Die Natur denkt hierarchisch und präzise

Ein bislang unentdecktes Bauprinzip im Nanometerbereich schützt Knochen vor Brüchen
Titelbild
Die hierarchische Struktur von Knochen ermöglicht schrittweisen Transfer einer Last bis auf Nanoebene. Die gelben Zylinder zeigen mineralisierte Kollagenfibrillen im Längenschnitt, die roten Tafeln stellen Apatitkristalle dar, die innerhalb der Kollagenmatrix der Fibrillen eingebettet sind. Die grünen Bereiche symbolisieren die extrem verformbare Klebeschicht zwischen den Fibrillen. Die Belastung nimmt von dem abgebildeten Gewebe (links) zur Mineralpartikelebene (rechts) im Verhältnis von 12:5:2 ab. (Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung)
Von 30. November 2006

Ein in der Natur immer wieder beobachtbares, oft aber nicht sofort nachvollziehbares Prinzip fassen wir gerne mit dem Spruch zusammen: Die Summe ist mehr als das Ergebnis seiner Teile. Diese Erkenntnis fasziniert und lässt die Wissensdurstigen a` la Faust gerne in tiefere, dem menschlichen Auge unsichtbare Regionen vordringen.

Wieder ein neuer Blick unter die Oberfläche ist Forschern am Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung gelungen, die mit Mineralpartikel auf Nanoebene kleinste Baueinheiten unserer Knochen untersucht haben. Dass Knochen einerseits sehr stabil, gleichzeitig aber auch extrem verformbar sind, ist bekannt und wird beispielsweise beim Bau von Gebäuden kopiert. Harter Beton in Verbindung mit den darin verlegten Eisengittern erhöht die Stabilität, die das spröde Material Beton alleine nicht hätte. Eine Zimmerdecke aus Beton ohne Eisenträger würde unweigerlich einbrechen.

Genauso verhält es sich mit unseren Knochen. Unser gesamter Stützapparat braucht eine gewisse Starrheit, um unser Körpergewicht tragen zu können. Fast wie Knetmasse müssen Knochen aber auch genug Energie schlucken, um nicht schon wie Keramik bei einem relativ harmlosen Sturz zu splittern. Dass Knochen Eigenschaften von Knetmasse und Keramik vereinigt, verdankt er seinem Aufbau: Er besteht zur Hälfte aus dem dehnbaren, faserigen Protein Kollagen und zur anderen Hälfte aus dem spröden Mineral Apatit.

Aber, der ganze Knochen dehnt sich viel mehr als seine einzelnen Fasern, die sich geschmiert von einer dünnen Klebeschicht gegeneinander verschieben. Die Fasern wiederum dehnen sich stärker als die Mineralpartikel, die sie enthalten. Weil die sehr starren Mikropartikel nicht der ganzen Kraft ausgesetzt sind, brechen sie nicht so schnell – der Knochen bleibt somit unversehrt. Und hier kommt wieder eine der geheimnisvollen Komponente unserer Natur ins Spiel und zwar ihr hierarchischer Aufbau. Nach ihm werden jeweils größere Teilchen von kleineren gebildet. Stellen wir uns beispielsweise unseren Körper in seiner wahren Beschaffenheit vor, die wir zwar nicht mit unseren physischen Augen, aber unter dem Mikroskop in starker Vergrößerung sehr wohl sehen könnten. Dann nämlich wäre unser Körper ein sich windendes Gebilde, bestehend aus unzähligen Molekülen, die wiederum aus noch kleineren Einheiten, den Atomen, zusammengesetzt sind. Noch weiter in kleinste Teilchenbereiche vorgedrungen, würden wir sehen, wie sich die Elektronen in großer Geschwindigkeit um die Atomkerne bewegen, vielleicht in ähnlicher Weise, wie die Erde um die Sonne kreist. Ähnlich würde sich sogar ein Tisch – in starker Vergrößerung betrachtet – verhalten, denn er besteht letztendlich ebenso aus Protonen, die von Elektronen umlaufen werden.

Ebenso ist es beim Knochen der hierarchische Aufbau, der es möglich macht, dass eine äußere Kraft nur zu einem Bruchteil auf die Einheiten im Nano- und Mikrometerbereich wirken muss, wie die Potsdamer Wissenschaftler herausgefunden haben. Hohen Druck schlucken erst einmal die weichen organischen Bestandteile, so dass die kleinsten Bauteile, winzige Apatitplättchen, davon nur noch weniger als ein Sechstel spüren. Die Mineralplättchen selber sind starr und spröde und würden schon bei relativ kleinen Belastungen brechen. Die weichen Schichten aus Kollagenfasern zwischen ihnen lassen sich dagegen gut verformen. Mineralplättchen und Kollagenfasern bilden zunächst Fibrillen – Fasern, die ihrerseits in einer extrazellulären Matrix lagern. Diese lässt sich wiederum leichter deformieren als die einzelnen Fasern.

Strukturen im Nanobereich stabiler

Ein weiterer Grund, warum Knochen so stabil sind: Auch die Apatitkristalle halten viel größeren Druck aus als die Eigenschaften des Minerals erwarten lassen. Das liegt an der Größe der Plättchen – sie messen nur wenige Nanometer. Da sich solche kleinen Partikel anders verhalten als Kristalle im Mikrometermaßstab, halten sie zwei bis dreimal höhere Kräfte aus, ehe sie brechen. „Aufgrund der geringen Größe der Partikel bilden sich nicht so schnell Risse“, erklärt Himadri Gupta, einer der beteiligten Wissenschaftler. Dieser verstärkende Effekt war aus den Materialwissenschaften schon bekannt. Die Max-Planck-Forscher haben jetzt erstmals an einem Biomaterial bestätigt, dass kleine Partikel widerstandsfähiger sind als große. In Nanometer-Dimensionen befinden wir uns also schon in einem Bereich, in dem veränderte physikalische Gesetze herrschen.

Die Prinzipien, nach denen Knochen gebaut sind – hierarchische Deformation, Matrixempfindlichkeit und die hohe Stabilität von Nanopartikeln – können Vorbild für neue Materialien sein. Die neuen Erkenntnisse helfen aber auch zu verstehen, welche molekularen Veränderungen Knochen etwa bei einer Osteoporose brüchig machen.                   



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