Harvard-Studie: Satellitendaten deuten darauf hin, dass COVID-19 China bereits im Herbst 2019 befallen haben könnte

Die Harvard Medical School untersuchte den Autoverkehr um die großen Krankenhäuser in Wuhan. Sie hoffte, durch das Verhaltensmuster der Bevölkerung Anzeichen für die Verbreitung von COVID-19 finden zu können. Die Analyse zeigt: „Im Oktober geschah etwas.“
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Die Harvard-Studie basiert auf Satellitenbilder aus dem Weltraum.Foto: Tifonimages/iStock
Von 9. Juni 2020

Eine aktuelle Studie der Harvard Medical School untersuchte 350 Satellitenbilder, um herauszufinden, was in Wuhan vor dem offiziellen Ausbruch des Virus geschehen war.

Unter Verwendung von Techniken, die denen der Geheimdienste ähneln, analysierte das Forschungsteam kommerzielle Satellitenbilder und „beobachtete ab dem Spätsommer und Frühherbst 2019 einen dramatischen Anstieg des Krankenhausverkehrs vor fünf großen Krankenhäusern in Wuhan“, so Dr. John Brownstein, Leiter der Studie.

Die Forscher haben gleichzeitig auch die Zunahme von Anfragen nach bestimmten Suchwörtern im Internet beobachtet. Im chinesischen Raum wurde häufiger nach „bestimmten Symptomen [gesucht], die später als eng mit dem neuartigen Coronavirus verbunden bestimmt werden“.

Der Leiter der Studie räumte zwar ein, dass es Indizienbeweise seien, aber die Studie stelle einen wichtigen neuen Datenpunkt im Rätsel um den Ursprung von COVID-19 dar.

Harvard-Studie: „Atemwegserkrankungen führen zu ganz bestimmten Verhaltensweisen in den Gemeinschaften“

„Im Oktober geschah etwas“, erzählte Brownstein, Leiter der Abteilung Innovation des Bostoner Kinderkrankenhauses und Direktor des Labors für Computer-Epidemiologie. „Offensichtlich gab es schon lange vor dem, was zuvor als Beginn der neuartigen Corona-Pandemie identifiziert wurde, ein gewisses Maß an sozialer Zerrüttung“, zitiert ihn „ABC News“.

Brownstein und sein Team, zu dem auch Forscher der Universität Boston und des Bostoner Kinderkrankenhauses gehören, haben mehr als einen Monat lang nach Anzeichen dafür gesucht, wann die Bevölkerung der Provinz Hubei in China zum ersten Mal von dem Virus betroffen war.

Der Verkehr um das Frauen- und Kinderkrankenhaus in Hubei. Foto: ABC News

Die Logik des Forschungsprojekts ist einfach, schreibt „ABC News“: „Atemwegserkrankungen führen zu ganz bestimmten Verhaltensweisen in den Gemeinschaften, in denen sie sich ausbreiten.“ Daher hat das Team nach Aufnahmen gesucht, welche die Verhaltensmuster der Bevölkerung darstellen können. Diese geben ein Gesamtbild des Geschehens ab, „selbst wenn die erkrankten Menschen sich des umfassenderen Problems zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst waren“, erklärt das amerikanische Fernsehnetzwerk.

„Was wir versuchen, ist, die Aktivitäten zu beobachten, [und] wie beschäftigt ein Krankenhaus ist“, sagte Brownstein. „Und das tun wir, indem wir die Autos zählen, welche am Krankenhaus sind. Die Parkplätze sind voll, wenn ein Krankenhaus ausgelastet ist. Wenn es also mehr Autos in einem Krankenhaus gibt, ist das Krankenhaus belebter, wahrscheinlich weil in der Gemeinde etwas passiert, eine Infektion wächst und die Leute einen Arzt aufsuchen müssen. Sie sehen also die Zunahme des Krankenhausgeschäfts durch die Autos … Wir haben das in mehreren Institutionen gesehen“, sagte der Leiter der Studie.

Die Zahlen sind aussagekräftig, die Interpretation ist aber „übertrieben“

Das Bild, das die Daten zeichnen, ist an sich nicht schlüssig, räumte Brownstein ein, aber er sagte, die Zahlen seien dafür umso aussagekräftiger. „Hier geht es um eine wachsende Menge an Informationen, die auf etwas hinweisen, das zu dieser Zeit in Wuhan stattfand“, sagte Brownstein gegenüber „ABC News“.

