Schluss mit der Arbeitswut: Bekenntnisse einer akademischen Aussteigerin

Die Biochemikerin Dr. Anne-Christine Schmidt war lange im Hamsterrad des deutschen Universitätsbetriebs unterwegs. Heute lebt sie lieber als Selbstversorgerin. Ein Interview über freies Denken, ökonomische Zwänge und die „Entzauberung der Welt“.
Die Ex-Biochemikerin und Aussteigerin Dr. Anne-Christine Schmidt in ihrem Garten. Foto: Privat
Die Ex-Biochemikerin und Aussteigerin Dr. Anne-Christine Schmidt in ihrem Garten.Foto: Privat
Von 2. Oktober 2023

Selbst nach zwei Jahrzehnten Forschung und Lehre, nach Promotion und Habilitationsverfahren kann eine Naturwissenschaftlerin oder ein Naturwissenschaftler in Deutschland am Ende mit leeren Händen dastehen. Kein Uni-Lehrstuhl, keine Assistenzstelle, kein Zeitvertrag, kein Projekt. Noch nicht einmal Angebote. Schon gar nicht aus der freien Wirtschaft. Was bleibt, ist der Gang zum Amt. Bürgergeld.

Die Biochemikerin Dr. rer. nat. Anne-Christine Schmidt, Jahrgang 1974, ist so ein Fall. „Mich braucht keine Firma, kein Amt, kein Industriebetrieb, kein Mensch braucht meine beruflichen Erfahrungen und Kenntnisse“, heißt es am Ende ihres Erfahrungsberichts „Albtraum Wissenschaft“ (Textem Verlag 2023, 157 Seiten, ISBN 978-3-86485-286-2). Das Büchlein handelt von Schmidts Erlebnissen während ihrer Uni-Karriere, die 2014 nach rund 20 Jahren ein jähes Ende fand.

Seitdem lebt Schmidt möglichst autark in ihrem eigenen Häuschen, kümmert sich um die Pflanzen in ihrem Garten und lebt ein bescheidenes, aber ziemlich stressfreies Leben: „Um nichts in der Welt wollte ich jemals in diese brutale Laborumgebung zurückkehren“, schreibt sie am Ende ihres Berichts.

Epoch Times bat Frau Dr. Schmidt um ein schriftliches Interview.

Die Ex-Biochemikerin und Aussteigerin Dr. Anne-Christine Schmidt in ihrem Garten.

Die Ex-Biochemikerin Dr. Anne-Christine Schmidt meint: „Hoch motivierte junge Menschen studieren in einem Irrglauben, etwas Sinnvolles und Wichtiges zu tun.“ Foto: privat

Frau Dr. Schmidt, man könnte Ihr Buch als eine Art Abrechnung mit dem akademischen Betrieb Deutschlands verstehen. Welchen Erfolg versprechen Sie sich davon?

Politiker diskutieren seit Jahren über Änderungen am Hochschulrahmengesetz und am Wissenschaftszeitvertragsgesetz, welche die Befristungsklauseln für wissenschaftliche Mitarbeiter enthalten. Doch für die Betroffenen des Befristungselends im akademischen Unter- und Mittelbau wurden bislang keine günstigen Entscheidungen getroffen.

Hoch motivierte junge Menschen studieren in einem Irrglauben, etwas Sinnvolles und Wichtiges zu tun. Dann promovieren sie auf einem hoch speziellen Thema in meist harter Arbeit und wägen sich dabei im selben Irrglauben.

Mit meinem Buch möchte ich die Institutstüren öffnen und der allgemein verbreiteten positivistischen Darstellung von Wissenschaft in der Öffentlichkeit eine realistischere Färbung verleihen. Einen Erfolg, etwas an den Miseren verändern zu können, verspreche ich mir nicht. Aber ich stelle ein Stück deutscher Zeitgeschichte dar.

Warum wollten Sie eigentlich überhaupt eine akademische Karriere machen, Professorin werden? Wäre angesichts Ihrer Interessen ein Beruf in der Land- oder Forstwirtschaft im Nachhinein nicht die bessere Wahl gewesen?

Ja, das könnte man so sehen. Aber ich war blind, besser gesagt von einer Art Arbeitswut verblendet. Als Abiturientin erreichte ich ausgezeichnete Schulleistungen. Angesichts dessen stand nicht außer Frage, ein Hochschulstudium zu beginnen. Wir wussten nicht im Geringsten, was auf uns zukam.

