte Person: „Aber als man dann da war und die Kisten aufmacht, sieht, was da alles drin ist und wie viel weggeschmissen wird, dann kann man das fast gar nicht glauben. Dann will man einfach nur die Sachen mitnehmen. Man wird irgendwie auch ein bisschen süchtig davon. Irgendwie ist das wie Weihnachten.“ Was in den Kisten sei, wisse man vorher nicht.

Andere wollen mit ihrem Verhalten an die Unternehmen appellieren, um Fehlkalkulationen oder mangelhaftes Management verringern. „Vielleicht ist das ja auch ein Schritt, dass die Supermärkte vielleicht auch beginnen, irgendwas zu ändern oder dass da mehr Druck entsteht“, sagte einer der Interviewpartner laut Studie.

Manche „Lebensmittelretter“ hoffen, „dass durch geschicktes taktisches Vorgehen die Unternehmen davon auch Wind kriegen“. Die Negativpublicity müsse so stark werden, dass diese Unternehmen umdenken und beispielsweise Lebensmittel frühzeitig reduzieren.

Wie die Autoren der Studie in Erfahrung bringen konnten, zeigen sich einige Supermarktmitarbeiter durchaus „kooperativ gegenüber den MülltaucherInnen und stellen aussortierte Waren nach Ladenschluss bereit oder bieten an, dass nicht mehr marktgängige Produkte abgeholt werden können“.

Letztlich handele es sich laut der Studie bei den Menschen aus der Container-Szene um „gut gebildete und informierte Personen, die durch ihr Engagement ein Ausrufezeichen sowohl für VerbraucherInnen als auch für den Handel setzen wollen, um langfristig Lebensmittelverluste einzudämmen“.

Über das generelle Alter der Personen, die sich derzeit in Deutschland an den Abfallcontainern bedienen, und die Beweggründe ist nichts bekannt. Unklar ist auch, wie viele Personen sich der Szene inzwischen angeschlossen haben.

Verfallsdatum – einhalten oder ignorieren?

Produkte, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, dürfen nicht verschenkt werden. Daher landen sie im Müll. Auf den Handel entfallen lediglich sieben Prozent entsorgte Lebensmittel. Damit ist eine Straffreiheit für das Containern keinesfalls eine Lösung, um Lebensmittelverschwendung auf einen Schlag zu lösen, so Özdemir. „Wir müssen deshalb pragmatisch schauen, wo wir ansetzen können.“

In einem MDR-Bericht heißt es: „Glauben Sie wirklich, dass sich eine Packung trockene Spirelli ein halbes Jahr nach MHD im Kochtopf anders verhält?“ Und selbst wenn: Eine Nudel, die geschmacklich nicht mehr auf der Höhe sei, habe nichts mit einer potenziellen Fischvergiftung zu tun.

Wie das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft im Ernährungsreport 2022 mitteilt, werden in Deutschland Lebensmittel auch nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums wertgeschätzt. 92 Prozent der Befragten prüfen nach Datum, ob das Produkt noch genießbar ist. Lediglich drei Prozent gaben an, die Lebensmittel nach Ablauf wegzuwerfen.

„Letzte Generation“ fordert Reformen

Auch die Aktivisten der „Letzten Generation“ beschäftigen sich mit dem Thema Lebensmittelverschwendung und fordern konkrete Reformen. Lebensmittel sollten gespendet werfen, beispielsweise an Wohltätigkeitsorganisationen. Ähnlich wie in Frankreich könne ein Gesetz erlassen werden, das den Supermärkten das Wegwerfen von Lebensmitteln verbietet.

Gleichzeitig müssten Supermärkte vor Haftungsrisiken geschützt werden, heißt es auf der Website der „Letzten Generation“ weiter. Eine Haftung solle nur bei Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit infrage kommen. Hier könne sich Deutschland ein Beispiel an Italien, den USA oder Kanada nehmen und die zivil- und strafrechtliche Haftung für Lebensmittel, „die zum Zeitpunkt der Verschenkung verzehrtauglich sind und in redlicher Absicht gespendet wurden, dahingehend beschränken“.

Außerdem müsse sich Deutschland auf EU-Ebene für die Änderung der Vermarktungsnormen einsetzen. Über ein Drittel des angebauten Obstes und Gemüses lande gar nicht erst im Supermarkt, da es nicht den Normen entspreche, kritisieren die Aktivisten unter Verweis auf Meldungen von Greenpeace.

Elf Millionen Tonnen im Müll

Laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2020 landen in Deutschland rund elf Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle im Müll. Dazu gehören nicht nur unverkaufte Lebensmittel, sondern auch übrig gebliebene Speisereste, Obst- und Nussschalen, Kaffeesatz und Knochen sowie weitere Lebensmittelverluste entlang der Produktions- und Lebensmittelkette.

Spitzenreiter der Lebensmittelwegwerfer sind jedoch nicht die Händler, sondern private Haushalte mit 59 Prozent und etwa 78 Kilogramm weggeworfener Lebensmittel pro Person und Jahr.

Nach Untersuchungen der Gesellschaft für Konsumforschung aus den Jahren 2016/17 und 2020 werden am häufigsten frisches Obst und Gemüse (35 Prozent) sowie Brot und Backwaren (13 Prozent), gefolgt von Getränken (12 Prozent) und Milchprodukten (9 Prozent) weggeworfen. Nach wie vor werden zu viele frische Lebensmittel weggeworfen, aber auch zubereitete Mahlzeiten würden häufig entsorgt.

Die Studie zeigt: „Je jünger der Haushaltsvorstand, desto mehr potenziell verwertbare Lebensmittel werden weggeworfen. Haushalte mit älteren Personen werfen tendenziell weniger weg.“

Es liege in der Verantwortung aller Beteiligten, „aktiv und ambitioniert zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen […] beizutragen“, so das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Dazu bedürfe es nicht nur einer Verhaltensänderung im Handel, sondern auch bei den Verbrauchern oder bei der Außer-Haus-Verpflegung.



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