Brownstein räumte ein, dass noch viele Studien dazu erforderlich seien, um vollständig aufzudecken, was in Wuhan wirklich passiert ist. Die Studie sei „also nur ein weiterer Beweispunkt“, sagte er.

Krankenhausverkehr in Wuhans Großkliniken. Foto: ABC News

Experten sind sich nicht einig

Andere Wissenschaftler sind sich über die Studie nicht einig. Krankheitsforscher Peter Daszak findet die Harvard-Studie „absolut faszinierend“. „Man muss sich jedes mögliche Beweisstück anschauen, wo es herkommt und wann es aufgetaucht ist“, sagte er gegenüber „ABC News“. Daszaks Organisation setzt sich für das Verständnis über den Ursprung neu auftretender Krankheiten ein. „Wenn wir nach Ausbrüchen Analysen durchführen, stellen wir fest, dass die Krankheiten Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre zuvor im Umlauf waren. Ich glaube wirklich, dass wir genau das bei COVID-19 finden werden“, erklärte der Forscher.

David Perlin, leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entdeckung und Innovation in New Jersey, sagte gegenüber „ABC News“, er sei ebenfalls fasziniert von Brownsteins Forschung, auch wenn er nicht ganz überzeugt sei. „Ich denke, einige der Methoden sind fragwürdig und ihre Interpretation ist etwas übertrieben“, sagte Perlin.

„Das Problem ist, dass wir hier nur eine Teilmenge von Daten haben. Ich mache mir immer Sorgen, wenn Leute anfangen, Schlüsse aus Teilmengen von Daten [wie die der Internetsuche] zu ziehen, und sich die Rosinen herauspicken. Das ist suggestiv”, sagte der wissenschaftliche Mitarbeiter.

Aus dem Weltraum aufgenommene Fotografien deuten auf eine Krise in Wuhan hin

Wie hat das Team von Brownstein die Krankenhäuser untersucht? Sie schauten sich um die 350 Bilder an, welche von privaten Satelliten rund um den Globus aufgenommen wurden. Sie untersuchten anhand derer den Verkehr und das Parkverhalten vor großen Krankenhäusern in Wuhan in den letzten zwei Jahren. Manche Fotos wurden im Herbst 2019 im zeitlichen Abstand von ein oder zwei Wochen aus dem Weltraum aufgenommen.

Die Forscher fanden 108 brauchbare Bilder, die die Orte ohne Beeinträchtigung von Smog, hohen Gebäuden, Wolken oder anderen Merkmalen zeigen, die eine Satellitenanalyse erschweren, schreibt „ABC News“.

Brownstein erklärt dazu, dass man die Bilder zur Mittagszeit aufnehmen musste, „denn im Grunde will man direktes Sonnenlicht haben. Wir wollen ja keine Schatten, die uns daran hindern, die Autos zu zählen.“

Am 10. Oktober 2018 befanden sich 171 Autos auf dem Parkplatz des Tianyou-Krankenhauses in Wuhan, einem der größten Krankenhäuser der Stadt, erklärte der Leiter weiter. Ein Jahr später registrierten die Satelliten 285 Autos – ein Anstieg um 67 Prozent.

Der Studie zufolge gab es einen Anstieg der Autoanzahl vor manchen anderen Krankenhäusern um bis zu 90 Prozent (im Vergleich des Herbsts 2018 zu 2019). An der Medizinischen Universität Wuhan Tongji wurde festgestellt, dass der Anstieg des Autoverkehrs Mitte September 2019 stattgefunden hat.

Anstieg der Anzahl der Autos statistisch signifikant

Der Anstieg könnte aber natürlich auch andere Gründe haben und diese wurden von den Forschern berücksichtigt. Zum Beispiel könnten eine größere Versammlung in der Nähe oder Neubauten im Krankenhaus Gründe sein. Allerdings weisen die Forscher darauf hin, dass der Anstieg der Anzahl der Autos statistisch signifikant sei.

„Wenn man sich all die Bilder und Beobachtungen ansieht, die wir von all diesen Orten seit 2018 gemacht haben, dann liegen fast alle der höchsten Autozahlen im Zeitraum von September bis Dezember 2019“, sagte Tom Diamond, Präsident von „RS Metrics“, einem Analyse-Unternehmen, das sich an der Brownstein-Studie beteiligte.

