Interne Dokumente legen offen: Chinas Verzögerung von sechs Tagen hatte verheerende Folgen

Chinesische Beamte stellten Mitte Januar fest, dass sie wahrscheinlich mit einer Pandemie konfrontiert sind und ordneten Vorbereitungen an. In der Öffentlichkeit haben sie die Gefahr allerdings weiterhin verharmlost.
Titelbild
Ein Polizeibeamter mit Gesichtsmaske hält Wache am Flughafen Tianhe nach der Wiederöffnung am 8. April.Foto: Hector Retamal/AFP über Getty Images
Von 16. April 2020

China hat der Welt knapp eine Woche lang verheimlicht, dass es eine Corona-Pandemie befürchtet, schreibt das Webportal MSN und beruft sich auf interne Dokumente, welche der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) vorliegen.

In den sechs Tagen, nachdem hochrangige chinesische Beamte insgeheim festgestellt hatten, dass sie wahrscheinlich mit einer Pandemie durch ein neuartiges Coronavirus konfrontiert seien, veranstaltete die Stadt Wuhan im Epizentrum der Krankheit ein Großbankett für Zehntausende von Menschen; Millionen begannen mit der Durchreise zur Feier des Mond-Neujahrs, schreibt AP.

Chinas Staatschef Xi Jinping warnte die Öffentlichkeit erst am siebten Tag. Das war der 20. Januar. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits mehr als 3.000 Menschen infiziert. Das geht laut AP aus internen Dokumenten und Schätzungen von Experten auf der Grundlage rückblickender Infektionsdaten hervor. Die chinesische Regierung rechnete demnach schon am 14. Januar mit einer Pandemie.

Verzögerung von sechs Tagen hat verheerende Folgen

Die sechstägige Verzögerung spielt eine große Rolle. Chinas Versuch, eine Grenze zwischen der Warnung der Öffentlichkeit und der Vermeidung von Panik zu ziehen, schuf die Voraussetzungen für eine Pandemie, die mehr als 2 Millionen Menschen infiziert und mehr als 133.000 Menschenleben gefordert hat, schlussfolgert das Medium.

„Das ist gewaltig“, sagte Zuo-Feng Zhang, ein Epidemiologe an der Universität von Kalifornien, gegenüber AP. „Hätten sie sechs Tage früher gehandelt, hätte es viel weniger Patienten gegeben und die medizinischen Einrichtungen wären nicht überfordert gewesen. Wir hätten vielleicht den Zusammenbruch des medizinischen Systems in Wuhan verhindern können“, so Zhang.

Dem Medium zufolge geht aus den Dokumenten hervor, dass der Leiter der Nationalen Gesundheitskommission Chinas (CDC), Ma Xiaowei, am 14. Januar in einer vertraulichen Telefonkonferenz mit Gesundheitsbeamten der Provinzen eine düstere Einschätzung der Situation abgegeben hat. In einem Memo heißt es, dass die Telefonkonferenz abgehalten wurde, um Anweisungen von Staatschef Xi Jinping, Premierminister Li Keqiang und Vizepremier Sun Chunlan zum Coronavirus zu übermitteln. Es wurde aber nicht präzisiert, um welche Anweisungen es sich dabei handelte.

Die Lage ist nach wie vor ernst und komplex, die schwerste Herausforderung seit SARS im Jahr 2003“, zitiert das Memo Ma.

Die CDC ist die oberste medizinische Behörde des Landes. In einer Erklärung per Fax teilte die Kommission mit, dass sie die Telefonkonferenz wegen eines in Thailand gemeldeten Falls (am 13. Januar) und der Möglichkeit einer Verbreitung des Virus während der Neujahrsreise organisiert habe.

Die Fax-Mitteilung stammt von einer anonymen Quelle aus dem medizinischen Bereich. AP bestätigte den Inhalt mit zwei weiteren Quellen aus dem öffentlichen Gesundheitswesen, die mit der Telefonkonferenz vertraut sind. Ein Teil des Inhalts des Memos erschien auch in einer öffentlichen Bekanntmachung über die Telefonkonferenz, die im Februar veröffentlicht wurde.

In einem Abschnitt mit dem Titel „Nüchternes Erfassen der Situation“ hieß es: „Gehäufte Fälle deuten darauf hin, dass eine Übertragung von Mensch zu Mensch möglich ist“. Der Abschnitt wies auf den Fall in Thailand hin und erklärte, dass sich die Situation wegen der möglichen Ausbreitung des Virus im Ausland „erheblich verändert“ habe, zitiert AP aus dem Dokument.

„Mit der Ankunft des Frühlingsfestes werden viele Menschen reisen, und das Risiko der Übertragung und Verbreitung ist hoch“, hieß es in dem Memo weiter. „Alle Orte müssen sich auf eine Pandemie vorbereiten und darauf reagieren.“

Verharmlosung der Bedrohung, denn „soziale Stabilität hat oberste Priorität“

In dem Memo forderte der Leiter der CDC in China die Beamten auf, sich um Xi herum „zu verbünden“, und stellt klar, dass politische Erwägungen und soziale Stabilität während der langen Vorlaufzeit zu Chinas zwei größten politischen Treffen des Jahres im März oberste Priorität hätten.

