Letzte Lieder und Geschichten von Menschen im Hospiz

„Wenn wir unsere Ohren verschließen, verschließen wir unser Herz und riskieren unsere Menschlichkeit!“ – Ein Gespräch mit Stefan Weiller über Menschen am Ende ihres Lebens und solche, die am Rande unserer Gesellschaft stehen.
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Von 11. Dezember 2015

Auf dieses Interview habe mich ganz besonders gefreut, denn obwohl ich Stefan Weiller bisher nicht persönlich kannte, ahnte ich bereits, dass er ein Mensch sein musste, der nicht nur an der Oberfläche kratzt, sondern der Tiefgang schätzt und sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden gibt.

Zu deutlich ist die Sprache seiner Projekte: Für „Letzte Lieder“ besucht er seit Jahren Menschen im Hospiz, spricht mit ihnen über die Musik ihres Lebens, für ein anderes Projekt namens „Die schöne Müllerin“ begibt er sich an den Rand unserer Gesellschaft und spricht mit obdachlosen Menschen, mit Flüchtlingen und Frauen in Frauenhäusern. Stefan Weiller schaut hin, wo andere lieber wegsehen und er hat keine Scheu, unangenehme Wahrheiten anzusprechen und auszusprechen.

Als wir dann Anfang Dezember miteinander telefonieren, lerne ich einen ausgesprochen sympathischen Mann kennen, der seine Worte sehr genau abwägt und der klug, tolerant, weitsichtig, empathisch und ausgesprochen einfühlsam mit den Menschen, die er für seine Projekte interviewt, umgeht. Für Stefan Weiller gibt es keine Unterschiede und keine Berührungsängste – jedem dieser Menschen begegnet er mit dem gleichen Respekt, mit Wertschätzung, Achtung und Mitgefühl. Er hört zu, ohne zu werten, nimmt wahr, ohne zu verurteilen und begegnet Menschen, ohne etwas zu erwarten.

Über die Liebe, den Glauben, die Hoffnung

In unserem gut anderthalbstündigen Interview sprechen wir über Obdachlosigkeit, darüber, was Menschen an den Rand unserer Gesellschaft spült und sie zur Einsamkeit verdammt. Wir sprechen über gescheiterte Beziehungen, Freundschaften, die sich zumindest so nannten, aber doch keine waren, über die Liebe, den Glauben, die Hoffnung, aber auch über das Loslassen, das Sterben und den Tod – kurz: Über Themen, die wir sonst nur ungern so nah an uns heranlassen. Zu unangenehm ist es, sich mit den Schattenseiten dieses Lebens auseinanderzusetzen, zu schmerzlich sich mit dem Scheitern, dem Sterben oder gar dem Tod zu beschäftigen.

Dabei vergessen und verdrängen wir jedoch, dass wir alle in unserem Leben an einen Punkt kommen können, an dem wir auf die Hilfe anderer angewiesen sein werden, einen Punkt, an dem wir vielleicht selbst scheitern und straucheln. Denn die scheinbare Sicherheit, in der wir uns oft wiegen, ist nicht so gefestigt, wie wir meist glauben.

Ob es nun eine gescheiterte Liebe, eine schwere Krankheit, der Verlust des Arbeitsplatzes, eine weggebrochene Existenzgrundlage bei einem Unternehmer oder eine Alkoholabhängigkeit ist: Es gibt viele Gründe, warum Menschen in ihrem Leben scheitern. Doch gerade dann sind wir froh, auf Leute zu treffen, die uns mit Verständnis, Akzeptanz, Wärme und Mitgefühl begegnen, Menschen, die uns helfen, aufzustehen und uns dabei unterstützen, wieder „Ja" zu uns und unserem Leben zu sagen.

Herr Weiller, Sie haben das Projekt „… und die Welt steht still. Letzte Lieder“ ins Leben gerufen, für das Sie mit sterbenden Menschen über die Musik ihres Lebens sprechen. Wie sind Sie darauf gekommen?

Das ist mit einer sehr persönlichen Erfahrung verbunden. Vor einigen Jahren war ich als Lokaljournalist in einem Hospiz eingeladen. Es war für mich das erste Mal, dass ich ein Hospiz betreten habe. Ich erinnere mich noch gut an meine Gefühle, die von manchen Klischees geprägt waren. Ich dachte, es sei ein ganz dunkler, deprimierender Raum und hab mich gefragt: „Wie kann man den Menschen dort begegnen? Wie kann man überhaupt ein Gespräch mit einem Menschen am Lebensende führen?"

Zu meiner Überraschung fand ich das Hospiz in Wiesbaden sehr offen und lebendig. Ich durfte dort eine Frau kennenlernen, die ein großer Schlagerfan war und ihr Leben biografisch mit Musik verknüpft hat. Ich erinnere mich daran, dass die Tür aufging und es erklang „Immer wieder sonntags“ von Cindy und Bert. Und ich dachte: „Okay, das ist eigentlich nicht das, was ich erwartet habe." Aber gleichzeitig stellte ich durchaus mit Freude fest, was es mit meinem Gefühlen machte. Denn bei Cindy und Bert kann man nicht gut traurig sein, das geht einfach nicht.

Über zweieinhalb Stunden haben wir uns unterhalten, sie hatte Spaß am Erzählen und es gab sehr viele Musikgeschichten, die sie mir mitgegeben hat. So sind wir durch die 70er, 80er und 90er Jahre gereist, immer am Schlager entlang und quer durch ihr Leben. Als ich dann aus dem Hospiz nach Hause fuhr, dachte ich: „Diese Erfahrung kann ich unmöglich in einem kurzen Zeitungsartikel verarbeiten. Ich möchte daraus ein Projekt machen und mich auf musikalische Spurensuche begeben – durch Hospize zu Menschen in ihrer letzten Lebensphase." Aus dieser Idee entstand schließlich das Projekt.

Ich arbeite selbst als Hospizhelferin und habe die Erfahrung gemacht, dass Gespräche mit sterbenden Menschen immer sehr emotional und berührend sind. Wie haben Sie Ihr erstes Gespräch – Sie haben ja schon von der Frau mit den Schlagern erzählt – erlebt? Was war das für eine Frau, können Sie noch daran erinnern, was Sie Ihnen erzählt hat und in welcher Stimmung Sie sie angetroffen haben?

Diese Stimmung war nicht durchgängig heiter. Ich fände das auch einen falschen Ansatz, mit Musik die Situation des Sterbens harmonisieren zu wollen und die ernsthaften, tiefen Themen zu vermeiden. Die Frau hat sehr offen von ihrer Ehe, die nicht funktionierte, erzählt und von der Musik, die sie und ihr Mann gemeinsam gehört hatten. Aber auch, dass es Musik gab, die sie regelrecht aus ihrem Leben verbannt hat. Das für mich vielleicht Erstaunlichste war, dass sie gerade in dieser Lebensphase offen für neue Erfahrungen war – ein Grund, warum sie mich schließlich eingeladen hat. Natürlich hat sie auch von ihren Ängsten erzählt, ins Hospiz einzuziehen. Es gibt ja noch immer den schrecklichen Begriff „Sterbehaus“, doch ein Hospiz ist ganz und gar nicht nur ein „Sterbehaus“, denn es wird darin gelebt bis zum letzten Moment.

Für Menschen, die in ein Hospiz ziehen, bedeutet es ganz sicher einen tiefen Einschnitt, denn dem geht eine Diagnose voraus, bei der man weiß, dass keine Heilung mehr möglich ist. Ich habe die Frau damals gefragt, was sie mitgenommen hat und sie antwortete: "Die Musik."  Ich wollte auch erfahren, welche Dinge sie zurückgelassen und wie sie den Prozess des Loslassens erlebt hat. Sie hat erzählt, dass sie eine Sammlerin war, die allerlei Reisesouvenirs angehäuft hatte. Es war sehr schwer für sie, das meiste zurückzulassen, gerade auch weil sie keine Angehörigen mehr hatte.

Sie kennen bestimmt das Buch von Elisabeth Kübler-Ross über die verschiedenen Sterbephasen, die Menschen durchlaufen. Ich habe es oft erlebt, dass Menschen, die eigentlich sanftmütig sind, plötzlich „bösartig“ und streitsüchtig wurden, weil sie ihren bevorstehenden Tod nicht akzeptieren wollten. Andere sind sogar „schimpfend in den Tod gegangen", wieder andere wurden überwältigt von ihren Emotionen, mussten oft weinen, weil sie ihren bevorstehenden Abschied akzeptierten und ihnen das Loslassen doch so schwer fiel. Welche Erfahrungen haben Sie im Umgang mit sterbenden Menschen gemacht?

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Als ich die Projektidee entwickelt hatte, habe ich überlegt, ob ich einen Kurs zur ehrenamtlichen Hospizbegleitung belegen soll und mir die Bücher besorgt, die der Markt so anbietet. Doch als ich dann mit dem Stapel Bücher auf meinem Schreibtisch dasaß und mich selbst dabei beobachtete, wie ich versuchte, mir das Sterben zu erklären, wusste ich: "Das ist nichts für mich. Ich möchte vollkommen unbedarft und neugierig in diese Gespräche hineingehen."

Für mich gab es ein sehr eindrucksvolles Erlebnis mit einer Frau von etwa Ende 50 Jahren, die selbst Seelsorgerin war und mich zum Gespräch eingeladen hatte. Am Morgen des vereinbarten Termins hat sie mir mitteilen lassen, dass sie das Gespräch doch nicht mehr führen möchte. Sie spürte unvermittelt einen so heftigen Leidensdruck in sich, dass sie sich für eine palliative Sedierung entschieden hatte. Vermutlich war es eine Mischung aus Angst, nicht wirklich gut kontrolliertem Schmerz, aus Depression und großer Seelennot, die den Impuls für ihren Sinneswandel gegeben hatte. Und vielleicht spielte auch Überforderung eine Rolle, die daraus entstand, dass sie selbst Seelsorgerin war und vieles von dem, was sie in ihrem Leben als wahr und richtig erkannt hatte, nicht mehr stimmte.

All das führte wohl dazu, dass sie für sich die Entscheidung traf: „Ich möchte in den Tod hineinschlafen.“ Mit der palliativen Sedierung werden Menschen in eine Art künstlichen Tiefschlaf versetzt. Ich glaube, in regelmäßigen Abständen werden die Patienten geweckt und gefragt, ob sie wieder wach sein möchten oder ob dieses Verfahren fortgesetzt werden soll. 14 Tage nach diesem Telefonat erhielt ich aus demselben Haus wieder einen Anruf: „Die Frau ist wieder wach und sie möchte mich jetzt sprechen.“

Ich habe den Termin wahrgenommen und es war eine ganz tiefgreifende Erfahrung für mich, zu erleben, wie diese Frau sich mit dem, was bleibt und mit dem, was kommt, auseinandergesetzt hat. Sie hat sehr offen von ihren Konflikten erzählt und stellte sich die verzweifeltste und ergebnisloseste Frage überhaupt, wenn es ums Sterben geht, nämlich: "Warum?" Diese Frage ist nie zu beantworten. Über die Erkenntnis, dass sie keine Antworten mehr fand, fasste sie auch den Entschluss, sich für Begegnungen zu öffnen und wieder bewusst am Leben teilzunehmen – bei aller Traurigkeit, bei allem Schmerz, der damit verbunden war.

Man muss dazu sagen, dass sie einen großen unerledigten Konflikt mit ihrem Sohn hatte, der sein Leben so ganz anders gestaltet hat, als sie es sich erhofft hatte. Lange hat sie auf ihn gewartet, und gehofft, dass sie ihn noch einmal sehen würde. Sie sah ihn nicht mehr und starb zwei Tage nach unserem Gespräch.

(Schade…)

Ja. Aber ich habe gelernt, dass es manchmal auch gut ist, zu seinem Leben, so wie man es gelebt hat, Ja zu sagen. Ganz versöhnt zu sein, mit allen offenen Fragen, mit allen unlösbaren Konflikten und sich nicht dem Druck auszusetzen, die Harmonie in den allerletzten Winkel des Daseins drücken zu wollen. Letztendlich bleibt man auch im Sterben man selbst. Das finde ich sehr tröstlich: Dass man nicht an der Garderobe des Hospizes seine Persönlichkeit abgibt und durchlässig und empfänglich für jede Form von Versöhnungsfreude wird. Ich finde es nur aufrichtig, wenn Menschen sagen: „Das war mein Leben und ich nehme es genauso an.“ Und das war bei ihr letztendlich auch der Fall. Aber die Hoffnung, vielleicht noch manches erreichen zu können, die blieb.

Was sie nicht wissen konnte: Ihr Sohn war später beim Konzert und hat mit mir Kontakt aufgenommen und mich um die Geschichte gebeten. Ich glaube, dass da eine Aussöhnung stattfand, im Jenseits dieses irdischen Gestaltungsraumes. Das finde ich vollkommen gut, weil ich weiß, dass es viele gläubige Menschen beruhigt zu wissen, auf dieser Welt nicht alles schaffen und zu Ende bringen zu müssen.

In Hamburg hatte ich noch eine extreme Begegnung mit einem Mann, der mich mit dem Statement empfing: „Musik ist Sch… und vielleicht ist auch das Projekt Sch…“ Woraufhin ich ihn gefragt habe: „Warum wollen Sie trotzdem mit mir sprechen?“ „Ja“, antwortete er,  „das mache ich für meinen 14-jährigen Sohn, und mein Sohn soll wissen, dass sein Vater …“ Einen Satz, den er nie vollendete. Im Laufe unseres Gespräches hat er immer wieder betont, dass das Schönste und Wichtigste für ihn die Stille sei – wenn man sie aushält.

Stefan WeillerStefan WeillerFoto: Lena Obst

Eine zusätzliche Herausforderung bei dieser Begegnung für mich war, dass auch ein Kamerateam zugegen war. Die Fernsehjournalistin sagte mir am Ende des Gespräches: „Das können wir für unser Projekt nicht verwenden.“ Ich jedoch habe diese Geschichte trotzdem erzählt und sie auf meinen Youtube-Kanal gestellt, weil ich damit zeigen wollte: In der Begegnung mit Menschen muss nicht immer das pure Einvernehmen bestehen. Wenn jemand an diesem Tag fühlt: „Musik ist Sch…“, dann ist das so und es ist ok.

Ist es denn bei dieser Äußerung geblieben?

Später hat der Mann noch gesagt: „Rockmusik mit Drogen ist ok“. Auch einen Straßenmusiker, der ohne Bestellung ins Leben eindringt, fand er akzeptabel. Aber im Großen und Ganzen blieb er dabei und hielt ein Plädoyer für die Stille, die viel wichtiger sei, als alles andere. Und die Begegnung mit Menschen sei das Allerwichtigste überhaupt.

Was glauben Sie, war der Grund dafür, dass ihm Stille so wichtig war? Womit hat er sich in seinem Leben beschäftigt?

Der Mann hatte einen großen Tumor am Hals, der sehr schmerzhaft war, und man sah wie er litt. Seine Familie lebte weit weg. Er hoffte seinen Sohn noch einmal sehen zu können. Das Hospiz hat viel Zeit aufgewendet, um das möglich zu machen. Der Mann hat durchgehalten, bis sein Sohn es tatsächlich geschafft hatte, zusammen mit seiner Mutter nach Deutschland zu kommen. Zwei Tage nach deren Ankunft ist er dann verstorben. Ich glaube, er wollte seinem Sohn mitgeben, dass man in jeder Phase seines Lebens etwas gestalten und erreichen kann.

(Eine berührende Geschichte.)

Die Australierin Bronnie Ware hat über ihre Erfahrungen, die sie bei der Pflege und Begleitung sterbender Menschen gesammelt und über die Dinge, die sie am meisten bereuen, ein Buch geschrieben. Haben sich  in Ihren Gesprächen auch Themen herauskristallisiert, die sterbende Menschen bereuen und welche waren das?

Nein, solche Erkenntnisse hatte ich nicht. Ich finde es auch sehr schön, dass ich eigentlich immer weniger weiß, je mehr Menschen ich treffe. Und ich bin sehr froh, dass ich meine Gespräche nicht unter dieser Last führen muss. Bei mir ist es viel alltäglicher. Das betont auch noch einmal, dass ich diese Lebensphase eben als Leben begreife und nicht als die große Zeit der Bilanz, oder reumütigen Abrechnung. Manche Menschen vermuten einen gewissen Erwartungsdruck vor der Begegnung. Und es kam auch schon mal vor, dass jemand zu mir gesagt hat: „Ich hab jetzt soviel nachgedacht, ob ich eine Lebensweisheit für Sie habe, aber ich muss Ihnen gleich sagen, die habe ich nicht.“ Das fand ich wunderbar erleichternd, denn auch ich hätte sie nicht.

Welche Rolle spielte die Liebe im Leben der Menschen, mit denen Sie gesprochen haben?  

Die größte. Sie ist der Motor, der uns treibt. Es geht nicht ohne die Liebe.

Haben Sie eine besonders berührende Geschichte dazu gehört?

Es gab eine Begegnung in diesem Jahr, die ich sehr anrührend fand. Ich traf ein Ehepaar aus Kroatien, das über 50 Jahre zusammen war und im selben Zeitraum eine Krebsdiagnose bekam.  Bei ihr verlief die Krebserkrankung weitaus schneller als bei ihm. Der Mann erzählt mir dann: "Stellen Sie sich vor, wenn wir in Kroatien in unserem Haus sind, dann will sie heim und wenn wir in Deutschland in unserem Haus sind, dann will sie heim. Immer will sie heim.“

Was ich so bewegend fand, war, dass der Mann so viel geweint hat und die Frau zu mir sagte: „Machen Sie doch was, dass er nicht mehr weint.“ Ich hab ihr geantwortet: „Es ist doch eine wunderbare Liebeserklärung, dass er so weint. Er braucht das doch vielleicht jetzt auch.“

Beide haben mir eine unglaublich rührende Geschichte erzählt und  gingen sehr liebevoll miteinander um. Irgendwann hat der Mann gesagt: „Jetzt stirbt sie, mein Mädel, ach wenn wir doch nur mehr Zeit hätten …“ Bei allem Schmerz und aller Ernsthaftigkeit hatte diese Begegnung auch viele komische Momente: Beide waren leidenschaftliche Tänzer, er allerdings leidenschaftlich schlecht und sie hat es immer gern ertragen, wenn er ihr auf den Füßen stand. All das, was sie mir erzählt haben, brachte die Erinnerung an eine große Liebe zurück.

Wie häufig haben Menschen von einer großen Liebe berichtet?

Beim Nachdenken über die große Liebe fällt mir auf, wie leichtfertig ich mit diesem Begriff um mich werfe. Was ist eigentlich die große Liebe? Und wann wissen wir, dass es die „große“ Liebe ist?

Ich habe ein Projekt mit obdachlosen Menschen, deren großes Thema Einsamkeit ist. Lieben zu dürfen, ist bereits ein so großes Geschenk, dass man gar nicht immer das große Feuerwerk der großen Liebe braucht. Rauschhafte Liebe würde sowieso niemand aushalten. Ich glaube, es ist ganz gut, wenn man den Alltag miteinander erlebt und seine Zuneigung zueinander leben kann. Das ist etwas, das viele Menschen, mit denen ich gesprochen habe, auch erlebt haben. Manche haben allerdings auch Schlimmes erlebt. Ich hab eine Frau kennengelernt, die sich für das Projekt das Lied ihrer Scheidung gewünscht hat.

Sie hat mir erzählt, dass sie diese Scheidung in den 70er Jahren vorangetrieben hat, als Gerichte noch über böswilliges Verlassen geurteilt haben und es dazu führen konnte, dass man das Sorgerecht für sein Kind verlor. Und sie hat es gewagt, sich in dieser Zeit zu trennen, um das Glück zu suchen, das sie in ihrer Ehe nicht fand. Ihr Mann, so hat sie mir erzählt, kam nicht einmal zu dem Termin, bei dem im Gericht über das Sorgerecht entschieden wurde. Als geklärt war, dass sie ihre Tochter behalten darf, war sie überglücklich. Ihre Wunschmusik war der Gefangenchor aus Verdis Oper "Nabucco", weil sie dabei  spürte, dass sie erst jetzt bei sich selbst angekommen und frei war. Und so hat sie einen leidenschaftlichen Appell an alle Menschen gerichtet: „Lebt euer Leben in der Verantwortung für euch selbst und macht euch frei!“

Begegnet Ihnen das Thema Freiheit häufiger als die Liebe?

Nein. Persönlich weiß ich, dass Liebe ohne Freiheit nicht möglich ist.

Haben Sie je das Gefühl gehabt, dass Sie Ihre Gespräche mit sterbenden Menschen so sehr mitnehmen, dass Sie sich einfach nicht mehr abgrenzen und es nicht mehr aushalten können?

Nein. Es gibt Geschichten, die mich tief beschäftigen und in meine Gefühlswelt vordringen. Ich bin nicht stumpf und abgehärtet, aber ich wünsche mir einen professionellen Umgang, sonst könnte ich das nicht machen. Sonst könnte keiner im Hospiz arbeiten, auch Sie nicht.

(Ja, wobei ich schon einmal das Gefühl hatte, dass ich es nicht weiter machen kann – weil mich das Erlebte einfach nicht mehr losließ … Das Gefühl kenne ich durchaus.)

Wenn ich länger darüber nachdenke, gibt es auch bei mir einen Fall, der mich sehr mitgenommen hat. Es war eine Begegnung, die für mich so wichtig war, dass sie mein Leben verändert hat. Es war eine Frau Ende 40, die den Spieß umdrehte und mir Fragen stellte. Sie fragte mich, ob ich meinen Job hasse, dann soll ich ihn kündigen, ob es Menschen gibt, die nicht gut für mein Leben sind, dann soll ich mich von diesen Menschen trennen, ob es Orte gibt, die ich immer besuchen wollte, dann soll ich reisen …

Sie selbst hatte eine Liste mit Dingen, die sie in ihrem Leben erleben wollte. Für mich waren mehrere Verbindungen zu ihr besonders markant, beispielsweise dass sie wie ich aus der Südpfalz stammte und dass sie  dort  begraben werden wollte – ich verstand ihr Sehnsuchtsbild, das sie mit ihrer letzten Ruhestätte verband. Wir hatten im selben Zeitraum Karten für die Salzburger Festspiele, für einen Opernabend mit Cecilia Bartoli. Sie musste die Karte zurückgeben. So gab es vieles … Sie war unwesentlich älter als ich. Die Begegnung mit ihr hat mich so beschäftigt, das Gesagte hat mich so geprägt, dass ich vieles von dem umgesetzt habe, was sie nicht gemacht hat.

Auch in mir gab es die Zwänge des Alltags, die Arrangements, die man eingeht, weil man immer denkt, na ja, das mache ich später. Ich habe meinen Job gekündigt, ohne ihn je gehasst zu haben, ich wollte einfach etwas anderes machen. Ich wollte mich Vollzeit meinen Projekten widmen können, was finanziell bislang nur mithilfe meines Lebensgefährten möglich ist. Ich habe tatsächlich mein Adressbuch angeschaut, und mich gefragt, bei wem ich denn schon fast Angst habe, ans Telefon zu gehen, weil wir uns momentan so wenig zu sagen haben. Und ich bin dieses Jahr auch nach Island gereist, was ich immer schon machen wollte.

Später habe ich erfahren, dass diese Frau sehr schwer gestorben ist, weil sie nicht alles auf ihrer Liste geschafft hatte. Sie hatte Kinder, die noch sehr jung waren – Teenager. Es gab so vieles, was noch unerledigt war. Und sie konnte einfach nicht sagen: "So ist es jetzt!" Ich habe aber auch schon junge Menschen getroffen, die sagen konnten: "Besser ein toller Kurzfilm als ein  schlechter langer Spielfilm."

Reden wir doch einmal über die Musik: Welche Lieder haben die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, am häufigsten genannt? Womit und mit welchen besonderen Momenten ihres Lebens verbinden sie die Musik, von der sie Ihnen erzählt haben?

Kinderlieder werden am häufigsten genannt. Es ist wohl die Musik, die wir ohne sie zu hinterfragen am häufigsten in den Familien kennenlernen. Sie bedeuten Menschen auch in der Zeit, in der sie sterben müssen, sehr viel. „Weißt du wieviel Sternlein stehen“ und „Der Mond ist aufgegangen“ sind zwei der Klassiker, die den Menschen in dieser Phase Trost spenden. Das Kirchenlied als Trostgeber verändert sich gerade. Ich glaube, dass wir hier einen Wandel, eine Hinwendung zur Popkultur erleben. Die Texte eines Herbert Grönemeyer werden von manchen sehr viel besser verstanden als Erwartungen, die im Kirchenlied geschildert werden.

Wie häufig wird der Schlager genannt? Sie haben ja anfangs die Geschichte dazu erzählt. Kommt das öfter vor?

Ja, immer wieder. Gerade bei Menschen, die in den 70er Jahren junge Erwachsene waren. Der Schlager hat wohl den Vorteil, dass er so wunderbar sinnentleert daher kommt und von der heilen Welt erzählt. Darum kann man ihm durchaus häufiger in dieser Situation begegnen, weil man ja auch nicht den ganzen Tag im Bett liegen und sich auf das Sterben konzentrieren  kann . Dann ist Schlager ganz willkommen, weil man damit Dinge an sich heranläßt, die leichter sind, die mehr dem Leben, dem Jetzt zugewandt sind, als sich immer mit substanziellen Fragen zu beschäftigen: "Wer bin ich? Wer war ich? Was ist meine Seele? Gibt es Gott?" Das kann man nicht 24 Stunden am Tag aushalten. Es ist gut, wenn Menschen sich eine gewisse Leichtigkeit bewahren und trotzdem die Tiefe nicht aufgeben. Man kann nicht immer im Bewusstsein des eigenen Todes leben.

Ich habe einige Zeit einen jungen Mann begleitet, der an ALS erkrankt war. Bis zuletzt hat er die Hoffnung auf ein Wunder und auf Heilung nicht aufgegeben. Haben Sie das in Ihren Gesprächen auch erlebt, dass Menschen bis zuletzt diese Hoffnung hatten?

Die Hoffnung auf Heilung habe ich im Hospiz bisher nicht angetroffen. Eher die Hoffnung auf eine gute Zeit, darauf, dass man schöne Tage oder vielleicht sogar Wochen erleben kann – dieser Hoffnung bin ich oft begegnet.

Und wenn Menschen ihr Sterben akzeptiert haben, was hilft ihnen Ihrer Erfahrung nach, die Sie in Ihren Gesprächen gewonnen haben, ihren Frieden zu finden?

Ich freue mich über die Menschen, die ihren Frieden mit ihrem Leben, so wie es war, gemacht haben. Menschen, die nicht mehr hadern und sagen: „Da kommt jetzt nichts mehr und das ist völlig in Ordnung.“ Ich freue mich aber auch über die, die sagen: „Da kommt noch etwas und ich bin neugierig darauf!“ Im Einvernehmen mit sich selbst sterben zu können, das gelingt den meisten, und das finde ich sehr tröstlich.

Sie haben ja bereits erzählt, dass das Gespräch mit einer Frau vieles bei Ihnen in Gang gesetzt und Veränderungen bewirkt hat. Was nehmen Sie für sich ganz persönlich aus den Gesprächen, die Sie geführt haben, noch mit?

Dass es das gute Sterben gibt, nämlich mein eigenes. Ich weiß nicht, wie ich es machen werde, aber es wird mir gelingen wie es jedem gelingt. Ich brauche vorher nichts zu lernen, es gibt keinen Leitfaden, ich muss nichts einhalten. Ich muss nur bis zum Ende ich selbst bleiben. Und dass Hospize diesen Freiraum ermöglichen und dazu beitragen, dass Menschen in Würde sterben dürfen, ist schön.

In den Nachrichten sehe ich oft Menschen, die elend sterben müssen – im Krieg oder im Terror. Ich hoffe, dass wir in einer stabilen Gesellschaft leben können, die uns allen  ein würdevolles Sterben möglich macht, einen Abschied, bei dem ich sagen kann: „ Das war mein Leben und es war gut, es gehabt zu haben.“ Überhaupt: Abschied kann etwas wundervolles und kostbares sein – bei aller Traurigkeit.

Haben Sie sich durch dieses Projekt verändert? Oder würden Sie überhaupt sagen, dass dieses Projekt Sie verändert hat?

Ich hoffe, dass ich gelernt habe, besser zuzuhören. Diesen Eindruck werden Sie jetzt gar nicht haben, weil ich die ganze Zeit nur geredet habe. Ich hoffe, dass ich die richtigen Fragen stelle und ich hoffe, dass ich im richtigen Moment das Schweigen aushalten kann.

Was ist es, das für Sie ganz persönlich „wirklich zählt im Leben“?

Freiheit ist das Wichtigste – und grundlegend für alles weitere. Der Rest findet sich. Die Freiheit, gerade als schwuler Mann mein Fühlen und mein Lieben leben zu können. Das ist wunderbar, dass das heute gelingt.

Sie haben ein weiteres sehr interessantes Projekt mit dem Titel „Die schöne Müllerin“, in dem Sie sich mit unerfüllter Liebe sozial benachteiligter Menschen auseinandersetzen. Was hat Sie zu diesem Projekt inspiriert?

Es gibt ein Vorgängerprojekt, die "Deutsche Winterreise", für die ich mittlerweile über 380 Einzelinterviews mit Obdachlosen, mit Frauen in Frauenhäusern und Flüchtlingen geführt habe. Hier frage ich nach den Gründen,  wie es passieren kann, dass jemand aus allen sozialen Bezügen heraus fällt. Immer wieder wurden mir hier Liebesgeschichten als Ursache dafür erzählt, dass jemand infolge einer Trennung oder Scheidung an gefestigten, gesicherten Strukturen nicht festhalten konnte, seinen Job vernachlässigte oder krank wurde.

Die Liebe ist eine so große, mitunter eben auch destruktive Kraft, wenn sie nicht erwidert wird oder wenn sie verloren geht, wenn sie scheitert, oder wenn jemand stirbt – das hat mich immer sehr bewegt. Dazu kam der Gedanke – in Anlehnung an Franz Schubert und Wilhelm Müller – mich dem anderen Zyklus zuzuwenden, die „Schöne Müllerin“, in dem es darum geht, dass ein Mensch sehr liebt, aber damit alleine bleibt. Die Liebe wird nicht erwidert, sie gelingt nicht. Und es interessierte mich insbesondere die Rolle der Müllerin in diesem Liederzyklus, also schaute ich verstärkt auf die Rolle der Frau. Ich habe mir Fragen gestellt wie: "Was macht die Liebe mit uns? Wie können wir uns rückversichern? Gibt es ein Netz, einen doppelten Boden?" Nein, natürlich gibt es das nicht, wenn wir lieben! Also habe ich weiter gefragt: "Welche Strukturen braucht es, damit wir nicht ins Bodenlose fallen?" Die schöne Müllerin ist ein Projekt, das ich sehr sehr liebe.

(Das hört sich sehr spannend an…)

Das ist es. Es gibt ganz harte Brüche im Leben der Menschen, von denen ich erzähle: Angefangen vom Wunder des ersten Kennenlernens bis hin zu finstersten Nächten in einem Hofeingang oder einer Abbruchbaustelle. Das ist faszinierend und erschreckend zugleich.

Sie haben von etwa 380 Einzelinterviews gesprochen, die Sie geführt haben. Gab es darunter ein Gespräch, das Sie am meisten berührt hat?

Jede Geschichte ist für sich sehr markant, einzigartig. Ich könnte Ihnen so viel erzählen, beispielsweise von der Frau aus Hamburg, die nach fast 30 Jahren Ehe von ihrem Mann verlassen wurde und dann zu allem Unglück auch noch eine schwere Krankheit bekam, ein Aneurysma im Gehirn, sich im Krankenhaus und in der Reha wiederfand und den sozialen Kontakt zu Freunden völlig verloren hat. Durch diese Erkrankung hat sie einen Teil ihrer Schädelplatte verloren. Als ich mit ihr gesprochen habe, lebte sie bereits seit einiger Zeit auf der Straße. Ich war der Erste, dem sie gesagt hat, dass sie in diesem Zustand, also ohne Schädeldecke, auf der Straße schläft. Sie trug ihr Haar kunstvoll wie einen Vorhang nach vorne gekämmt, und hat zu mir gesagt: „Halten Sie sich fest, schnallen Sie sich an, ich zeige Ihnen jetzt etwas.“ Dann hat sie ihr Haar zurückgelegt, und man sah, dass ein großer Teil des Schädelknochens fehlte. ich musste tief durchatmen. Sie hat mich aber beruhigt, es sei wie Leder und die Haut sei nicht einfach durchlässig.  

Ich habe darum gebeten, dass ich einen Sozialarbeiter ins Vertrauen ziehen darf. Sie hat zugestimmt und verbrachte keine Nacht mehr auf der Straße. Das fand ich sehr bewegend, weil diese Frau in allerbestem Sinne konservativ und gut bürgerlich war. Alles, was sie tat und erduldete, geschah aus diesem Anspruch heraus: „Hilf dir selbst, denn du kannst nicht erwarten, dass andere etwas für dich tun, sondern du musst es selbst tun.“ Deshalb hat sie sich niemandem anvertraut und keine Hilfe angenommen, die zur Verfügung gestanden hätte. Es war eine Begegnung, die ich nie vergessen werde.

Sie haben ja bereits angedeutet, wodurch Menschen auf der Straße landen können – beispielweise durch eine zerbrochene Beziehung. Wodurch sind die Menschen, die Sie interviewt haben, noch ins soziale Abseits gedriftet?

Die Wege, die an den gesellschaftlichen Rand führen, sind vielfältig. Aber es gibt Kettenreaktionen, durch Arbeitsplatzverlust, wenn man nicht mehr Tritt fassen kann, auf dem ersten Arbeitsmarkt, wenn man mit wenig Geld auskommen muss. Wir wissen ja genau, dass Hartz-IV zum Leben nicht ausreicht. Es gibt Verschuldungssituationen. Viele Männer sind darunter, die den Idealen unserer leistungsorientierten Gesellschaft nicht gerecht werden konnten, auch psychische Krankheiten sind oft eine der Ursachen. Ich hab Menschen kennengelernt, die sich für ihre Depression sehr schämten, manisch-depressive Menschen, die sich – als ihnen bewusst wurde, was sie in ihrer manischen Phase ausgelöst hatten – zurückzogen, teilweise sogar die Stadt wechselten. Versagen gibt es auch in Strukturen von Sozialarbeit.

Aber natürlich gibt es viele weitere Gründe, warum Menschen in der Obdachlosigkeit landen. Dazu gehört das Scheitern in einer Konsumgesellschaft, aber auch Kaufsucht und Spielsucht – und Alkohol. Wir reden viel zu wenig über Alkoholmissbrauch. Ich denke da an eine Frau, die ich in Karlsruhe kennengelernt habe. Sie war sehr lange abhängig und hat es schließlich geschafft, auf Alkohol ganz zu verzichten. Immer wieder hat sie  von der ArbeitsagenturJobs angeboten bekommen, die sie annehmen musste. So manches Mal musste sie hinter dem Tresen arbeiten, und hat sehr gelitten. Sie wollte aber auch nicht jedem sagen, dass sie süchtig ist und den Geruch kaum aushalten kann. Derart absurde Situationen werden mir oft geschildert.

Gab es etwas, was sich die Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, am häufigsten wünschten?

Das größte Problem war die Einsamkeit. Ich will niemanden aus der Verantwortung nehmen, man muss natürlich auch selbst ein Angebot machen können. Aber wer soweit abgerutscht ist, dass er nicht weiß, wo er heute Nacht schlafen wird, von dem kann man nicht fordern "Jetzt reiß dich mal zusammen!" Das wäre zynisch. Es ist eine Notfallsituation. Da müssen wir helfen ohne zu fragen, warum.

Warum bleibt ihr Wunsch nach Liebe meist unerfüllt?

Auf der Straße sind Beziehungen selten und schwierig zu führen. Ein Mann hat mir vor einigen Wochen erzählt: "Wenn man sich auf der Straße begegnet und man würde miteinander eine Beziehung probieren, ist die Hemmschwelle so gering, sich wieder zu trennen, weil man keinen Hausstand aufzulösen hat." Das fand ich – bei aller Bitterkeit – durchaus humorvoll.

Mitunter treffe ich jedoch auch Beziehungen an. Es ist allerdings schwer, einen Raum für sich selbst zu haben. Sexualität ist ohnehin etwas, das Menschen auf der Straße so nicht leben können. Ein Mann aus Aachen hat mir erzählt, dass allein die Vorstellung von Sex in einer öffentlichen Toilette ein Lustkiller sei.  Vor kurzem habe ich einen schrecklichen Satz gelesen, der mich sehr nachdenklich gestimmt hat: „Liebe ist ein Mittelstandsphänomen.“ Natürlich habe ich mich gefragt, ob da vielleicht doch etwas dran ist. Braucht es vielleicht wirklich, um die Möglichkeit der Liebe zu leben und zu genießen, Bedingungen, die man in Extremsituationen nicht vorfindet?

Das ist meine nächste Frage, nämlich ob der unerfüllte Wunsch nach Liebe von Menschen, die am Rand unserer Gesellschaft leben, vielleicht auch darin begründet ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der nur die Menschen „geliebt“ werden, die erfolgreich sind, Menschen, die sich ihren Platz in der Gesellschaft erobert haben – und in der für die Schwachen kein Platz ist?

