Heinsberg-Studie offenbart Dunkelziffer: Schätzungsweise 1,8 Millionen Corona-Infizierte in Deutschland

In Deutschland könnten sich nach Ergebnissen der sogenannten Heinsberg-Studie mittlerweile möglicherweise 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben. Dies ergebe eine Schätzung auf der Grundlage einer Modellrechnung.
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Aus dem besonders vom Coronavirus betroffenen Kreis Heinsberg erhoffen sich Wissenchaftler neue Erkenntnisse zur Pandemie.Foto: Jonas Güttler/dpa/dpa
Epoch Times4. Mai 2020

Der Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen gilt als Brennpunkt für das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2. Nach einer Karnevalssitzung kam es dort zu einer in Deutschland frühen und massenhaften Ausbreitung des Erregers.

Im Rahmen der Studie hatte ein Forschungsteam um die Professoren Hendrik Streeck und Gunther Hartmann von der Universität Bonn in der Ortschaft Gangelt eine große Zahl von Einwohnern befragt, Proben genommen und analysiert.

Dabei wurde unter anderem erstmals die Sterblichkeitsrate der Infektion genau bestimmt. Die Ergebnisse der Studie sind vorab veröffentlicht worden und werden nun der Wissenschaft und der Öffentlichkeit vorgestellt. Eine Publikation in einem Fachjournal mit Peer-Review-Verfahren folgt.

Im Zentrum der Studie steht die Sterblichkeitsrate der Infektion (IFR), die den Anteil der Todesfälle unter den Infizierten angibt. Diese muss von der Fallsterblichkeit unterschieden werden. Die IFR sei aus verschiedenen Gründen der verlässlichere Parameter; dessen Bestimmung werde international für SARS-CoV-2 gefordert, heißt es von der Uni Bonn.

„Mit unseren Daten kann nun zum ersten Mal sehr gut geschätzt werden, wie viele Menschen nach einem Ausbruchsereignis infiziert wurden. In unserer Studie waren das 15 Prozent für die Gemeinde Gangelt.

Mit der Gesamtzahl aller Infizierter kann die Infektionssterblichkeit (IFR) bestimmt werden. Sie liegt für SARS-CoV-2 für den Ausbruch in der Gemeinde Gangelt bei 0,37 Prozent“, sagt Studienleiter Streeck, Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn.

Mit der IFR ließe sich anhand der Zahl der Verstorbenen auch für andere Orte mit anderen Infektionsraten abschätzen, wie viele Menschen dort insgesamt infiziert seien.

Dunkelziffer fünf Mal so hoch wie offizielle Zahlen

Der Abgleich dieser Zahl mit der Zahl der offiziell gemeldeten Infizierten führe zur sogenannten Dunkelziffer. Diese sei in Gangelt rund fünfmal höher als die offiziell berichtete Zahl der positiv getesteten Personen.

Legt man für eine Hochrechnung etwa die Zahl von fast 6.700 SARS-CoV-2-assoziierten Todesfällen in Deutschland zugrunde, so ergäbe sich eine geschätzte Gesamtzahl von rund 1,8 Millionen Infizierten, die Streeck mit seinem Team ermittelt hat. Damit ist die Dunkelziffer zehnmal so hoch wie die Gesamtzahl der offiziell gemeldeten Fälle (162.496 am 03.05.2020, 07:20 Uhr).

„Die Ergebnisse können dazu dienen, Modellrechnungen zum Ausbreitungsverhalten des Virus weiter zu verbessern – bislang ist hierzu die Datengrundlage vergleichsweise unsicher“, sagt Co-Autor Hartmann, Leiter des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie am Universitätsklinikum Bonn und Sprecher des Exzellenzclusters ImmunoSensation.

Die Studie gebe auch wichtige Hinweise für weiterführende Forschung zu SARS-CoV-2, etwa zum Infektionsrisiko in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen, zum höheren Schweregrad der Erkrankung unter den besonderen Bedingungen eines massiven Infektionsereignisses wie in Gangelt, oder zum Infektionsrisiko innerhalb von Familien.

