Über Liebe, Schuldgefühle und das kosmische Ja

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"Jeder von uns eingeladen, diese bedingungslose Liebe auf seine eigene, einzigartige Weise als etwas zu erfahren, das allen gegeben ist." Ruben HabitoFoto: Roland R. Ropers
Von 2. Oktober 2012

Spiritualität ist im Wesentlichen eine innergeistige Erfahrung des göttlichen Ursprungs von Allem, die sich jeder dogmatischen Kontrolle entzieht. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Zen-Buddhismus hat in den letzten 30, 40 Jahren viele Christen veranlasst, ihre „eigene“ spirituelle Tradition, die Praxis des Herzensgebets und der stillen Kontemplation, neu zu entdecken und wertzuschätzen. Ruben Habito, ehemaliger Jesuit und ZEN-Meister, spricht im Dialog aus Anlass seines 65. Geburtstages mit seinem langjährigen Freund Roland R. Ropers über die Früchte dieses interreligiösen Zusammenwirkens.

Ruben L. F. Habito, geboren am 2. Oktober 1947 auf den Philippinen, kam 1970 als Jesuitenpater nach Japan. Habito war Professor für Religionswissenschaften an der Sophia Universität der Jesuiten in Tokio und wurde ZEN-Schüler von Yamada Koun Roshi in Kamakura. Er war der erste Katholik, dessen Erleuchtung von einem japanischen ZEN-Meister anerkannt wurde. Habito ist mit einer deutschen Sinologin verheiratet, ist Vater von zwei Söhnen und ist seit vielen Jahren Professor für Religionswissenschaften und spirituelle Traditionen in Dallas/Texas.

Roland R. Ropers: Alle religiösen Traditionen und heiligen Schriften betonen die Wichtigkeit der Liebe. Liebe kann nicht bloß zu bestimmten Zeiten auf bestimmte Objekte projiziert werden, sondern muss dauerhaft, hier und jetzt erlebt werden. Wie können wir bedingungslose und endlose Liebe im Jetzt erfahren? Welche täglichen Übungen brauchen wir, um Zugang zum göttlichen Urgrund, zur göttlichen Quelle in uns zu finden?

Ruben Habito: Erstens ist jeder von uns eingeladen, diese bedingungslose Liebe auf seine eigene, einzigartige Weise als etwas zu erfahren, das allen gegeben ist – bereits vor unserer biologischen Geburt, von dem anfangslosen Anfang an und über unseren biologischen Tod hinaus; als die Tatsache, die uns zu demjenigen macht, der wir sind.

Die Erfahrung dieser Liebe, dieser kosmischen Umarmung, die unser Sein bedingungslos bejaht, ermächtigt uns, diese Liebe jedem in unserem Umfeld zurückzugeben. Das befähigt uns, einander bedingungslos zu lieben. Stell dir vor, wie unsere Erdengemeinschaft aussehen würde, wenn wir alle in gegenseitiger Liebe leben und wirken könnten! Dadurch könnten wir die tiefen Wunden und zerstörerischen Tendenzen, die unsere globale Gesellschaft kennzeichnen, heilen und überwinden.

In Stille zu sitzen, auf den Atem zu achten, voll da zu sein im Hier und Jetzt, in den Tiefen des Schweigens, ist eine einfache Praxis, die uns für diese kostbare Erfahrung, für das Erhören jener Stimme im Kern unseres Wesens öffnen und unsere Lebensweise transformieren kann.

Ropers: Wie können wir die tragische Trennung von unserem höheren Selbst, von dem Reich Gottes in uns überwinden? Was genau ist da das Hindernis?

Habito: Buddhisten sprechen von den „drei Giften“ – Gier, Hass und Unwissenheit – als den Faktoren, die unsere ursprüngliche Buddha-Natur beflecken, die an sich rein und klar, leuchtend und transparent ist. Die Wurzel dieser drei Gifte liegt in dem mentalen Konstrukt namens „Ich-mein-mich“, das ist unser egohaftes Selbst, das wir in den Mittelpunkt des Universums stellen. Dieses egohafte Selbst fühlt sich unsicher und ohne festen Stand und versucht sich deshalb zu stärken durch Freude, Macht und Besitz (daher Gier). Wenn es das, was es haben will, nicht bekommt, verhält es sich verbittert, feindselig und zornig gegenüber denen, die der Erfüllung seiner Wünsche im Wege stehen (daher Hass). All diese Regungen des egohaften Selbst rühren von einer grundlegenden Unwissenheit bezüglich seiner wahren Natur her, die rein, transparent und wirklich mit anderen verbunden ist.

