Amerikaner auf Luthers Spuren: Mittelalter-Handschriften entziffern
Die Handschrift des Reformators Martin Luther erkennt er sofort. «Sie ist etwas krakelig und schwer zu lesen», sagt der amerikanische Historiker Daniel Gehrt. «Luthers Mitstreiter Melanchthon schreibt dagegen deutlicher.» Damit erleichtert er dem Wissenschaftler die Arbeit. Der 35-Jährige sichtet die Reformationshandschriften in der Forschungsbibliothek im Schloss Friedenstein in Gotha. Nicht weit von hier, auf der Thüringer Wartburg bei Eisenach, hat Luther vor rund 470 Jahren die Bibel übersetzt.
Lange Flure und verwinkelte Treppenhäuser führen zu Gehrts Büro in dem alten Gemäuer, das seit Jahren renoviert wird. Umgeben von alten Wälzern fühlt er sich heimisch. Der Schatz der Bibliothek sind rund 10 000 Handschriften aus zwölf Jahrhunderten. «Damit werden keine einzelnen Blätter bezeichnet, sondern jeweils mehrere Briefe oder Schriftstücke, die ein Sammler zu einem Buch gebunden hat», erläutert Gehrt (geb. 20.12.1970). Vorsichtig legt er einen mehr als 400 Jahre alten Lederband auf ein Schaumstoffpult. «Das hier zum Beispiel sind Briefe aus einem Thüringer Fürstenhaus wenige Jahre nach Luthers Tod.»
315 solcher Handschriften aus der Reformationszeit – insgesamt mehrere tausend Seiten stark – soll der Wissenschaftler mit seinem Team in den kommenden Jahren sichten, katalogisieren und für Forscher in aller Welt über das Internet zugänglich machen. Die meisten Schriftstücke sind im Frühneuhochdeutsch verfasst, das Gehrt aus der 30 000 Einwohner-Stadt Neenah im US-Staat Wisconsin inzwischen im Schlaf beherrscht. Das ebenfalls verwendete Latein stellt für ihn auch kein Hindernis dar. Nur bei den wenigen Briefen aus Ungarn und Frankreich muss er sich Hilfe holen.
Das Schriftbild ist manchmal gewöhnungsbedürftig. «Vieles ist allerdings von professionellen Schreibern notiert worden.» Aber auch in schwierigsten Handschriften kann er meist alles entziffern. «Das hat viel mit Erwartung zu tun: Meist ahnt man ja schon aus dem Zusammenhang, welches Wort kommen muss. Ansonsten ist alles eine Sache der Übung.» Manchmal ist die Tinte im Laufe der Jahrhunderte verwischt oder verblasst und Pilze haben Teile von Seiten zerstört. Diese Schäden sind allerdings im Blick auf das hohe Alter der Schriftstücke gering. «Damals war das Papier deutlich besser», nennt Gehrt einen Grund.
Seinen Aufbruch nach Deutschland schildert der Amerikaner als logische Konsequenz seines Mittelalter-Studiums. «Irgendwann musste ich zu den Wurzeln, denn in Amerika gibt es so gut wie keine Quellen.» Sein erster Weg als Austauschstudent führte ihn nach Freiburg. «Dann wollte ich in den Osten gehen, um dort die Stimmung nach dem Mauerfall kennen zu lernen.» In Jena beendete er 1999 sein Studium und forscht jetzt auch in Gotha für seine Promotion über die Ernestiner, ein Fürstenhaus im Umfeld Luthers. Inzwischen kennt er wie kaum ein anderer die Entwicklungen in Thüringen während und nach der Reformation.
Sein leichter amerikanischer Akzent führt bei seinen Kollegen kaum zu Irritationen. «Die Reformation ist in den USA ein großes Thema», erklärt der Wissenschaftler, der aus einer lutherischen Familie stammt. Regelmäßig kommen US-Forscher für ein Praktikum ins Schloss und bringen ein wenig amerikanisches Flair mit. Doch Heimweh nach dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten wecken sie damit nicht bei Gehrt. Die Handschriften sind sein Zuhause – in der Beschäftigung mit der Vergangenheit sieht er seine Zukunft. «Ich möchte gerne hier bleiben.»
Seine Familie hat sich inzwischen damit abgefunden, den Sohn an das alte Europa verloren zu haben. «Bei ihrem ersten Besuch wollten sie vor allem München sehen und den Rhein – das, was man eben in Amerika von Deutschland kennt», erzählt Gehrt. Von Erfurt oder Gotha hatten sie noch nie etwas gehört. Diese Wissenslücke hat er inzwischen geschlossen. «Jetzt sind sie auch begeistert.»
(dpa)
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