Bei der Durchführung des Projekts setzte „RS Metrics“, das Satellitenbilder für Firmenkunden analysiert, Techniken zur Identifizierung und Überwachung von Veränderungen in Lebens- und Geschäftsmustern ein.

Es ähnelt der Arbeit von Analysten der CIA (Central Intelligence Agency) und der DIA (Defense Intelligence Agency), die jeden Tag Bilder durchforsten, um herauszufinden, was am jeweiligen Ort vor sich geht – insbesondere dort, wo Regierungen den Personen- und Nachrichtenfluss einschränken, schreibt „ABC News“.

Sehr klarer Trend

Diamond sagte gegenüber „ABC News“, dass die Region Wuhan in den Monaten, bevor Chinas Regierung öffentlich zugab, dass eine Ansteckung in der dicht besiedelten Stadt stattfand, eindeutig ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem erlebte.

„In allen größeren Krankenhäusern in Wuhan haben wir im Zeitraum von September bis Dezember 2019 den höchsten Verkehr gemessen, den wir seit über zwei Jahren gesehen haben“, sagte Diamond gegenüber „ABC News“. „Unser Unternehmen ist es gewohnt, winzige Veränderungen zu messen, wie z.B. zwei Prozent bis drei Prozent Wachstum auf einem Parkplatz einer Supermarktkette. Das war hier nicht der Fall. Hier gibt es einen sehr klaren Trend“, sagte Diamond.

„Diese Studie wirft ernsthafte Fragen darüber auf, ob das Coronavirus zum ersten Mal früher als zuvor berichtet in die Vereinigten Staaten eingeschleppt wurde und ob die Ende Januar angekündigten Maßnahmen zur Beschränkung des Reiseverkehrs aus China zu spät kamen“, sagte John Cohen, ehemaliger Unterstaatssekretär für Heimatschutz in der Obama-Regierung, jetzt Mitarbeiter von „ABC News“.

„Die Vertuschung der anfänglichen Berichterstattung über das Virus durch die chinesische Regierung ist nur ein weiteres Beispiel für die Herausforderungen“, welche sich daraus ergeben, dass die Kommunistische Partei Chinas nicht genügend Transparenz zeige, erklärte ein Sprecher des Außenministeriums gegenüber „ABC News“.

In Wuhan gab es einen Anstieg der Suchbegriffe „Husten“ und „Durchfall“

Brownstein sagte, dass er und seine Forscher die Daten zum Krankenhausverkehr noch überzeugender fanden, nachdem sie sich in die Suchmuster im Internet vertieft hatten, schreibt „ABC News“. Etwa zu der Zeit, als der Krankenhausverkehr stark anstieg, gab es in der Region Wuhan einen Anstieg der Suchbegriffe „Husten“ und „Durchfall“.

„Während Abfragen des respiratorischen Symptoms ‚Husten‘ saisonale Schwankungen zeigen, welche mit den jährlichen Grippesaisons zusammenfallen, ist ‚Durchfall‘ ein eher  spezifisches Symptom für COVID-19 und zeigt einen Zusammenhang mit der aktuellen Epidemie“, so die Studie. „Der Anstieg beider Signale geht dem dokumentierten Beginn der COVID-19-Pandemie im Dezember voraus“, steht in der Harvard-Studie.

„Wir haben frühere Studien durchgeführt, in denen wir zeigen konnten, dass das, was Menschen online suchen, ein Indikator für Krankheit in der Bevölkerung ist“, sagte Brownstein gegenüber „ABC News“. „Wir haben tatsächlich gesehen, dass Menschen nach Symptomen suchten, die mit COVID in Zusammenhang stehen könnten: Durchfallerkrankungen und Husten. Das fing sogar schon im Spätsommer an“, so der Leiter der Studie.

„Nun können wir nicht zu 100 Prozent bestätigen, was das Virus war, das diese Krankheit verursachte, und was diese Geschäftigkeit in Krankenhäusern verursachte“, sagte Brownstein. „Aber es ging etwas vor sich, das ganz anders aussah als zu jedem anderen Zeitpunkt, den wir untersucht hatten“.



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