Antarktis zu Lebzeiten der Menschheit mindestens einmal teilweise eisfrei

Das Abschmelzen der antarktischen Gletscher wäre nicht nur für die Niederlande verheerend, aber auch nichts „Noch nie Dagewesenes“. Mindestens ein Eisschild in der Antarktis ist bereits vor 5.000 Jahren geschmolzen.
Titelbild
Steine sammeln auf dem Berg Månesigden in Heimefrontfjella, Queen Maud Land. Die glatt geschliffenen Oberflächen zeigen, dass der Berg einst von einer Eisschicht bedeckt war.Foto: Ola Fredin, NTNU
Von 19. April 2023

Sechzig Prozent des Süßwassers der Welt sind in den Eisschilden des Südpols gebunden. Dreißig Millionen Kubikkilometer Eis sind eine schwer zu fassende Zahl. Aber wenn das gesamte Eis der Antarktis schmelzen würde, würde der Meeresspiegel weltweit um etwa 58 Meter ansteigen. Zum Vergleich: Der Alexanderplatz in Berlin liegt – derzeit – 32 Meter über dem Meer.

Entsprechend warnen Klimawissenschaftler vor den Gefahren eines vollständigen Abschmelzens der Pole. Norwegische Forscher entkräften mit ihrer jüngsten Studie jedoch sämtliche Aussagen, die eine noch nie da gewesene Katastrophe prophezeien.

Laut einem Forscherteam um Prof. Irina Rogozhina von der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie (NTNU) ist es noch gar nicht so lange her, dass Teile der Antarktis eisfrei waren: vor etwa 5.000 Jahren – einem geologischen Wimpernschlag.

„In vielen Teilen der Welt wärmer als heute“

Der Eisschild in der Antarktis ist nicht gleichmäßig verteilt oder einheitlich. Im Westen liegen bis zu einer Tiefe von 2.500 Metern große Teile des Eisschildes unter dem Meeresspiegel. Im Gegensatz dazu liegt ein großer Teil des Eisschildes im Osten direkt auf dem Festland. Doch obwohl der Eisverlust in der Antarktis mehrheitlich auf das ozeanbedingte Schmelzen von Schelfeis und das Kalben von Eis zurückzuführen ist, führt Eis, das bereits schwimmt, beim Schmelzen nicht zu einem Anstieg des Meeresspiegels.

Obgleich schwimmende Eismassen empfindlich auf Strömungen oder Temperaturschwankungen reagieren, sind Gletscher an Land weniger anfällig. Doch auch sie bleiben nicht unverändert, wie die Forscher anhand von Untersuchungen in Königin-Maud-Land in der Ostantarktis herausfanden. Die Ergebnisse zeigen, dass sich dieser Eisschildsektor im Laufe der Zeit stark verändert hat und vor einigen Tausend Jahren eine große Eisschmelze stattfand.

Und während gegen Ende der letzten Eiszeit massive Eisschilde Nordamerika, Nordeuropa und das südliche Südamerika bedeckten, war das Eis in der Ostantarktis bedeutend dünner als heute. Die Veränderungen vor 9.000 bis 5.000 Jahren – dem sogenannten Mittleren Holozän – waren für die Forscher „nicht völlig unerwartet“.

Damals schmolzen nicht nur die großen kontinentalen Gletscher – die Alpen waren in dieser Zeit vollständig eisfrei –, sondern auch die Ränder des ostantarktischen Eisschilds in Königin-Maud-Land. „Zu dieser Zeit waren die Sommer in vielen Teilen der Welt wärmer als heute“, so Rogozhina.

Außerirdische Indizien

Wie dünn das Eis zu jener Zeit wurde und wie lange eisfreie Perioden andauerten, lässt sich heute nicht so einfach sagen. Um diese Daten dennoch zu erhalten, wandten sich die Forscher vom Eis selbst ab und untersuchten Gesteine – sogenannter Nunataks – hinsichtlich der Veränderungen durch kosmische Strahlen.

„Nunataks sind Berge, die aus dem Eis herausragen“, erklärte Ola Fredin, NTNU-Professor am Fachbereich für Geowissenschaften und Erdöl. „Wir haben Nunataks besucht und Proben entnommen.“

Nat Lifton sucht vor dem „Cottontop Mountain“ nach Gesteinsproben. Der Pickup dient dem Transport von Mensch und Material von und zur norwegischen Antarktis-Forschungsstation.

Nat Lifton sucht vor dem „Cottontop Mountain“ nach Gesteinsproben. Der Pick-up dient dem Transport von Mensch und Material von und zur norwegischen Antarktis-Forschungsstation. Foto: Carl Lundberg

In diesen Proben suchte das Team verschiedene Isotope von Elementen wie Chlor, Aluminium, Beryllium und Neon, die sich durch kosmische Strahlung verändern. Die Ergebnisse lassen wiederum Rückschlüsse zu, wann und wie lange die Felsen der kosmischen Strahlung ausgesetzt waren. Sprich, wie lange sie unter einer schützenden Eisschicht gelegen haben oder seit wann die Steine [wieder] frei liegen. Fredin vergleicht dies mit einem Peilstab, mit dem man den Stand des Motoröls im Auto messen kann.

Winter an der Küste, Sommer auf den Bergen

„Wir glauben, dass der Eisschild durch einen höheren regionalen Meeresspiegel und wärmeres Wasser, das unter die Eisränder dringt, von unten her auftaute. Dies führte zum Zerbrechen großer Eisberge und beschleunigte die Bewegung des Eises vom Land in den Ozean, was wiederum den Binnenbereich des Eisschildes ausdünnte. Der Prozess ist vergleichbar mit dem, wenn ein Haus an einem Berghang sein stützendes Fundament verliert und bergab zu rutschen beginnt“, fasst Rogozhina die Studienergebnisse zusammen.

Mit anderen Worten, die Ränder sind weggebrochen, woraufhin hin das Eisschild sich schneller bewegte. Das führte seinerseits dazu, dass der Eisschild – in geologisch gesehen relativ kurzer Zeit von einigen Hunderten bis Tausenden Jahren – viel dünner wurde.

Bis heute ist das Eis an den Rändern wieder dicker geworden, wie eine weitere Studie von Forschern um Prof. Fredin zeigt. Auf das Eis im Inneren des Kontinents, wo Bergspitzen durch das Eis ragen und das Land mehrere tausend Meter hoch sein kann, hat dies bislang kaum Auswirkungen.

„Wir haben herausgefunden, dass die Landmassen entlang der Küste von Königin-Maud-Land während der letzten eine Million Jahre zu 75 bis 97 Prozent von Eis bedeckt waren“, so Fredin. „Im Gegensatz dazu [waren] die Berggipfel weiter im Inneren des Kontinents nur 20 Prozent der Zeit eisbedeckt.“

Beide Studien erschienen in der Fachzeitschrift „Nature Communications Earth & Environment“.

Nat Lifton (Bildmitte) und Bergführer Carl Lundberg (oben links) besteigen einen kleinen Nunatak. Foto: Ola Fredin, NTNU



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