HYPOKRISIE – heuchlerische Scheinheiligkeit

Von 18. Februar 2013

Die Etymosophie-Kolumne von Roland R. Ropers erscheint wöchentlich exklusiv in der EPOCH TIMES Deutschland.

In Zeiten, da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt!“, schreibt George Orwell (1903 – 1950) in seinem visionären Roman „1984“, der von dem Geiger, und Dirigenten Lorin Maazel (geb. 1930) als Oper komponiert und unter seiner Leitung im Mai 2005 in Covent Garden London uraufgeführt wurde, in der Hauptrolle die deutsche Sopranistin Diana Damrau.

Im Neuen Testament der Bibel werden die Hypokriten mit Heuchler übersetzt, während im klassischen Griechisch das Wort „hypokrisis“ keine negative Bedeutung hat. Das Verb „hypokrinesthai“ wird für „antworten“ verwendet. In einem Zeitalter, in dem es keine Bücher gab, übten Männer den Beruf aus, Dichtungen vorzutragen; man nannte sie „hypokritai“. Erst viel später erfuhr dieses Wort einen Bedeutungswandel. Heuchelei kommt von dem mittelhochdeutschen Verb „hüchen“, wie ein Hund kriechen. Die Scheinheiligkeit (engl.: hypokrisy, sanctimony), mehr scheinen als sein, hat inzwischen systemischen Charakter: die Verschuldungs- und Entschuldungsakrobatik der Banken, die Tatsache, dass Nahrungsmittel zu Spekulationsobjekten verkommen, überhaupt die gemeinhin akzeptierte, salonfähige Ungerechtigkeit, dass die Welt in eine Handvoll Profiteure und ein unübersehbares Heer von Almosenempfängern aufgeteilt ist.

Die Scheinheiligkeit breitet sich zur größten Epidemie des 21. Jahrhunderts aus. Betrachten wir nur die traurigen Politikergestalten, die sich an jedem Wahlabend nach einer katastrophalen Niederlage auch noch phrasenhaft bei ihren Wählern bedanken. Das ist kaum auszuhalten. Scheinheiligkeit hat viel mit der Überforderung unserer Psyche zu tun. Sie ist auch ein Überlebensprinzip in Zeiten des Geltungsdrangs und der Selbstüberschätzung. Wir glauben, damit Zeit zu gewinnen. Es ist ein Irrtum. Wir verfangen uns mehr und mehr in diesem Knäuel von Unaufrichtigkeit und Feigheit.

Wissen und Klugheit werden zunehmend defizitär. Der weitgehende Verzicht auf Scheinheiligkeit ist eine Charakterfrage. Es gehören Mut und Nehmerqualitäten dazu, das Schwierige dem Einfachen vorzuziehen. Die Verführungskräfte des Scheinheiligen sind wie eine Hydra, die uns allgegenwärtig umschlingt. Die große Kunst des Neinsagens ist nur mühsam erlernbar. Stellen wir uns einen Politiker vor, der aufsteht und tatsächlich versucht, die Wahrheit zu sagen. Eins ist gewiss: Momentan könnte er keine Wahl mehr gewinnen. Solange die Zustände so paradox sind, bleibt die Scheinheiligkeit ein giftiges Gebräu.

Es gibt Personen, die relativ frei davon zu sein scheinen. Ihnen allen ist gemeinsam, sehr zurückgezogen oder einfach zu leben. Es sind wenige. Der XIV. Dalai Lama zum Beispiel erscheint authentisch. Frei von Scheinheiligkeit sind oftmals jene Menschen, die sich im Alltag auf bodenständige Weise behaupten. Menschen, die weitgehend unabhängig sind von der Meinung anderer.

Scheinheilige verbergen sich hinter einer Maske. Es sind oft Menschen, die ihr böses Herz unter einem Mantel von Frömmigkeit versteckt halten, wie die Pharisäer, von denen Jesus im Matthäus-Evangelium redet. Äußerliche Zeichen von Gottesfurcht, während das Herz von Hochmut und Bitterkeit erfüllt ist; vom Stolz besessen und ohne Demut.

Im 18. Kapitel des „Tao Te King“ von Lao Tse lesen wir:

„Wird der große Weg nicht mehr benutzt,
gibt es Güte und Gerechtigkeit.
Wenn die Klugheit auftaucht,
gibt es große Heuchelei.
Wenn zwischen den sechs Verwandten Zwist herrscht,
gibt es pflichtbewusste Kinder.
Wenn der Staat unwissend ist,
gibt es treue Beamte.“

 

{R:2}Der Religionsphilosoph Roland R. Ropers ist Autor und Herausgeber etlicher Bücher:

Was unsere Welt im Innersten zusammenhält: Hans-Peter Dürr im Gespräch mit bedeutenden Vordenkern, Philosophen und Wissenschaftlern von Roland R. Ropers und Thomas Arzt; 2012 im Scorpio Verlag

Eine Welt – Eine Menschheit – Eine Religion von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Gott, Mensch und Welt. Die Drei-Einheit der Wirklichkeit von Raimon Panikkar und Roland R. Ropers

Die Hochzeit von Ost und West: Hoffnung für die Menschheit von Bede Griffiths und Roland R. Ropers

Geburtsstunde des neuen Menschen. Hugo Makibi Enomiya-Lassalle zum 100. Geburtstag von Roland R. Ropers

 



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