Dr. Michael Andrick: „Das Vertrauen in Staat und Politik sinkt seit Langem“

Ein Gespräch über die Debattenkultur in Deutschland.
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„Die in den staatsnahen Medien unsichtbare skeptische Mehrheit, die mit unserer Demokratie unzufrieden ist, kann nicht auf Dauer ignoriert werden“, meint der Publizist, Michael Andrick.
Von 5. Oktober 2022

Als Philosoph mit Wirtschafserfahrung analysiert Michael Andrick in seinem Buch „Erfolgsleere“ Ursprung und Folgen des Konformitätsdrucks der Industriegesellschaft. Die Epoch Times befragte ihn, wie er den öffentlichen Diskurs und die Debattenkultur in Deutschland erlebt, welche Rolle die Digitaltechnik dabei spielt und ob wir in einer gespaltenen Gesellschaft leben.

Herr Andrick, wie erleben Sie derzeit den öffentlichen Diskurs und die Debattenkultur in der Gesellschaft?

Nur noch 45 Prozent der Deutschen trauen sich laut einer Allensbach-Umfrage, unzensiert ihre politische Meinung zu äußern. Sie befürchten soziale Ausgrenzung und sogar Jobverlust, wenn sie die Regierungspolitik nicht einfach hinnehmen. Wer wenig Vertrauen in Politik und Staat hat, sagt eher nichts mehr. Dadurch entsteht der falsche Medieneindruck weitgehender Einigkeit über die großen Fragen.

Wer den Mut aufbringt und doch abweicht, kann im Windschatten dieses verkehrten Eindrucks umso leichter als „rechts“ oder „unsolidarisch“, als „Corona-Leugner“ oder „Putin-Versteher“ diffamiert werden.

Diese Beleidigungen heben die Angstschwelle für den Normalbürger, ihr Unbehagen zu äußern, weiter an. Das ist ein unguter Kreislauf der Entfremdung. Wir wissen aus Umfragen, dass das Vertrauen in Politiker und Staat in der Breite der Gesellschaft seit Langem sinkt. Die in den staatsnahen Medien unsichtbare skeptische Mehrheit, die mit unserer Demokratie unzufrieden ist, kann nicht auf Dauer ignoriert werden.

Welchen Einfluss hat die Digitaltechnik auf den öffentlichen Diskurs?

Die Radikalisierung in Filterblasen Gleichgesinnter erlebt jeder. Werfen wir hier einmal einen Blick darauf, wie Digitaltechnik funktioniert.

Digitaltechnik übersetzt die Dinge des Lebens in ein codiertes, virtuelles Modell. Diese Modelle installieren Betreiber von Apps und Plattformen als Mittelsmänner zwischen mir und dem Rest der Welt und machen meine Datenspur für sie lesbar. Die vielen digitalen Nützlichkeiten wie Onlineüberweisungen, Dating-Plattformen und Videotelefonie bekommen wir um den Preis, dass wir uns technisch überwachbar und psychologisch analysierbar machen.

Wir liefern ein Datenprofil von uns selbst, das zu totaler Manipulation und Unterdrückung brauchbar ist. Es muss nur jemand unsere Daten auswerten und gegen uns verwenden. Glaubt man Edward Snowdens Buch, so sind wir alle bereits zentral digital registriert und profiliert.

Ob die Digitaltechnik Freiheit oder Knechtschaft bringt, hängt davon ab, wie sie verwaltet wird. Je nach Eigentumsordnung sind sehr unterschiedliche Ergebnisse zu erwarten.

Können Sie das bitte weiter ausführen?

Die privaten Tech-Konzerne sind heute die mächtigsten Verlage der Welt. Sie entscheiden wesentlich darüber mit, was die Leute zu sehen bekommen. Wir haben Suchmaschinen- und Netzwerkmonopolisten, die mit Regierungen und Wirtschaft kooperieren, um die öffentliche Meinung nach ihren Wünschen zu lenken. Wie sonst soll man zum Beispiel den Fall der willkürlichen Löschung aller Inhalte von „OvalMedia“ durch YouTube erklären? Ohne die üblichen drei Warnungen wurden hier Inhalte mit enormer Themenbreite plötzlich zensiert, unter anderem mein Interview „Brückenbauprogramm“ mit Robert Cibis über Wege zur sozialen Versöhnung.

