Wembley ist nicht Paris: Londons nie vollendeter Eiffelturm

„Alles, was Paris kann, kann London besser“, glaubte man Ende des 19. Jahrhunderts in der britischen Kolonialmacht. Alles, außer einem eigenen Eiffelturm.
Der Turm im Wembley Park sollte den Eiffelturm in Paris um mehrere Dutzend Meter überragen.
Kolorierte Postkarte mit Ansicht des Wembley Parks und des Watkin's Towers, gesehen von der U-Bahn-Station. Künstler unbekannt (um 1894).Foto: public domain
Von 15. Mai 2023

1886 eröffnete die Metropolitan Railway in London eine umstrittene Erweiterung in den ländlichen Nordwesten Londons. Wie von Kritikern befürchtet, hielten sich die Fahrgastzahlen auf der heute noch existierenden U-Bahn-Linie jedoch in Grenzen – in Wembley, damals kaum mehr als ein Bauerndorf, gab es nichts zu sehen.

Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg halt zum Propheten, dachte sich Sir Edward William Watkin, seines Zeichens Vorsitzender der Eisenbahngesellschaft. Bauen wir etwas, das diese Route attraktiver macht: Einen großen Park mit See, Wasserfall, Sportanlagen, Restaurants und dem höchsten Bauwerk der Welt, dem „Großen Turm von London“.

Inspiriert wurde diese Idee von jenseits des Ärmelkanals: dem Eiffelturm. Bereits während der Weltausstellung 1889 generierte die 300 Meter hohe „Eiserne Dame“ in etwa so viele Einnahmen, wie ihr Bau gekostet hatte. „Alles, was Paris kann, kann London besser“, verkündete Watkin. Entsprechend sollte sein Turm noch größer, noch schöner werden und die Londoner in seine Züge locken, um die Attraktion zu besuchen.

1 Wettbewerb, 68 Entwürfe, 500 Goldmünzen Preisgeld

Auf der Suche nach Architekten hat der britische Unternehmer sogar Gustave Eiffel kontaktiert, erfolglos. Wenn er den Turm entwerfe, würden seine Landsleute ihn „nicht für einen so guten Franzosen halten, wie ich hoffe, dass ich es bin“, begründete der Ingenieur seine Ablehnung.

Sir Edward William Watkin, 1st Baronet (* 26. September 1819, † 13. April 1901).

Hatte große Pläne: Sir Edward William Watkin (* 26. September 1819, † 13. April 1901). Künstler unbekannt (1864). Foto: public domain

Daraufhin schrieb Watkin 1890 einen öffentlichen Architekturwettbewerb für einen etwa 350 Meter hohen Turm aus und erhielt 68 Vorschläge aus aller Welt, einschließlich den USA, Italien, Deutschland, der Türkei und Australien. Einige der Entwürfe waren fantasievoll verschlungen, andere offensichtlich unpraktisch, wenn nicht gar unmöglich.

So gehörte zu den Vorschlägen ein Turm, der vom Schiefen Turm von Pisa inspiriert war (Nr. 28), Nachbildungen des Pariser Eiffelturms und sogar ein über 600 Meter hoher Turm in Form einer mehrstöckigen Hochzeitstorte – mitsamt Eisenbahn, die spiralförmig nach oben führte (Nr. 6). Ein anderer Entwurf wurde als „Luftkolonie“ beschrieben, komplett mit hängenden Gemüsegärten. Wieder andere sahen ein gigantisches kuppelförmiges Gewächshaus (Nr. 52) oder einen Globus auf der Spitze (Nr. 64) vor. Weitere ähneln architektonisch auffällig den heutigen höchsten Gebäuden der Welt (Nr. 5, 12, 42).

Durchsetzen und über das Preisgeld von 500 Guinees, britischen Goldmünzen im heutigen Goldwert von knapp 23.000 Euro, freuen, konnten sich schließlich MacLaren, William Dunn und der Ingenieur A. D. Stewart. Ihr Entwurf (Nr. 37) sah einen 366 m hohen Metallturm mit acht Beinen vor, der den Eiffelturm um 45,8 Meter überragen sollte.

Außerdem sollte er zwei Aussichtsplattformen mit Restaurants, Theatern, Tanzsälen, Ausstellungsräumen, türkischen Bädern und einem Hotel mit 90 Zimmern bekommen. Die Spitze des Turms sollten Gäste über ein System von Aufzügen in wenigen Minuten erreichen. Dort waren weitere Aussichtsplattformen, ein astronomisches Observatorium und ein Frischluftsanatorium vorgesehen.

Wembley war nicht das Marsfeld

Watkin gründete die International Tower Construction Company, um den Bau zu beaufsichtigen. Nach dem Ausbleiben von Investoren begannen 1892 die Arbeiten an den Fundamenten für einen abgespeckten Entwurf mit nur vier Beinen und deutlicher Ähnlichkeit zum Eiffelturm. Vielleicht war es diese Entscheidung, die den Turm schließlich zu Fall brachte.

