ATEM – das heilsame Soufflé des Kosmos

Von 3. Dezember 2012

 

Das Wunder des Atmens liegt in dem Geheimnis verborgen, dass etwas geschieht ohne jegliches manipulative Einwirken oder besondere Technik. Unsere europäischen Sprachen gebrauchen sehr verschiedene Worte für „atmen“; im Englischen: „to breathe“ (ein germanisches Wort, daher auch die uns geläufige „Brise“ für Luftzug), „to inhale“, „to inspire“, im Französischen: „respirer“ und „soufflir“ (wir kennen im Theater die Souffleuse, die Zuflüsterin), im Italienischen: „respirare“. Im Lateinischen unterscheidet man die Substantive „respiratio“ (der physiologische Prozess des Luftholens) und „spiritus“ (Geist – das kosmische Atemgeschehen). Im Griechischen unterscheiden wir zwischen „ανάσα (anasa)“ atmen und „πνεύμα (pneuma)“ – „hagion pneuma“ ist der Heilige Geist. In der Medizin hat man aus dem ursprünglichen Wort „πλεύμων (pleumon)“ für Lunge (lat.: „pulmo“) den Begriff „Pneumonia“ für Lungenentzündung in die Welt gebracht, obwohl der Geist des Menschen niemals krank werden kann.

Der Mensch ist gewohnt, in alle Lebensprozesse aktiv einzugreifen, und er übersieht dabei, wie er immer mehr versäumt, dem Wirken des Göttlichen, dem Urgrund und der Quelle unseres Daseins, genügend Raum zu geben. Nur allzu häufig wird der Vorgang des Luftholens mit Atmung verwechselt. In- und Exhalation sind nicht gleichbedeutend mit Atmung, mit Inspiration. Der weitläufige Bereich der Spiritualität – keine abgehobene, entrückte Weltfremdheit! – hat ganz konkret mit dem Atmen zu tun (lat.: spirare). Der Atmungsprozess vollzieht sich unbewusst, wenngleich das absichtslose Beobachten dieses spirituellen Geschehens allerhöchste Aufmerksamkeit erfordert. Wenn ES atmet, vollzieht sich im Menschen der Transformationsschritt vom Haben zum Sein, vom Tun zum Lassen, vom Ego zum höheren Selbst, was man im Sanskrit mit „Atman“ bezeichnet. Unsere deutsche Sprache ist indo-germanischen Ursprungs und hat das Wort Atem unmittelbar dem Sanskritwort Atman entlehnt. Der berühmte Inder und Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi (1869 – 1948) ist den meisten Menschen ein Begriff. Gandhi war ein überragender Geist – maha (groß) und Atman (Geist). Beim Atmen geht es letztlich darum, den uns innewohnenden lebendigen Geist zu erfahren, die Anwesenheit der Immanenz des Universums, den Himmel auf Erden, das Königreich im Hier und Jetzt.

Atmen ist ein liebevolles Geschehenlassen der sich ständig verändernden Situation des ewigen Lebens, jenseits der bestehenden Polarität und Dualität von Geburt und Tod. Der indische Poet und Nobelpreisträger für Literatur Rabindranath Tagore (1861 – 1941) kleidet den göttlichen Atem-Rhythmus in wunderbare Worte:

„Geburt und Tod, beides
des Lebens Spiel erhält –
wie beim Gehen der Fuß,
einmal erhoben, wieder fällt.“

Die spirituelle Erfahrung des innersten Wesensgrundes, unserer ursprünglichen Heimat führt zu der Aussage: „Nicht mehr ich atme, sondern ES atmet.“ Das ist der Weg vom aktiven In- und Exhalieren zum Atmen, zum passiven Inspiriert-Werden. Keiner sagt: „ich inspiriere“, denn es heißt: „ich werde inspiriert“ (engl.: „I am inspired“).

Aus dem Ur-Wort, dem Ur-Klang, dem Ur-Sein werden wir in den Bereich des Wissens, der Weisheit geführt. Das kosmische Wort und seine entwickelnden Lautkräfte als Strahlen hoher Inspiration müssen durch den Weg der Erkenntnis wieder aufgespürt werden. Das Ur-Wort ist der Träger des kosmischen Bewusstseins und des ewigen Lebens. Worte müssen wieder einleuchten, Licht bringen. Daher ist die geistige Sprachforschung auch so wichtig, die noch kaum betrieben wird.

„Der Buchstabe des Wortes tötet, nur sein Geist macht lebendig“, heißt es in der Bibel. Nur das lebendige Wort führt zum Wissen. Wie sich die Kraft des geistigen Ursprungs mehr und mehr verlor, als die Menschheit aus der inneren Anschauung in die äußere der sinnlichen Wahrnehmung und des Verstandeslebens fiel, zeigte das biblische Geheimnis vom Turmbau zu Babel. Da kam die Sprachverwirrung in die Welt, und als das äußere Wort mit dem inneren nicht mehr übereinstimmte, war die Mystik der menschlichen Sprache verloren gegangen samt dem geistigen Spracherlebnis. Wir brauchen wieder einen Wort-Schatz, a treasure house of words, wo es funkelt. Was der irdische Mensch aus seiner geistigen Licht-Heimat mitbrachte, und was Seher (Sanskrit: Rishis) und Weise davon der Nachwelt überlieferten, das geschah durch das innere Wort und seine sprachliche Aufzeichnung.

Nur auf einer metaphysischen Bewusstseinsebene lässt sich das Geheimnis der Sprache entdecken. Das nennt man inneres Atmen: In-Spiration. Inspiration ist nicht Inhalation, sondern im tiefsten Inneren am Atem des Universums teilnehmen. Und dann stößt man – wenn man beschenkt wird – in den Bereich von Ur-Wissen und Weisheit vor.

„Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen:
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt“.

(Wolfgang von Goethe, „West-Östlicher Diwan“)

Bei Lao Tse lesen wir im 1. Kapitel des „Tao Te King“:

„Der Weg, den wir sprechen können,
ist nicht der ewige Weg.
Der Name, den wir nennen können,
ist nicht der ewige Name.
Der Namenlose ist der Anfang
von Himmel und Erde.
Das Namentragende ist die Mutter
der zehntausend Dinge.
Wer wunschlos ist,
kann das Wunder des Weges erkennen.
Wer Wünsche hat,
wird nur Scheinbares entdecken.
Diese beiden entspringen der gleichen Quelle,
aber sie tragen verschiedene Namen.
In ihrer Einheit sind sie ein Geheimnis,
ein unendliches Geheimnis –
das Tor aller Wunder.“

 


Der Religionsphilosoph Roland R. Ropers ist Autor und Herausgeber etlicher Bücher:

Was unsere Welt im Innersten zusammenhält: Hans-Peter Dürr im Gespräch mit bedeutenden Vordenkern, Philosophen und Wissenschaftlern von Roland R. Ropers und Thomas Arzt; 2012 im Scorpio Verlag

Eine Welt – Eine Menschheit – Eine Religion von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Gott, Mensch und Welt. Die Drei-Einheit der Wirklichkeit von Raimon Panikkar und Roland R. Ropers

Die Hochzeit von Ost und West: Hoffnung für die Menschheit von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Geburtsstunde des neuen Menschen. Hugo Makibi Enomiya-Lassalle zum 100. Geburtstag von Roland R. Ropers

 

 



Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion