Nach Schussverletzung: Wahrnehmung von spanischem Soldaten steht auf dem Kopf

Ein Kopfschuss stellte nicht nur die Welt eines spanischen Soldaten auf den Kopf, sondern auch die seines Arztes und der Neurologie fast 100 Jahre später. Bis heute gilt: das Wissen über das Gehirn beruht auf solchen Einzelfällen.
Ein Soldat, der im Spanischen Bürgerkrieg einen Kopfschuss erlitt, überlebte die Verletzung, doch seine Welt stand plötzlich Kopf.
Ein Soldat, der im Spanischen Bürgerkrieg einen Kopfschuss erlitt, überlebte die Verletzung, doch seine Welt stand plötzlich Kopf.Foto: iStock
Von 27. Juni 2023

Es ist die unglaubliche Geschichte eines Veteranen aus dem Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939), die nicht nur seine Welt, sondern auch die von Ärzten auf den Kopf stellte. Der als Patient M bekannte Soldat erlitt 1938 auf dem Schlachtfeld einen Kopfschuss und fiel bewusstlos zu Boden. Der damals 25-Jährige überlebte die Verletzung und wachte zwei Wochen später im Militärkrankenhaus in Godella (nahe Valencia) wieder auf – allerdings stand seine Welt wortwörtlich plötzlich Kopf.

Dieses Ereignis geht aus einer aktuellen Studie hervor, die die Notizen seines behandelnden Arztes Dr. Justo Gonzalo Rodríguez-Leal untersuchte. Fasziniert von den Schilderungen seines Patienten, schrieb der Neurologe jedes Detail auf. So heißt es, dass der Patient kurz nach seinem Erwachen zunächst einmal bemerkte, dass er sein Augenlicht fast verloren hatte. „Mit dem rechten Auge konnte er etwas sehen, mit dem linken jedoch nichts“, heißt es in der Studie. Doch das war noch nicht alles.

11. Februar 1939: Die Stadt Portbou wurde im Spanischen Bürgerkrieg verwüstet. Foto: FPG/Hulton Archive/Getty Images

Ein spiegelverkehrtes Leben

Nachdem sich Patient M an sein schwächeres Sehvermögen gewöhnt hatte, erkannte er weitere Neuheiten bei seinen Sinneswahrnehmungen. So befanden sich Personen und Gegenstände plötzlich auf der gegenüberliegenden Seite seines Blickfeldes, anstatt dort, wo sie sich eigentlich befanden. Diese spiegelverkehrte Wahrnehmung trat auch bei Geräuschen und Berührungen auf.

Außerdem konnte der Soldat Zahlen und Buchstaben sowohl vorwärts als auch rückwärts lesen und sah Dinge oft in dreifacher Ausführung. Weiterhin diagnostizierte Dr. Rodríguez-Leal bei seinem Patienten eine chromatische Störung, bei der Farben von Objekten losgelöst zu sein scheinen.

Patient M konnte „die Zeitung fließend und mit der gleichen Leichtigkeit in normaler Position und auf dem Kopf stehend lesen“ und schaute „aus jeder Richtung auf seine Armbanduhr, um die Zeit zu überprüfen“, berichtet „LiveScience“.

Der Soldat fand es zwar zunächst merkwürdig, Bauarbeiter verkehrt herum auf einem Gerüst arbeitend zu sehen, gewöhnte sich jedoch bald an sein spiegelverkehrtes Leben. Da sich diese Störungen nie auflösten, lebte Patient M bis zu seinem Tod in den 1990er-Jahren mit dieser alternativen Wahrnehmung.

Im Laufe seines Lebens stand der Soldat immer in engem Kontakt mit seinem Arzt Rodríguez-Leal. Der Neurologe erkundigte sich regelmäßig zu den Wahrnehmungsstörungen und dem Gesundheitszustand seines Patienten und gab ihm medizinische Empfehlungen.

Auf den Kopf gestellt

Während seiner Tätigkeit im Militärkrankenhaus von Godella hatte Dr. Rodríguez-Leal die Möglichkeit, weitere Patienten mit Hirnverletzungen zu untersuchen. Dabei stellte er fest, dass all die von ihnen beschriebenen Symptome nicht zu den damaligen Kenntnissen über das menschliche Gehirn passten. Fortan widmete sich der Arzt den Rest seines Lebens mit Leib und Seele der Erforschung der Problematik und entdeckte 35 weitere, teils zivile Fälle, die dem von Patient M ähnelten.

Porträt aus dem Jahr 1938 von Soldaten, die im Spanischen Bürgerkrieg verwundet und in einem Militärkrankenhaus behandelt wurden. Foto: Hulton Archive/Getty Images

Anhand dieser Fälle entwickelte er eine völlig neue Theorie zur Hirndynamik, doch die Neurologie war zu dieser Zeit für neue Ideen nicht empfänglich. So sah das menschliche Gehirn in den Vorstellungen der 1930er-Jahren tatsächlich aus wie kleine Schubladen oder Kästchen. „Wenn man ein Kästchen veränderte, gab es angeblich ein konkretes Defizit. Für den Neurologen konnten die bisherigen Theorien nicht die Fragen klären, die bei Patient M auftauchten“, erklärt Studienautor Alberto García Molina gegenüber der spanischen Zeitschrift „El País“.

Dr. Rodríguez-Leal ließ sich nicht beirren, forschte weiter und stellte schließlich ein neues Konzept zur Dynamik des Gehirns und seinen Funktionen auf, das er in mehreren Büchern veröffentlichte.

Erst in den 1050er-Jahren wurden seine Arbeiten durch die Königliche Nationale Akademie für Medizin und die Spanische Gesellschaft für Psychologie gewürdigt. So wurde er als hervorragender Neurologe gelobt, der den Mut besaß, „die Forschung in bisher unbekannte Bahnen zu lenken“.

Wichtige Erkenntnis für heutige Ärzte

Bis heute wird sein Konzept in der wissenschaftlichen Gemeinschaft teilweise nicht akzeptiert, während viele andere Autoren es als wesentlich ansehen, so die Forscher in ihrer Studie. Gleichzeitig appellieren die Studienautoren, den medizinischen Sonderfällen wieder mehr Gewicht zu geben.

„Im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin haben Einzelfälle nur noch einen geringen Wert, da sie auf der untersten Stufe der Methodenpyramide stehen. Überragt werden sie von randomisierten klinischen Studien und Meta-Analysen. Das Wissen über die funktionelle Organisation des Gehirns beruht jedoch seit Jahrhunderten auf der Untersuchung von Einzelfällen“, so die Forscher anschließend.

Die Studie erschien am 1. April 2023 im Fachblatt „Neurologia“.



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