Wie konnte es zum Bank-Run kommen? Finanzbeben in Silicon Valley

Die Silicon Valley Bank gilt als eine Art Finanz-Urgestein für die Hightech-Szene im Silicon Valley. Am Freitag gab es einen klassischen Bank-Run, dann wurde die Bank geschlossen. Wie kam es dazu?
Titelbild
Ein gepanzerter Wagen der Firma Brinks am 10. März 2023 in Santa Clara, Kalifornien, vor dem Gebäude der geschlossenen Silicon Valley Bank. Die Bank wurde am 10.3. von den kalifornischen Aufsichtsbehörden geschlossen und unter die Kontrolle der U.S. Federal Deposit Insurance Corporation gestellt.Foto: Justin Sullivan/Getty Images
Von 13. März 2023


Am 10.3.2023 wurde durch die US-Finanzaufsichtsbehörde Federal Deposit Insurance Corporation (FDIC) die Silicon Valley Bank, die 16.-größte US-Bank, geschlossen und alle Vermögenswerte unter sofortige Zwangsverwaltung gestellt. Es ist die zweitgrößte Bankeninsolvenz der US-Geschichte.

Ein klassischer Bank-Run

Die Tage zuvor hatte es einen klassischen Bank-Run gegeben. Immer mehr Einlage-Kunden bekamen Sorge, dass sie ihre Guthaben bei der Bank nicht zurückbekommen könnten und haben in wachsendem Umfang ihre Gelder abgezogen.

Daraufhin drohte der Silicon Valley Bank tatsächlich, das Geld auszugehen und die US-Aufsichtsbehörde FDIC schritt ein, schloss innerhalb weniger Stunden alle Bankschalter und fror mit sofortiger Wirkung alle Bankbewegungen ein. Eine Bankzwangsschließung an einem normalen Werktag ist eine extrem ungewöhnliche Behördenmaßnahme.

Wie konnte es dazu kommen? 

Die Silicon Valley Bank gilt als eine Art Finanz-Urgestein für die Hightech-Szene in Silicon Valley. Sie übernimmt Finanztransaktionen, nimmt Einlagen und finanziert seit 40 Jahren in zuletzt 17 Filialen schwerpunktmäßig junge, dynamische Hightech-Unternehmen in Kalifornien.

Per 31.12.2022 betrug die Bilanzsumme 209 Milliarden, das Eigenkapital 16,3 Milliarden US-Dollar. Das Problem: Vor allem im Jahr 2021 hatte die Bank wegen der sehr guten wirtschaftlichen Entwicklung vieler Unternehmen im Silicon Valley sehr viele Kundeneinlagen bekommen, das heißt viele Unternehmen haben ihre üppig fließenden Gelder bei der Bank deponiert. Die Kundeneinlagen wuchsen 2021 um 86 Prozent.

Einen großen Teil der Mittelzuflüsse legte die SVB in US-Staatsanleihen an, deren Zinsen 2021 recht niedrig waren. US-Staatsanleihen mit 10-jähriger Laufzeit hatten 2021 eine Verzinsung von etwa 1,5 Prozent pro Jahr.

Als die US-Notenbank FED Mitte März 2022 wegen zunehmenden Inflationssorgen begann, die Zinsen anzuheben und die Geldmenge nicht weiter über Anleihekäufe zu erhöhen, stiegen auch die Zinsen der 10-jährigen US-Staatsanleihen auf knapp vier Prozent Ende 2022 sowie Anfang März 2023.

Dieser in historischer Perspektive ungewöhnlich starke Zinsanstieg in ungewöhnlich kurzer Zeit führte zu stark sinkenden Anleihepreisen. Beispielsweise sank eine US-Staatsanleihe mit einer Restlaufzeit von 21 Jahren zwischen März 2022 und März 2023 von 115 auf 85 Dollar.

Das heißt: Ein Anleger, der im März 2022 diese US-Staatsanleihe für 115 Dollar gekauft hat, sah innerhalb eines Jahres den Wert seines Depots um 24 Prozent schrumpfen. Genau so etwas passierte der Silicon Valley Bank.