Ein Fünftel der COVID-19 Infektionen verlaufen asymptomatisch

Auch die Symptombeschreibung sei ein Aspekt der Studie. Der für diese Infektion auffälligste Symptomkomplex sei der von Streeck zuvor beschriebene Geruchs- und Geschmacksverlust. Weiterhin hätten in Gangelt insgesamt 22 Prozent von allen Infizierten gar keine Symptome gezeigt.

Auffällig sei gewesen, dass die an der Karnevalssitzung teilgenommen Personen häufiger Symptome hatten. „Um herauszufinden, ob hier die körperliche Nähe zu anderen Sitzungsteilnehmern und eine erhöhte Tröpfchenbildung durch lautes Sprechen und Singen zu einem stärkeren Krankheitsverlauf beigetragen haben, planen wir weitere Untersuchungen in Kooperation mit Spezialisten für Hygiene“, führte Professor Hartmann aus.

„Dass offenbar jede fünfte Infektion ohne wahrnehmbare Krankheitssymptome verläuft, legt nahe, dass man Infizierte, die das Virus ausscheiden und damit andere anstecken können, nicht sicher auf der Basis erkennbarer Krankheitserscheinungen identifizieren kann“, meint Professor Martin Exner, Leiter des Instituts für Hygiene und öffentliche Gesundheit und Co-Autor der Studie.

Dies bestätige die Wichtigkeit der allgemeinen Abstands- und Hygieneregeln in der Corona-Pandemie. „Jeder vermeintlich Gesunde, der uns begegnet, kann unwissentlich das Virus tragen. Das müssen wir uns bewusst machen und uns auch so verhalten“, sagt der Hygiene-Experte.

In den untersuchten Mehr-Personen-Haushalten sei das Risiko für die Ansteckung einer weiteren Person überraschend gering gewesen. „Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab“, erläuterte Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Insgesamt 919 Teilnehmer aus 405 Haushalten

Insgesamt 600 zufällig ausgewählte Haushalte in Gangelt wurden angeschrieben und gebeten, an der Studie teilzunehmen. 919 Studienteilnehmer aus 405 Haushalten wurden vom 30. März bis 6. April sechs Wochen nach dem Ausbruch der Infektion in Gangelt befragt und getestet. Die Wissenschaftler nahmen Rachenabstriche und Blutproben.

In der Akutphase der Infektion in den ersten ein oder zwei Wochen sei der PCR-Test, der den „genetischen Daumenabdruck“ von SARS-CoV-2 erfasst, sehr zuverlässig, teilten die Wissenschaftler mit. Zwei oder drei Wochen nach der Infektion bilde das Immunsystem sogenannte Antikörper gegen das Virus, die der ELISA-Test erkenne.

„Durch die Kombination von PCR- und ELISA-Test können wir sowohl akute als auch abgelaufene Infektionen erfassen“, sagte Hartmann. Vorstudien hätten gezeigt, dass der ELISA-Test sich in etwa einem Prozent der durchgeführten Untersuchungen „irrt“ und fälschlicherweise eine durchgemachte Infektion anzeige.

„Bei einem hohen Prozentsatz an Infizierten wie in Gangelt tritt dieser messtechnische Unsicherheitsfaktor in den Hintergrund“, berichtete der Experte weiter. Bei aktuell geplanten Deutschland-weiten Studien mit einer geschätzten Infektionsrate von etwa ein bis zwei Prozent sei dieser messtechnische Unsicherheitfaktor jedoch ein Problem.

Welche Schlüsse aus den Studienergebnissen gezogen werden, hängt von vielen Faktoren ab, die über eine rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen“, betonte Streeck. „Die Bewertung der Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen für konkrete Entscheidungen obliegen der Gesellschaft und der Politik.“ (pr/dpa/sua)



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