Professorin wollte ich ursprünglich nicht werden. Mein beruflicher Weg entwickelte sich in diese Richtung erst später; und eigentlich stammte die Idee mit der Professur beziehungsweise mit der Habilitation von meinem streitbaren „Habil-Papa“. Ich griff sie nur auf. Zuvor stolperte ich von Stelle zu Stelle. Bereits mein Promotionsbetreuer urteilte, dass ich aufgrund meiner starken fachlichen Leistungen für eine Hochschullaufbahn geeignet wäre.

Ich selbst wusste eigentlich gar nicht, was ich wollte. Mich erleichterte jede neue befristete Anstellung, damit es irgendwie weiterging. Forschungsideen zu entwickeln, Themen zu bearbeiten, Studenten zu betreuen: Das waren kreative Aufgaben, die auch Spaß machten.

Sie zählen zehn „Voraussetzungen“ auf, die „für eine Karriere im Wissenschaftssystem“ nötig seien. Dazu gehören beispielsweise bedingungslose Bereitschaft zur Unterordnung, aber auch Konkurrenzdenken, Computersucht, Verantwortungslosigkeit und Kritiklosigkeit. Sie haben all das viele Jahre mitgemacht. Warum?

Ich war in diesem System eingezwängt. Ich kannte nichts anderes. Von früh bis spät war ich von Menschen umgeben, die in diesem System feststeckten, darin funktionierten. Die stets präsente Angst vor dem Ende der befristeten Arbeitsverträge und das überbordende Arbeitspensum verhinderten ein Hinausschauen.

Kritiklos war ich eigentlich nie, aber geäußerte Kritik stieß auf Widerstand des wissenschaftlichen Etablissements. Bei einem Vortrag eines Industrievertreters in unserer Fakultät stellte ich als Einzige die Frage, ob man sich auch als Bewerber zum Vorstellungsgespräch melden könnte, wenn man sich für Naturschutzbelange einsetzt. Der große Hörsaal war rappelvoll. Alle Plätze waren besetzt. Ich erhielt eine freundliche schwammige Antwort. Viele der im Hörsaal sitzenden Studenten, Doktoranden und Postdocs erhofften sich eine spätere berufliche Anstellung in einem solchen Chemiekonzern.

Worin sehen Sie den Hauptgrund, dass sich der Universitätsbetrieb so entwickeln konnte?

Den Hauptgrund sehe ich in der Übermacht des Geldes. Die Universitäten sollen sich rechnen wie Industriefabriken – ich verweise nur auf den furchtbaren Begriff der „Denkfabriken“. Zudem spielen der Verlust gesellschaftlicher Ziele eine Rolle, der Fokus auf Individualkarrieren statt auf ein Miteinander, das Nutzbarmachen der Natur zum unreflektierten Verbraten in der Konsumwelt. All das bedingt eine industrielle Verwertungslogik naturwissenschaftlicher Erkenntnis.

An den Universitäten wurde – auch dank freier Studienwahl – eine kontinuierliche Erhöhung der Studentenzahlen befördert, damit sich Universitätsleitungen sowie Professoren über die durchgeschlauchten Menschenmassen rühmen können. Die studentische Masse strömt dann in die sich immer weiter verengende Qualifizierungsgasse hinein. Eine entsprechend den Bedarfen an Absolventen bestimmter Studienrichtungen angepasste Regelung müsste die freie Studienwahl einschränken.

Wenn man Ihr Buch liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass die ganze biochemische oder gar naturwissenschaftliche Forschung nur dazu dient, den Planeten Erde mitsamt Mensch, Flora und Fauna zu vernichten. Ist das zutreffend?

Den von Ihnen gewonnenen Eindruck kann ich nur immer wieder unterstreichen. Viele Menschen sind blind. Zum Beispiel sieht man im Frühjahr und jetzt wieder im Herbst überall in der Agrarlandschaft riesige gelbbraune totgespritzte Ackerflächen. Eines der offensichtlichsten Resultate biochemischer Laborforschung. Ich nenne solche Stichworte wie Profitgier, Maßlosigkeit, Respektverlust, Entzauberung der Welt.

Die heutige Naturwissenschaft ist ein ausführendes Organ dieser Weltsicht und führte im Laufe ihrer historischen Entwicklung zu genau dieser Weltsicht hin. Gregory Fuller, den ich in meinem Buch zitiere, hebt das „manifeste Versagen der Naturwissenschaften“ hervor. Weltkonzerne, globalisierte Strukturen, brave und zugleich gierige Konsumenten schrecken vor keinem Zerstörungsakt zurück.