Die Schieflage war seit Langem abzusehen

Laut „Wall Street Journal“ beliefen sich die unrealisierten Verluste auf Anleihen, die die Silicon Valley Bank in der Bilanz per 31.12.2022 auswies, auf 17,6 Milliarden Dollar und waren damit höher als das gesamte Eigenkapital von 16,3 Milliarden Dollar. Rein rechnerisch wäre die Bank also bereits zum Jahresende 2022 bankrott gewesen, wenn sie damals alle Anleihen hätte verkaufen müssen.

Die Schieflage der Silicon Valley Bank war seit Langem abzusehen. So schreibt das „Wall Street Journal“: „Manchmal werden Investoren von Verlusten überrascht, auch wenn das Problem sich langsam aufgebaut hat und seit Langem für jeden voll einsehbar war. Bei SVB hatten sich die unrealisierten Gewinne das ganze vergangene Jahr über aufgebaut und waren für jeden sichtbar, der den Finanzbericht liest.“

Das sind interessante Aussagen des „Wall Street Journals“: Jeder, der Bilanzen lesen kann, wusste, dass es eine Schieflage bei der Silicon Valley Bank gibt. Es war für alle einsehbar und hat sich – für alle sichtbar – langsam aufgebaut. Warum sehen Investoren, Anleger, Finanzprofis über solche Entwicklungen hinweg und werden dann plötzlich überrascht?

Das „Wall Street Journal“ weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Bank of America, die zweitgrößte US-Bank, per 31.12.2022 ähnlich wie die Silicon Valley Bank unrealisierte Verluste in Höhe von 109 Milliarden US-Dollar auf die von ihr gehaltenen Anleihen in Höhe von 633 Milliarden US-Dollar auswies. Das entspricht 40 Prozent des Eigenkapitals von 270 Milliarden Dollar.

Also auch Bank of America hat erhebliche unrealisierte Risiken in der Bilanz schlummern. Ihr Börsenwert (Aktienkurs mal Anzahl der Aktien) betrug Ende 2022 265 Milliarden Dollar. Da ist offenbar noch viel Luft nach unten. Die US-Bankaktien verloren in der Woche von 6. bis 10.3. 16 Prozent an Wert. Vor allem andere kleinere Banken werden vom „Wall Street Journal“ als gefährdet von weiteren Korrekturen bezeichnet.

Zinslast bringt Schuldner in Schwierigkeiten

Woher kommen die Verwerfungen bei den US-Banken? Die Haushalte, Unternehmen und die Regierung der USA hatten Ende Dezember 2022 Schulden in Höhe von etwa 69.000 Milliarden Dollar, das entspricht etwa 264 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Zum Vergleich: 1980 betrugen die Schulden noch 136 Prozent vom BIP, vor der Finanzkrise Mitte 2007 224 Prozent. Die Schuldenlast pro Einheit Wirtschaftskraft ist heute also beinahe doppelt so hoch wie 1980. Solange die Zinsen niedrig waren, war das kein nennenswertes Problem.

Wegen der ansteigenden Inflation hat die US-Notenbank seit März 2022 jedoch die kurzfristigen Zinsen um 4,5 Prozentpunkte angehoben. Auch die langfristigen Zinsen sind seit Anfang 2022 um zwei bis drei Prozentpunkte gestiegen. Im Durchschnitt dürften die Zinsen in den USA heute – über alle Laufzeiten betrachtet – etwa drei Prozentpunkte höher sein als noch vor 15 Monaten.

Das heißt, dass die amerikanischen Schuldner in nächster Zeit über 2.000 Milliarden Dollar Zinsen pro Jahr mehr zahlen müssen als Anfang 2022, wenn die Zinsen auf ihrem derzeitigen Niveau bleiben. Das entspricht etwa acht Prozent vom Sozialprodukt.