Christlich ausgedrückt, sind wir alle als Ebenbild Gottes (Imago Dei) geboren und empfangen im Kern unseres Wesens grenzenlose und bedingungslose Liebe, aber diese unsere wahre Natur wird von dem egohaften Selbst verdeckt, das sich in Gier, Hass und Unwissenheit verfangen hat. Diese existenzielle Situation des egohaften Selbst entspricht dem, was Christen „Erbsünde“ nennen – was ein ziemlich irreführender Ausdruck ist, denn das wirklich Ursprüngliche, das wir geerbt haben, ist nicht die „Sünde“ – also der Zustand der Trennung -, sondern das Ebenbild Gottes, das jede und jeder von uns in Wahrheit ist.

Wie können wir das Hindernis der drei Gifte, das im egohaften Selbst wurzelt, überwinden? Die Anweisung des Buddha lautet schlicht: „Kommt und seht“ – auf Pali: ehi passiko. Kehrt zurück zu eurem wahren Selbst und seht mit voller Klarheit und Transparenz. In stiller Meditation zu sitzen, in einer passenden Haltung, achtsam zu atmen und den Verstand zu beruhigen ist ein sehr direkter und abgekürzter Weg, um das Hindernis zu überwinden.

Jesus lud seine Zuhörer ein: „Seht, das Familienreich Gottes ist mitten unter euch!“ Beachte, dass ich hier statt „kingdom“ (Königreich) das englische Wort „kindom“ gebrauche, und damit meine ich jene Seinsweise, aufgrund derer wir alle miteinander als Verwandte einer Familie verbunden sind, durch die Bande von Gottes bedingungsloser Liebe verbunden. Jesus sagte aber auch: „Wer Augen hat, möge sehen. Wer Ohren hat, möge hören.“ Die Praxis der Kontemplation, die ein wichtiges Merkmal unserer christlichen Tradition darstellt, ist ein direkter Weg, um unsere Augen und Ohren für diese Gegenwart des Reiches Gottes in unserer Mitte zu öffnen.

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Ropers: Zum Ja des Kosmos: Auf welcher Erfahrungsstufe wird der riesige Kosmos mich akzeptieren und anerkennen, so wie ich bin? Woran erkennt man das authentische Gefühl des Eins-Seins mit der Schöpfung? Würden Sie das bitte sowohl aus der christlichen als auch aus der buddhistischen Perspektive erläutern?

Habito: Dieses Ja des Kosmos, von dem Sie sprechen, ist eben das Ja, das im Kern unseres Wesens verwurzelt ist. Mir kommt ein Aufsatz von Paul Tillich in den Sinn, der unter dem Titel „Du bist angenommen“ im Sammelband „In der Tiefe ist Wahrheit“ erschien. Tillich macht uns aufmerksam auf diese kosmische Botschaft, die wir aus den Tiefen vernehmen können, eine Botschaft, die dem Ausströmen von Gnade entspringt und die wir nur anzuerkennen und anzunehmen eingeladen sind. Aber das Problem mit uns Menschen besteht darin, dass wir vielleicht nicht demütig genug sind, um zu akzeptieren, dass wir akzeptiert werden, so wie wir sind, und dass wir unseren Selbstwert nicht erst durch Taten oder Lebensleistungen zu beweisen brauchen.

Unser Stolz, ein weiteres Kennzeichen des egohaften Selbst, ist uns im Weg. Wenn wir uns selbst einfach und wirklich in aller Demut so, wie wir sind, mit all unseren Schwächen und Fehlern, aber auch mit all unseren gnadenreichen Begabungen akzeptieren würden, dann könnten wir vielleicht diese zentrale Botschaft, dieses kosmische JA hören, das zu unserem Wesen gesprochen wird.
Als Jesus von Johannes dem Täufer im Jordan getauft wurde, hörte er eine Stimme aus den Himmeln: „Du bist mein Geliebter, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Diese Botschaft ergeht auch an jeden von uns auf einzigartige und besondere Weise.