Sie schreiben: „Die labormäßig betriebene Naturwissenschaft [ist] eine einzige Umweltsünde“. Aber sie haben viele Jahre mitgemacht. Plagen Sie heute deswegen Gewissensbisse?

Besonders in den letzten Jahren meiner Forschungstätigkeit plagten mich heftige Gewissensbisse angesichts der Mengen an toxischen Chemikalien und Kunststoffprodukten aller Größen und Formen, die wir in den Laboren verwendeten, sowie angesichts der überbordenden elektronischen Messtechnik. Später büßte ich einen Teil meiner Schuld ab, zumindest glaube ich das, indem ich mich nach einem radikalen Bruch mit der Naturwissenschaft einer naturnahen Selbstversorgung widmete und einen sehr einfachen Lebensstil wählte.

Von früh bis spät hackte ich im Acker – ohne Chemie, ohne moderne Technik. Den Verdienst aus den harten wissenschaftlichen Arbeitsjahren steckte ich in verfaulende Holzbalken aus dem 18. Jahrhundert. Ohne das Geld, das ich in der Laborwissenschaft verdient hatte, wäre es mir aber unmöglich gewesen, ein einfaches Leben auf dem Land zu realisieren – eine seltsame Kausalität.

Heute denke ich eher selten an meine wissenschaftlichen Jahre zurück. Aber mein Gewissen und meine Erfahrungen verbieten es mir, wieder in einem biochemischen oder chemischen Forschungslabor zu arbeiten.

Was würden Sie jungen Leuten heute raten, die sich ebenso wie Sie für Naturwissenschaft, Biologie oder Chemie interessieren?

Von einem naturwissenschaftlichen Studium würde ich abraten, wenn man sich daraus eine anschließende berufliche Laufbahn erhofft. Naturwissenschaftliches Studium aus begeistertem Interesse bejahe ich dennoch. Aber man sollte dann noch einen Handwerksberuf erlernen oder zusätzlich Medizin studieren.

Ein Mangel an geeignetem Nachwuchs in nützlichen, wichtigen Handwerksbetrieben besteht überall, ebenso ein Ärztemangel, dessen Gründe mir unbegreiflich sind. Eine umfassende naturwissenschaftliche Grundausbildung kann im Arzt- wie im Handwerksberuf festigen, nützen und nachdenklich machen.

Sie beschreiben Ihren Alltag so ähnlich, wie man sich eine naturverbundene Aussteigerin vorstellt: viel Zeit im Garten, Gespräche mit den Nachbarn, Spaziergänge, Einkochen von Obst und Gemüse. Wie kommen Sie finanziell über die Runden?

Ich betrachte mich schon als Aussteigerin. Die Ersparnisse aus meiner hoch dotierten Wissenschaftlerepoche investierte ich in die Herrichtung eines knapp 300 Jahre alten Bauernhauses. Dort lebe ich seit vielen Jahren unter sehr einfachen Bedingungen.

Diese Lebensführung beinhaltet viel Härte, Verzicht und Anstrengung. Zunächst brauchte ich die restlichen Mittel aus meiner Berufslaufbahn für die alltäglichen Kosten auf, ehe ich Bürgergeld beantragte. Seither schwankt mein Kontostand auf einem sehr niedrigen, aber konstanten Level. Größere Ausgaben, zum Beispiel in weitere noch nötige Projekte der Haussanierung, sind nicht mehr möglich. Ich wünsche mir schon sehr, mich aus der Abhängigkeit vom Amt wieder zu befreien.

Welchen allgemeinen Tipp fürs Leben geben Sie unseren Lesern mit auf den Weg?

Aus meiner turbulenten, teils leidvollen Lebensgeschichte leite ich ab, dass ein Mensch trotz widriger Umstände den eigenen Selbstwert und die eigene Würde niemals verlieren darf. So etwas wie einer inneren Stimme zu lauschen, sich nicht durch äußere Zwänge verbiegen zu lassen, kritisches Hinterfragen zu lernen, nach etwas zu suchen, was inneren Halt und Trost verleiht; solche Ansätze helfen, Schwierigkeiten zu bewältigen, einen Weg durch steile Felsen zu finden, ohne abzustürzen.

Letztlich verleiht es Stärke, wenn man nicht aufgibt, mit einer kämpferischen, aber nicht aggressiven Haltung durch das Leben zu gehen.

Frau Dr. Schmidt, vielen Dank für das Interview.



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