Diese rasant steigende Zinslast dürfte einige Schuldner in Schwierigkeiten bringen. Wenn Schuldner Schwierigkeiten bekommen, kommen Banken in Schwierigkeiten. Das Institute of International Finance, eine Vereinigung internationaler Banken, schrieb bereits im September 2022, als die Zinsen stiegen, aber noch deutlich niedriger waren als heute: „Zombie Companies are on the rise everywhere“, weltweit steigt die Zahl der hochverschuldeten oder überschuldeten Unternehmen. Die Finanzprobleme sind also alles andere als bereinigt.

Was steckt dahinter?

Seit Jahrzehnten steigt die Ungleichverteilung in den USA und in den meisten Ländern der Erde. Die tagtäglichen, zum größten Teil leistungslosen Geldströme in Form von Dividenden, Mieten, Pachten und Zinsen führen zu einer immer größeren Vermögens- und Machtkonzentration bei immer weniger Menschen. In den USA besaßen 2021 die obersten 0,01 Prozent der Bevölkerung zehn Prozent des gesamten Nationalvermögens – ein neues Allzeithoch.

Wenn der Wohlstandszuwachs durch Wirtschaftswachstum zum größten Teil zu den wohlhabenden Menschen fließt, bleiben die Masseneinkommen und damit die Massenkaufkraft hinter dem Wirtschaftswachstum und den Investitionen zurück. Diese immer weiter wachsende Nachfragelücke beziehungsweise Überkapazität wird seit Jahrzehnten in den USA und vielen anderen Ländern der Erde durch immer höhere Schulden finanziert, um die Nachfrage aufrechtzuerhalten. 

Doch an irgendeinem Punkt sind die Schulden nicht mehr tragbar. Die Bedienung der steigenden Schulden konnte ab 2008 durch die Nullzinspolitik und Quantitative Easing (Ausweitung der Geldmenge durch die Notenbank) der führenden westlichen Notenbanken aufrechterhalten werden, weil die Zinslast dadurch minimiert wurde. Mit dem Ende der Nullzinspolitik im März 2022 in den USA und kurz darauf in Europa ist die Zeit des billigen, frisch gedruckten Geldes wegen der Anfang 2021 einsetzenden Inflation nun zu Ende. 

Was nun?

Die weltweit steigenden Zinsen könnten noch einige Finanzturbulenzen auslösen. Nicht nur viele Unternehmen und Privathaushalte haben äußerst hohe Schulden, sondern auch viele Staaten.

Beispielsweise hat Italien offiziell Staatsschulden in Höhe von 144 Prozent vom BIP. Auch in Italien sind die Zinsen über alle Laufzeiten hinweg in den letzten 18 Monaten um drei bis vier Prozentpunkte angestiegen. Wie soll der italienische Staat diese dramatisch steigende Zinslast in Höhe von über fünf Prozent vom BIP schultern?

Die Türkei hat Schulden in Höhe von fast 100 Prozent des BIP in ausländischer Währung. Wenn sich die türkische Lira abwertet, kann das Land schnell in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Falls Italien oder die Türkei in Zahlungsprobleme kommen sollten, kann dies an den Weltkapitalmärkten schnell für Turbulenzen sorgen.

„Stabile Schulden? Vergiss‘ es“, schrieben Mitte Februar Analysten von JPMorgan. Am Tag der Zwangsschließung der Silicon Valley Bank, am 10.03.2023, drehte der „Gier- und Angstindex“ von CNN auf „extreme Angst“.

Vermutlich war das Finanzbeben im Silicon Valley erst der Anfang von weiteren weltweiten Finanzbereinigungen. Denn viele Anleger leben noch immer in der Illusion, dass sie ihre Kredite eines Tages in voller Höhe zurückbekommen, obwohl seit Langem – wie bei der Silicon Valley Bank – abzusehen ist, dass das ein Irrtum ist. Wenn die Anleger dies erkennen und ihre Gelder zurückfordern, wird man feststellen, dass das nicht geht – und dann könnte ein größerer Bank-Run einsetzen.

Zum Autor:

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investmentbanker. Seit 2002 Professor für BWL mit Schwerpunkt Investition, Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern, das jüngste ist das 2020 erschienene Buch „Gekaufte Wissenschaft“. Bekannt auch sein Buch „Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft“ (2019). Einige Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de 



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