1893 begann der eigentliche Turmbau. Fotograf unbekannt (vor 1900). Foto: public domain

Bereits 1894 eröffnete der umliegende Park und zog allein im zweiten Quartal mehr als 100.000 Besucher an. Als ein Jahr später die erste Ebene in 47 Metern Höhe fertiggestellt wurde, waren es im ganzen Jahr 120.000 Gäste. Ab 1896 erhielt die Öffentlichkeit Zugang zum Turmstumpf, allerdings nutzte von nur noch 100.000 Parkbesuchern nicht einmal jeder Fünfte diese Möglichkeit. Dafür gab es zwei wesentliche Gründe, die sich in einem Satz zusammenfassen ließen: Wembley war nicht das Marsfeld.

Einerseits war die Entfernung zum Stadtzentrum in London zu groß. „Wembley war nicht das Äquivalent zum Standort des Eiffelturms, um es milde auszudrücken“, sagte Christopher Costelloe, Direktor der Victorian Society, gegenüber der BBC. „Die Leute würden dort ankommen und feststellen, dass es nicht viel zu sehen gibt, schon gar keinen Panoramablick auf London. Hätte er es im Hyde Park gebaut, wäre es wahrscheinlich ein Riesenerfolg gewesen.“

Fertigstellung der ersten Ebenen im September 1895. Bis zur Zielhöhe fehlt noch fast exakt ein Eiffelturm.

Fertigstellung der ersten Ebenen im September 1895. Bis zur Zielhöhe fehlt noch fast exakt ein Eiffelturm. Fotograf unbekannt (1900). Foto: public domain

Andererseits war das das Land für einen solchen Turm nur bedingt geeignet. Bereits nach Fertigstellung der ersten Ebene sackten die Beine ein und der Turm entwickelte eine bedenkliche Neigung, die sich im Laufe der Zeit vergrößerte. Ein Weiterbauen wurde schließlich als zu gefährlich eingestuft und ausgeschlossen.

Hinzu kam ein Schlaganfall Watkins, der ihn zwang, seine Führungsrolle in der Tower Construction Company ruhen zu lassen. Damit verlor der Turm, der einst nach Königin Victoria benannt werden sollte, seinen größten Unterstützer. Nach Geldproblemen 1896 ging die Baufirma 1899 in Liquidation. Nach drei Jahren Bauzeit und sieben Jahren Stillstand sah man sich schließlich zum Abriss gezwungen. Ab 1902 wurde der Turm rückgebaut, die Fundamente gesprengt und das Altmetall nach Italien exportiert.

Die Vision des Erbauers, nur anders

„Wie andere viktorianische Männer dieser Zeit wollte [Watkin] der Welt seinen Stempel aufdrücken“, sagte Jason Sayer von der London School of Architecture. „Zu dieser Zeit gab es eine Menge britischen Stolz und er wollte die globalen Errungenschaften des Landes verkörpern. […] Der Turm sollte sein Vermächtnis werden“.

Watkin's Eiffelturm im Größenvergleich.

Watkins „Eiffelturm“ im Größenvergleich. Zum Vergrößern klicken. Foto: Cnbrb (CC0 1.0)

Stattdessen reihte sich das Bauvorhaben in andere – gescheiterte – Projekte des Visionärs Watkin ein. So unternahm er mit der Anglo-French Submarine Railway Company bereits 1881 den Versuch, sein Eisenbahnimperium mit einem Tunnel unter dem Ärmelkanal mit dem französischen Schienennetz zu verbinden. Eröffnet wurde ein solcher „Eurotunnel“ schließlich erst 1994.

Auch in Wembley war Watkin seiner Zeit voraus, dennoch ebnete sein Turmbau wortwörtlich das Land für die folgende Entwicklung. Der Wembley-Park blieb ein beliebter Erholungsort und die Tower Construction Company machte ihre Verluste wieder wett, indem sie 1906 als Wembley Park Estate Company neu gegründet wurde und den Vorort Wembley anlegte. Sir Edward William Watkin erlebte es nicht mehr, er starb 1901.

Die ersten und letzten Zeitzeugen von Londons Eiffelturm

Statt über 100 Jahre unter dem Ärmelkanal, dauerte es in Wembley indes nur knapp 20 Jahre, bis Watkins Vision eines blühenden Stadtteils Wirklichkeit wurde – wenn auch anders als erhofft: Bis 1923 entstand anstelle des Turms und im Rahmen der „Ausstellung des britischen Weltreichs“ das berühmte „Empire Stadium“.

Das Oval des ersten „Wembley Stadions“ entstand um die Restlöcher der gesprengten Turmfundamente. Simmons Aerofilms (um 1920). Foto: public domain

80 Jahre später und inzwischen bekannt als Wembley-Stadion wurde es erneuert und wird seither von einem unverkennbaren stählernen Bogen überragt. Dieser ist zwar weder so hoch wie Watkins Traumturm noch so hoch wie sein französisches Vorbild, mit 133 Metern aber fast dreimal so hoch wie „Londons Turmstumpf“.

Während der Baumaßnahmen im neuen Jahrtausend fanden Arbeiter große Betonfundamente unter dem Spielfeld. Sie waren die ersten – und letzten – Zeitzeugen von Londons Eiffelturm.

Anstelle des Wembley Stadions sollte vor 130 Jahren der Watkin's Eiffelturm entstehen.

Ein Fußballfan vor dem Freundschaftsspiel England – Frankreich am 17. November 2015 im neuen Wembley-Stadion. Anstelle des Stadions sollte hier vor 130 Jahren der Watkin’s Tower entstehen. Foto: Justin Tallis/AFP via Getty Images



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