Ich weiß nicht, ob wir das als gesellschaftliches Phänomen betrachten können, dass immer nur der Erfolg die Liebe begünstigt. Manchmal ist es auch die Not, die Menschen aneinanderschweißt. Aber ich glaube, dass trotzdem etwas dran ist: Der Erfolgreiche hat  auf der Suche nach Liebe und Partnerschaft bessere Chancen. Ein junger obdachloser Mann erzählte mir einmal: „Wenn mich jetzt ein Mädel anlacht und wir stellen fest, dass wir uns ineinander verlieben könnten, dann muss ich mich umdrehen und gehen, denn sonst müsste ich zuviel erklären. Was soll ich ihr denn sagen, wenn sie fragen würde, ob wir zu ihr oder zu mir gehen. Dann käme doch alles raus. Darum: Keine Liebe, nicht jetzt.“ Armut ist bei der Partnerwerbung eben nicht sexy.

Eine Frau im Schwarzwald hat mir erzählt, im Zuge ihres sozialen Abstiegs habe sie festgestellt, dass es schwierig wird, ehemalige Freundinnen zu treffen, Einladungen anzunehmen, weil sie es sich nicht leisten kann, einen kleinen Blumenstrauß mitzubringen oder einfach das zu tun, was noch vor ein paar Monaten ihr Leben selbstverständlich ausmachte. Also hat sie sich völlig zurückgezogen und sich selbst aufgegeben. Die vermeintlichen Freunde jedoch haben auch nicht nachgefragt, wollten nicht wissen, warum ihre Freundin plötzlich abtauchte und sich nicht mehr meldete. Auch bei ihr  war eine Trennungsgeschichte die Ursache.

Was müsste sich- aus den Erfahrungen und Einblicken heraus, die Sie in den Gesprächen gewonnen haben – in unserer Gesellschaft im Umgang mit Obdachlosen ändern, damit sie sich wieder mehr als Teil unserer Gesellschaft fühlen, damit sie sich mehr akzeptiert und nicht mehr ausgegrenzt fühlen?

Unsere gesellschaftliche Herausforderung wird es sein, Gerechtigkeit herzustellen. Und das betrifft allgemein die Armutssituation von Menschen – von Obdachlosen bis hin zu Flüchtlingen. Chancengleichheit, gerechte Verteilung von Gütern, Auflösen von sozialen Ungleichgewichten ist unsere Zukunftsaufgabe. 

Ich lernte vor kurzem einen älteren Mann kennen, der Sorgen wegen seiner Krankenversicherung hatte. Als Unternehmer war er privatversichert, aber als er in finanzielle Not geriet, waren seine Krankenversicherungsbeiträge plötzlich zu hoch. Dennoch findet er keine Aufnahme in der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern ist nur über einen Notlagentarif versichert. Das bedeutet, er kann nur im Notfall ärztliche Hilfe beanspruchen. Wenn jetzt darüber diskutiert wird, ob wir Krankenkassen-Karten ausgeben für Flüchtlinge, dann wünscht er sich, dass wir zugleich sagen: "Wer mal privat krankenversichert war und das Leben hat sich anders entwickelt, auch der muss von der Solidargemeinschaft aufgefangen werden.“

Was ist die schmerzlichste Erfahrung, die obdachlose Menschen machen?

Abgeschrieben zu sein, das Gefühl, dass man ihnen nicht mehr vertraut, ihnen nichts mehr zutraut.

Was möchten Sie mit diesem Projekt erreichen?

Ich möchte mit meinen Projekten Fragen stellen, leichte Antworten schwer oder unmöglich machen. Ich freue mich, wenn Menschen aus den Konzerten herauskommen und neue Fragen mitnehmen. Es wird mir zunehmend der Appell wichtiger, einander zuzuhören, empathisch zu bleiben. Wenn Menschen sagen: „Ach, ich kann das nicht mehr hören. Man hört ja nur noch Flüchtlinge, Obdachlose … Ich möchte mich mit etwas Schönem beschäftigen!“, kann ich das zwar respektieren, aber es dennoch nicht akzeptieren. Denn wenn wir unsere Ohren verschließen, verschließen wir unser Herz und riskieren unsere Menschlichkeit.

Welche Rolle spielt die Liebe, der Glaube und die Hoffnung für Ihr Leben?

Die Liebe ist grundlegend. Ohne Liebe wäre unser Leben schwer und traurig. Der Glaube geht bei mir Hand in Hand mit dem Zweifel. Manchmal fühle ich, alles ist gut, und dann wieder falle ich vom Glauben ab. Manchmal macht man weiter, auch wenn man die Hoffnung verloren hat. Ich will nicht aufhören, zu glauben und zu hoffen. Mein Obdachlosen-Projekt "Deutsche Winterreise" endet mit der Aussage: „Es heißt immer, die Hoffnung stirbt zuletzt, das ist falsch. Die Hoffnung ist tot, und ich bin noch da.“

Das macht es mir so schwer, es mir auf dem Blumenteppich der Hoffnung bequem zu machen. Hoffnung wird schal, wenn wir sie uns nur selbst zusprechen. Manchmal muss uns ein anderer die Hoffnung schenken, die wir selbst verloren haben.

Wie möchten Sie anderen Menschen in Erinnerung bleiben?

Wenn die Menschen meines Umfelds sich gerne an die Zeit mit mir erinnern, dann freue ich mich sehr, dann hab ich etwas richtig gemacht.  Und wenn von mir  – wie von den vielen Milliarden Menschen – keine lesbare Spur bleibt, ist das auch in Ordnung.

Alle meine Projekte haben mit Veränderung zu tun. Wenn also doch etwas von mir bleiben sollte, dann am liebsten meine Überzeugung, dass nur der Geist bestehen kann, der Veränderung nicht fürchtet, sondern zum Wohl aller fördert.

Herr Weiller, ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch!

Mehr Informationen über den Förderkreis und die Dokumentationsreihe „Was wirklich zählt im Leben“ finden Sie HIER



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