Als der Buddha an jenem frühen Morgen die Augen öffnete, nachdem er die ganze Nacht unter dem Bodhi-Baum meditiert hatte, soll er ausgerufen haben: „Unter den Himmeln und hier auf Erden bin ich allein heilig.“ Dies ist keine exklusive Aussage, die von dem egohaften Selbst eines gewissen Menschen namens Siddhartha Gautama gemacht wird, sondern dies sagt das Wahre Selbst von uns allen. Wir sind alle eingeschlossen in diese Aussage, die anklingt an den Ausruf des Propheten Jesaja: „Heilig, heilig, heilig!“

Ropers: Ist ZEN Ihrer Meinung nach eine Religion? Auf welcher Tiefenebene treffen sich Christentum und Buddhismus, wo jegliche Unterscheidung ihre Gültigkeit verliert?

Habito: Das ZEN, das ich von meinem Lehrer Yamada Koun Roshi geerbt habe, ist nicht eine Religion, sondern eine konkrete Praxis, die auch eine bestimmte Lebensweise umfasst, die sich darum dreht, die Dinge klar zu sehen und voller Mitgefühl zu lieben. Dies ist ein Geschenk der buddhistischen Tradition, die für die Menschheit noch viele weitere spirituelle Geschenke bereithält.

Ein Christ, der dieses Geschenk empfängt und annimmt, wird dadurch nicht gezwungen, seinen christlichen Glauben und Hintergrund zu verwerfen oder zu verwässern, sondern es hilft ihm, die eigene Tradition mehr wertzuschätzen, und darüber hinaus erhält er eine kraftvolle Methode, um sie mit größerer Authentizität in seinem Leben umzusetzen. Wenn man in der Stille sitzt, verhallen alle Worte, und buddhistische, christliche, jüdische, muslimische, atheistische, marxistische und alle anderen Etiketten werden abgelegt.

Ropers: Bede Griffiths sagte immer wieder: „Jesus Christus ist einzigartig, aber nicht der einzige.“ Wie würden Sie Christus mit dem Buddha vergleichen? Meiner Meinung nach gibt es einen großen Unterschied zwischen dem historischen Jesus von Nazareth und dem historischen Gautama Siddhartha, die im Gipfelpunkt der Erleuchtung als Christus und Buddha aufeinander treffen.

Habito: Es besteht in der Tat ein großer Unterschied zwischen dem historischen Jesus aus Nazareth, den man Christus, den Gesalbten Gottes, nennt, und Siddhartha Gautama, den man als Buddha, den Erwachten, bezeichnet. Wir dürfen die Unterschiede zwischen diesen zwei Figuren nicht herunterspielen, noch die Unterschiede in den Lehren und Praktiken der zwei religiösen Traditionen des Christentums und Buddhismus bagatellisieren. Jesus lebte, starb und stand wieder auf und öffnete für alle Wesen den Weg, um den Christus in uns wiederzugewinnen.

Gautama erwachte und zeigte uns den Weg, um den Buddha in uns wiederzuentdecken.

Ropers: Viele Christen leben in der Hoffnung und dem Glauben, nach dem Tod ins Paradies Gottes einzugehen. Wie kann man solche Gottsucher von ihrer Illusion befreien? Kann die Zen-Praxis dazu beitragen, das Leben in seiner Fülle im jetzigen Augenblick zu erleben, ungeachtet der Polarität von Geburt und Tod?

Habito: Wer kann sagen, dass das eine Illusion ist? Nur wer gestorben und wieder zurückgekommen ist, kann uns sagen, ob dem so ist oder nicht. Aber wirklich bedauernswert ist es, wenn Menschen so leben, als ginge es darum, für das angenommene Leben nach dem Tod Verdienste anzusammeln oder Strafe zu vermeiden, und sie darüber das Leben im jetzigen Moment verpassen, wo wir die Fülle all dessen, was wir sein können, finden können.

Wieder lädt uns Jesus ein: „Achtet nicht auf diejenigen, die euch sagen, Gottes Reich sei hier oder da, denn seht, es ist mitten in euch!“

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Ropers: Ist das eigentliche Leben nicht doch frei von Gegensätzen? Meiner Meinung nach umfasst Leben die Dualität von Geburt und Tod, so wie Liebe die Kluft zwischen der Schöpfung und dem Schöpfer umspannt.

Habito: Das Leben, wie wir es in unserem menschlichen Zustand leben, ist von Gegensätzen gekennzeichnet – gut und böse, richtig und falsch, Liebe und Hass, Geburt und Tod. Authentisches Leben geschieht, wenn wir diese Gegensätze durchschauen können und mit der Weisheit leben, die die Dinge so sieht, wie sie sind, und die in ein grenzenloses Mitgefühl mündet. Ja, Liebe ist, was alle trennenden Mauern überbrückt.