Die offizielle Politik macht trotz solcher Skandale keine Anstalten, eine demokratieförderliche Digitalinfrastruktur aufzubauen. Stattdessen investieren EU und Bund lieber in eine „Public-private Partnership“ (PPP) der Zensur, die dann als Bekämpfung von „Falschinformation“ verkauft wird.

Diese Zustände sind undemokratisch. Freie Bürger brauchen die offene, vielstimmige Debatte, um zu guten Entscheidungen zu kommen. Demokratie wird zur Farce, wenn der Debattenraum struktureller Zensur unterliegt.

Es gibt Alternativen: Eine Suchmaschine und ein soziales Netzwerk, die von einem Bürgerrat überwacht, steuerfinanziert und werbefrei sind und deren Codes veröffentlicht werden. Das wäre ein echter Schritt zu regierungsferner und realitätsnaher Information der Bürger. Der Einfluss politischer und kommerzieller Propaganda auf das Weltbild der Bevölkerung würde strukturell vermindert werden.

Leben wir heute in einer gespaltenen Gesellschaft? Und was heißt das genau?

Ja, die Spaltung ist real. Sie ist aber nicht einfach das Bestehen tiefer Meinungsverschiedenheiten. Streit ist normal und gesund. Spaltung haben wir, wo gerade kein Streit, ja überhaupt keine Kommunikation zwischen Menschen mehr stattfindet, obwohl sie in einer gemeinsamen Einheit zusammengehören: in einer Familie, einem Verein – oder in einem Staat. Eine demokratische Gesellschaft, in der Bürger nicht mehr angstfrei miteinander reden können, ist gespalten.

Welche Auswirkungen hat das?

Fehlt der Austausch, so entstehen Zerrbilder der anderen, die das eigene Schweigen rechtfertigen: „Der ist so unwissenschaftlich, mit dem kann ich gar nicht reden!“ „Der ist ja ein Putin-Versteher, mit dem will ich nichts zu tun haben!“ Ist der andere erst mal ein „Corona-Faschist“, ein „NATO-Krieger“ oder Teil von „Woko-Haram“, dann darf er auch ignoriert werden. Diskriminierung beginnt immer mit Etikettierung, die bis zur verbalen Entmenschlichung gehen kann.

Wir verlernen so, dass wir gemeinsam eine Republik ausmachen. Am Ende sind wir kooperationsunfähig – auch in einfachen politischen Sachfragen.

Wer Spaltung im Endstadium besichtigen will, der schaue in die USA. Dort gibt es faktisch keine konstruktive Zusammenarbeit zwischen den Lagern; in den ideologisierten Scheindebatten spielt das reale Leben echter Menschen keine Rolle mehr. Wechselseitige Verdammung hat den Streit in der Sache fast völlig verdrängt.

Wie beurteilen Sie die Entwicklung unseres Staats während der letzten Krisenjahre?

Trotz Coronapolitik-Krise haben wir immer noch eine repräsentative Demokratie mit freien, gleichen und geheimen Wahlen und die Interessen Nicht-Reicher werden zumindest auch vertreten. Regierungswechsel verlaufen gewaltfrei. Wir haben einen Sozialstaat mit solidarischer Gesundheitsversorgung und zumeist würdige Renten. In der Regel muss sich niemand für seine Ausbildung verschulden, behördliche Dienstleistungen sind verlässlich.

Aber ich sehe ernste Deformationen, die wir nicht hinnehmen dürfen. Am meisten bekümmert mich die Distanzlosigkeit des Bundesverfassungsgerichts zur Regierungspolitik. Die eigenständige Sachverhaltsklärung in Sachen Coronapolitik wurde verweigert. In Karlsruhe wird in Begriffen der Regierungskommunikation (z.B. „dynamisches Infektionsgeschehen“) auf die Aussagen oberer Bundesbehörden wie des RKI verwiesen, die von Bundesministern gelenkt werden, um die Regierungspolitik freizusprechen. Das ist für mich einfach Regierungskollaboration. Bleibt das die Praxis des obersten Gerichts, so gibt es in der letzten Instanz keinen Rechtsschutz des Bürgers gegenüber dem Staat mehr. Das ist dramatisch.

