Digitalisierung und Gehirn: „Was nicht aktiviert wird, wird abgebaut – Use it or lose it“

Lesekompetenz gilt als zentral für den Bildungserfolg. Doch bei vielen hapert es daran. Digitale Medien dürfen das Buch nicht ersetzen, warnen Experten. "Lesen lernt man durch Lesen. Wenn nur noch kurze Nachrichten über kleine Bildschirme gelesen werden, ist das hochproblematisch.“
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"Lesen bildet, daddeln nicht." Oder anders gesagt: Je mehr Computer in der Schule eingesetzt werden, desto weniger lernen die Kinder.Foto: iStock
Epoch Times10. November 2019

Lesen ist das A und O. Lesekompetenz gilt als zentraler Schlüssel zum Bildungserfolg. Aber wie viel Buch muss bleiben und wie digital darf es werden, wenn Kinder lesen lernen?

Eine Frage, die zum bundesweiten Vorlesetag (15. November) in den Fokus rückt. Wissenschaftler machen spannende Beobachtungen, wie das Gehirn reagiert, wenn es den komplexen Vorgang „Buch-Lesen“ meistern soll oder wenn man es digital füttert.

Beim Lesen eines Buches bleibe mehr hängen, es habe auch einen höheren Anspruch, ist der Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer überzeugt. „Beim Bildschirm-Lesen flackert jeder Blödsinn rüber, jeder kann irgendwas schreiben und per Knopfdruck in die Welt senden.“ Er betont:

Lesen lernt man durch Lesen. Wenn nur noch kurze Nachrichten über kleine Bildschirme gelesen werden, ist das hochproblematisch.“

„Lesen bildet, Daddeln nicht“

Und: „Lesen bildet, Daddeln nicht“ – auch elektronische Lehrbücher verführten zum Daddeln, beobachtet der Gründer des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen an der Universität Ulm. Digitale Medien hätten in Grundschulen nichts zu suchen.

Mit Verweis auf Untersuchungen von Wissenschaftlern und Kinderärzten warnt Spitzer: Digitaler Medienkonsum schade im Kindergartenalter der Sprachentwicklung und führe im Grundschulalter zu Störungen der Aufmerksamkeit.

Bei der Lesekompetenz von Kindern in Deutschland hapert es erheblich, wie bei Studien festgestellt wurde. Laut Stiftung Lesen hat jedes fünfte Grundschulkind Probleme beim Lesen. Lernforscherin Katharina Scheiter sagt, dass Kinder und Jugendliche durchaus viel lesen. Das sei ermutigend. „Aber das Leseverhalten hat sich durch die Digitalisierung verändert, auch jüngere Kinder lesen schon digital.“

Lesen im Web ist oberflächlicher

Hirnforscher und Psychologe Peter Gerjets schaut aufs Gehirn. „Digitales Lesen heißt auch multimediales Lesen, mit Hyperlinks, bewegten und interaktiven Grafiken, Animationen – solche digitalen Leseelemente können das Gehirn stark beanspruchen“, erläutert der Experte vom IWM. Das habe sich auch bei Untersuchungen mittels EEG – Stromsignale werden dabei an der Kopfhaut abgelesen – gezeigt. Ein Beispiel: Bei einer Internet-Suchaufgabe beobachten die Forscher des IWM sehr viel Aktivität im Frontalbereich des Gehirns.

„Lesen im Internet ist anstrengender und tendenziell oberflächlicher“, so Gerjets.

Ressourcen, die für ein tiefes Lesen nötig wären, werden leicht durch Klicken und Multimedia verschwendet.“

Das längere Lesen funktioniere am Bildschirm oder Screen nicht so gut wie das Lesen eines Buches. Auch er betont: Das Lesen auf Papier, das Lesen längerer Texte in Büchern sei sehr wichtig. „Das muss unbedingt bleiben. Was man dabei lernt – Konzentration, Gedankengänge länger verfolgen – erweitert das Gehirn.“

Verändert sich unsere Schaltzentrale im Kopf, wenn sie von Kindheit an immer stärker auf digital umschaltet? Der Grundmechanismus des Gehirns ändere sich zwar nicht, die synaptische Struktur aber schon, erklärt Gerjets.

Was nicht aktiviert wird, wird abgebaut. Da ist das Gehirn wie ein Muskel, den man trainieren muss: Use it or lose it.“

Digitale Medien nur als Unterstützung

Bei längeren Texten, die auf dem Handy, Tablet, am PC- oder Laptop-Bildschirm gelesen würden, gebe es Schwierigkeiten, das Gelesene tiefer zu verarbeiten und im Gedächtnis abzuspeichern, erklärt die Psychologin vom Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM) in Tübingen.

Mit den digitalen Medien gewinne man anreichernde Quellen wie Erklärvideos, Bilder, Grafiken, Animationen – ein Plus. „Die große Frage ist aber: Wie bekommen wir das alles gut verknüpft?“ Es bereite Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen Schwierigkeiten, die Inhalte der verschiedenen Quellen einzeln zu verstehen und in Bezug zueinander zu stellen.

Scheiter zufolge sollte die digitale Variante vor allem unterstützenden Charakter haben – sofern sie einen didaktischen Mehrwert habe. Zuhause wie in der Schule müssten Kinder in die digitale Nutzung eingewiesen werden. „Es darf auch im Unterricht nichts ungeleitet geschehen und Schüler dürfen mit dem multimedialen Angebot nicht überfordert werden.“

Eine Chance sieht sie dafür, die Schere zwischen bildungsschwachen und -affinen Familien etwas zu schließen: „Digitale Medien haben für die individuelle Förderung ein hohes Potenzial. Man kann viel besser differenzieren.“ Die Klassen seien sehr heterogen, bedingt auch durch unterschiedliche soziale Herkunft – hier lasse sich digital gut ansetzen. (dpa)

 



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