Ropers: Schuld ist für viele Menschen in unserer Gesellschaft ein bedrückendes Problem. Wie kann – wie es im „Preisgesang des Zazen“ von Meister Hakuin heißt – „einmal Samadhi Schuld tilgen“ oder Böses löschen? Wie kann man den unbewussten Mülleimer loswerden? Müssen wir wie Jesus am Kreuz leiden? Wie lautet die Botschaft Jesu für uns Heutige?

Habito: Die Botschaft Jesus ist für uns heute dieselbe wie durch die Zeitalter hindurch, nämlich was Jesus in den Evangelien zu seinen Jüngern sagte: „Kommt und folget mir nach.“ Nun fragt sich: Was heißt es, „Jesus nachzufolgen“, Jesus als den Weg zu akzeptieren? Die Antwort können wir nur finden, indem wir das Leben Jesu mit allen Konsequenzen, die sich daraus für uns ergeben, betrachten. An dieser Stelle möchte ich einige besonders interessante Punkte hervorheben:

Jesus hörte jene Stimme aus den Himmeln, die erklärte:
„Du bist Mein Geliebter, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Markus 1, 11). Auch wir sind eingeladen, jene Stimme tief unten in unseren Herzen zu hören und zu erkennen, dass wir bedingungslos und absolut geliebt werden, so wie wir sind. Indem wir diese Stimme hören, sollten wir in der Lage sein, jene „Schuld“-Gefühle, das geringe Selbstwertgefühl oder den Selbsthass zu durchschauen, die so viele Zeitgenossen belasten und zu destruktivem Verhalten gegenüber sich selbst wie anderen veranlassen. Wie ich vorhin sagte, die Unwissenheit in Bezug auf unser Wahres Selbst – geschaffen als Ebenbild Gottes und geliebt in aller Ewigkeit -, diese Unwissenheit ist es, was Gier und Hass hervorbringt, die drei Gifte, die die Herrschaft Gottes in uns behindern. – Ein einziges Mal jene Stimme zu hören, ein eindeutiges Erlebnis, bei dem die Augen und Ohren unseres Herzens zu dieser Botschaft erwachen, reicht aus, um diese Ursache des Übels in der Welt zu vernichten.

Weil er diese bedingungslose Liebe erfuhr, zeigte Jesus uns den Weg, wie auch wir leben und andere bedingungslos lieben können. Diese Liebe hat ihn dazu gebracht, sein Leben zu geben, bis hin zum Tod am Kreuz. Dieses Kreuz ist heute noch eine Realität, denn wir sehen, wie viele unserer Mitmenschen ungerecht behandelt werden, der Gewalt in allen möglichen Formen und Graden zum Opfer fallen, deren Grundbedürfnisse für ein menschenwürdiges Leben nicht einmal erfüllt werden.

In konkreten Zahlen: täglich sterben etwa 30.000 Kinder unter fünf Jahren wegen Hunger oder Unterernährung. Millionen von Menschen müssen ihre Häuser verlassen, um gewaltsamen Übergriffen auf Leib und Leben zu entkommen, oder sie werden vertrieben und müssen als Flüchtlinge leben; dabei sind sie weiterer Gewalt und Ungerechtigkeit ausgesetzt. Unsere ganze globale Gemeinschaft leidet unter zahlreichen Wunden. Diese Wunden sind die Wunden Christi am Kreuz. Die Einladung, Christus nachzufolgen bis hin zum Tod am Kreuz, ist die Einladung, uns selbst in Solidarität mit und im Dienst an unseren Mitgeschöpfen auf Erden zu geben, damit diese Wunden heilen. Sobald wir diese Einladung annehmen und ihr nachgehen, erschließt sich uns das Leben als etwas ewig Neues.

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Ropers: Wie sehen Sie die Rolle von erleuchteten Menschen in Bezug auf soziales Engagement?

Habito: „Erleuchtet“ zu sein heißt, die Augen zu öffnen für das grenzenlose Reich jenseits von Geburt und Tod und von Zeit und Raum, das ausmacht, „wer ich bin“. Dies ist auch ein Reich, wo man eine innige wechselseitige Verbundenheit mit allen Wesen im Universum erkennt. Die Erkenntnis dieser Verbundenheit, und zwar nicht bloß auf der philosophischen oder begrifflichen Ebene, sondern auf der Ebene der Erfahrung und Transformation, treibt mich an, mich vollständig zu engagieren bei allem was nötig ist, um die Schmerzen und Qualen unserer verwundeten Erde zu heilen. Denn ich sehe ganz klar, dass es meine Schmerzen sind, die gelindert und geheilt werden wollen.