Die Behörden und Verwaltungen unseres Staats standen schon immer unter parteipolitischem Einfluss, weil die Parteien ihre oberen Hierarchien mit Gefolgsleuten besetzen. Die aktuellen Skandale des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ÖRR) um Vetternwirtschaft und politisch gefällige Berichterstattung sind Beispiele, wohin diese Verfilzung führen kann.

Schuld sind hier nicht die allermeisten Redakteure, die oft in prekären freien Arbeitsverhältnissen stecken, sondern die Führungsebene. Wir brauchen deshalb einen öffentlich finanzierten Rundfunk unter Bürgerkontrolle. Modelle dazu gibt es genug, es fehlt nur der politische Wille zum Neuanfang. Der muss dann eben über die Straße und die Publizistik hergestellt werden.

Hat die heutige Bundesrepublik für Sie Eigenschaften eines totalitären Systems?

Die Bundesrepublik ist kein totalitärer Staat. Wir sollten vorsichtig mit diesem Begriff umgehen. Wie ich jüngst in „Der Freitag“ dargelegt habe, gab und gibt es aber bis heute punktuell totalitäre Politik bei uns. Doch ist es offenkundig mit einem Tabu belegt, das auch so zu nennen.

Was eine Maßnahme totalitär macht, ist die völlige Unterwerfung des Menschen unter eine politische Zielsetzung – ungeachtet seines Eigeninteresses unter Inkaufnahme seiner Schädigung und sogar seines Todes. Ich will zwei Beispiele anführen:

Kinder, die durch das Virus nicht gefährdet waren und sind, wurden in Angst versetzt und mit Maskierung und durch invasives Testen traktiert, um das mutmaßliche Ansteckungsrisiko Erwachsener zu senken. Sie wurden hier als bloße Objekte der Politik ohne legitimes Eigeninteresse behandelt und dabei psychisch stark belastet. Das war ein Verbrechen. Wann werden Staatsanwälte und Gerichte dies endlich aufarbeiten? Immerhin hat sich Jens Spahn jetzt in der „ZEIT“ bei den Kindern und Jugendlichen entschuldigt.

Auch die einrichtungsbezogene Impfpflicht ist ein totalitärer Übergriff des Staates: Menschen werden dem Zwang unterworfen, sich einer Behandlung zu unterziehen, die viel öfter als zuerst gedacht, schwere Nebenwirkungen hat und in manchen Fällen tödlich endet. Schutz vor Krankheitsübertragung und Infektion bietet die neuartige Impfung nicht, das Gesetz ist also sachgrundlos. Der Mensch wird auch hier zum bloßen Objekt staatlichen Handelns, was er in einem Rechtsstaat niemals sein darf.

Was ist ihre Sicht auf die sich entfaltende Energiekrise?

Unsere Wirtschaft ist deshalb noch stark, weil wir selbst viel produzieren. Wir brauchen bezahlbare Energie. Ich stimme den jüngsten Äußerungen des Unternehmers Wolfgang Grupp zu: Die Energiekrise haben wir, weil unsere Außen- und Wirtschaftspolitik deutsche Interessen der Großmachtpolitik der USA unterordnet.

Die Bewohner der transatlantischen Blase, in der diese Politik entsteht, opfern jetzt die Interessen der arbeitenden Bevölkerung ihrer Ideologie. Vielleicht ist diese Entkopplung der Parteifunktionäre von den Sorgen der Bevölkerung das gefährlichste Krisenzeichen unserer Demokratie.

Anstatt im Namen von „westlichen Werten“ die Welt in Gut und Böse einzuteilen, muss auf Basis der Anerkennung der realen Interessen aller Konfliktparteien eine Verhandlungslösung zwischen Russland und der Ukraine gefunden werden.

Dr. Michael Andrick ist Philosoph und Kolumnist der „Berliner Zeitung“. Sein Buch „Erfolgsleere“ erschien „pünktlich“ zum ersten Lockdown und bietet eine Erklärung für – wie er es sagt –  „massenweisen, fraglosen Gehorsam gegenüber beliebigen Anordnungen“.

Das Interview führte Sarah Kaßner.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 64, vom 01. Oktober 2022.



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