In der buddhistischen Tradition kennt man die Figur der Kuan Yin, die dieses erleuchtete Wesen symbolisiert. Es handelt sich um eine weibliche Figur mit tausend Armen und Händen, die die Hilferufe der leidenden Wesen erhört, indem sie ihnen das passende „geschickte Mittel“ zur Behebung der Ursachen ihres Leidens reicht.

Es gibt ein Gedicht von Miyazawa Kenji, der in den unruhigen Zeiten zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Japan lebte, und das hat den Titel: „Vom Regen unbeirrt“ (Ame ni mo Makezu). Eine Strophe lautet umschrieben: „Wo ein Kind krank ist, geh hin und tröste; wo eine alte Frau auf der Straße eine schwere Last trägt, geh hin und hilf; wo jemand im Sterben liegt, geh hin und sag: Fürchte dich nicht.“

Eine solche Person kann, nachdem sie dieses Reich jenseits von Leben und Tod erkannt hat, von einem Standort innigster Erkenntnis und tiefsten Friedens aus wahrhaftig sagen: „Fürchte dich nicht.“

Ropers: Könnten Sie sich vorstellen, dass das Thema Leben das wichtigste Koan, das größte Paradox ist, das es zu lösen gilt?

Habito: Ich würde es umformulieren und sagen, dass das Thema von Leben und Tod das wichtigste Koan ist. Bei unseren ZEN-Retreats hören wir jeden Abend gegen Ende unserer Sitzmeditation (Zazen) einen Vers, der nach dem Ertönen des Gongs von einem ausgewählten Teilnehmer laut rezitiert wird: „Die Frage von Leben und Tod ist von höchster Wichtigkeit. Die Zeit vergeht so schnell wie ein abgeschossener Pfeil. Sei jeden Augen-blick achtsam. Lass keinen Augenblick unachtsam verstreichen.“

Ropers: Wie kann die Qualität des Dialogs zwischen den Weltreligionen verändert oder verbessert werden?

Habito: Religiöser Glaube ist eine zentrale Dimension des menschlichen Lebens. Er beeinflusst unser Selbstverständnis und die Art, wie wir uns selbst in Bezug zu unseren Mitbewohnern auf dem Planeten Erde und zur gesamten Erdengemeinschaft sehen. Religion kann eine Quelle tiefer Verbundenheit zwischen Menschen sein, aber auch eine Quelle tiefwurzelnder Spaltung. Leider überwiegt Letzteres derzeit im globalen Geschehen, insbesondere seit den unglückseligen Ereignissen vom 11. September 2001 und ihren Nachwirkungen.

An allen Fronten werden erneuerte Bemühungen um den Dialog, um gegenseitige Verständigung und Zusammenarbeit dringend benötigt. Es gibt zahlreiche Initiativen und Aktivitäten in verschiedenen Teilen der Welt, die den Dialog zwischen Angehörigen unterschiedlicher Konfessionen fördern. Sie tragen zu einem besseren, tieferen Verständnis bei und bieten Gelegenheiten zur Zusammenarbeit von Einzelnen und Gruppen, die sonst eher voneinander getrennt bleiben, unter anderem wegen ihrer religiösen Überzeugungen und Praktiken.

Ein Dialog, der sich auf eine gemeinsam gemachte Erfahrung der Stille gründet, bei der wir Menschen uns für eine Begegnung mit dem Heiligen in jener Stille öffnen können, kann die Qualität des Dialogs zwischen Gläubigen aus verschiedenen Religionstraditionen verbessern. In diesem Reich der gemeinsam erlebten Stille können wir anerkennen und akzeptieren, dass, ungeachtet unserer großen Unterschiede, wir alle von jener großen Stimme angesprochen werden, die uns sagt: „Du bist geliebt.“

Indem wir unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment der gemeinsam erlebten Stille richten, werden wir einander als Mitglieder derselben Familie, derselben Erdengemeinschaft akzeptieren und aufnehmen. Diese gegenseitige Akzeptanz ist die Basis für das Zusammenleben und -arbeiten als EINE Familie, statt als Splittergruppen mit gegensätzlichen Interessen, die uns zu gewaltsamen Gedanken, Worten und Taten gegeneinander veranlassen.

Ruben Habito.Ruben Habito.Foto: Mit freundlicher Genehmigung von Ruben Habito

Ruben Habito
ZEN leben – Christ bleiben
O.W. Barth Verlag, 2006



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