Als Reaktion auf die Telefonkonferenz leitete das Zentrum für Seuchenkontrolle und -prävention in Peking am 15. Januar die interne Notfallreaktion auf höchster Ebene ein. Die obersten CDC-Führer wurden 14 Arbeitsgruppen zugewiesen, welche mit der Beschaffung von Mitteln, der Ausbildung von Gesundheitspersonal, der Sammlung von Daten, der Durchführung von Felduntersuchungen und der Überwachung von Laboratorien betraut wurden, zitiert AP aus internen Mitteilungen des CDC.

Die Nationale Gesundheitskommission verteilte auch einen 63-seitigen Leitfaden an die Gesundheitsbeamten der Provinzen, der AP ebenfalls vorliegt. In den Anweisungen wurden die Gesundheitsbeamten landesweit angewiesen, Verdachtsfälle zu identifizieren, Krankenhäuser sollten Fieberstationen eröffnen und Ärzte und Krankenschwestern Schutzkleidung anlegen. Sie waren als „intern“ und „nicht für die Verbreitung in der Öffentlichkeit“ gekennzeichnet.

Laut AP verharmlosten die Beamten in der Öffentlichkeit die Bedrohung jedoch weiterhin und verwiesen auf die 41 Fälle, die zu diesem Zeitpunkt öffentlich bekannt waren. „Wir sind zu dem Verständnis gelangt, dass das Risiko einer anhaltenden Übertragung von Mensch zu Mensch gering ist“, sagte Li Qun, der Leiter des Notfallzentrums der chinesischen CDC, dem chinesischen Staatsfernsehen am 15. Januar. Das war derselbe Tag, an dem Li zum Leiter einer Gruppe ernannt wurde, die Notfallpläne vorbereitete, wie eine Mitteilung der CDC zeigt.

Am 20. Januar gab Xi seine ersten öffentlichen Kommentare zu dem Virus ab. Er sagte, dass der Ausbruch „ernst genommen“ und jede mögliche Maßnahme durchgeführt werden müsse.

Wäre die Öffentlichkeit eine Woche früher gewarnt worden, Maßnahmen wie soziale Distanzierung, das Tragen von Masken und Reisebeschränkungen zu ergreifen, hätten die Fälle um bis zu zwei Drittel reduziert werden können, wie in einem Papier später dargelegt wurde. „Eine frühere Warnung hätte Leben retten können,“ sagte Zuo-Feng Zhang im Gespräch mit AP.

Andere Experten stellten fest, dass die chinesische Regierung möglicherweise mit der Warnung an die Öffentlichkeit gewartet habe, um die Hysterie abzuwehren, und dass sie in dieser Zeit im Geheimen gehandelt habe.

Die sechstägige Verspätung der chinesischen Führung in Peking kam zu den fast zwei Wochen hinzu, in denen das nationale Zentrum für Seuchenkontrolle keine Fälle von lokalen Beamten registrierte, wie interne Mitteilungen, welche AP vorliegen, bestätigen. Dennoch erschienen in dieser Zeit, vom 5. bis 17. Januar, Hunderte von Patienten in Krankenhäusern nicht nur in Wuhan, sondern im ganzen Land.

Es ist ungewiss, ob es lokale Beamte waren, die es versäumt haben, Fälle zu melden, oder nationale Beamte, die es versäumt haben, sie zu registrieren. Es ist auch nicht klar, was genau die Beamten damals in Wuhan wussten, schreibt AP.

Klar ist jedoch, so Experten, dass Chinas strenge Informationskontrollen, bürokratische Hürden und seine Abneigung, schlechte Nachrichten in der Befehlskette nach oben zu senden, Frühwarnungen gedämpft haben. Die Bestrafung von acht Ärzten wegen Verbreitung von „Gerüchten“, die am 2. Januar im nationalen Fernsehen ausgestrahlt wurde, ließ Mediziner in den Krankenhäusern der Stadt erschaudern. „Die Ärzte in Wuhan hatten Angst“, sagte Dali Yang, Professor für chinesische Politik an der Universität von Chicago. „Es war wirklich die Einschüchterung eines ganzen Berufsstandes.“

Die chinesische Regierung hat die Unterdrückung von Informationen in den ersten Tagen wiederholt bestritten und gesagt, sie habe den Ausbruch sofort der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gemeldet.

Frühere Epidemien in China zeigen jedoch, dass jedes Mal viele Gelegenheiten zur Eindämmung der Krankheiten verpasst wurden, wie Dokumente und Augenzeugen berichten. Unter Xi, Chinas autoritärstem Führer seit Jahrzehnten, hat die zunehmende politische Repression die Beamten zögerlicher gemacht, deswegen meldeten sie keine Fälle ohne klares „grünes Licht“ von oben, schreibt AP.

Bürgermeister von Wuhan: „Als örtlicher Regierungsbeamter durfte ich Informationen nur mit Genehmigung weitergeben“

Ärzte und Krankenschwestern in Wuhan berichteten chinesischen Medien, dass es bereits Ende Dezember zahlreiche Anzeichen gab, dass das Coronavirus zwischen Menschen übertragbar war. Patienten, die nie an der vermuteten Quelle des Virus, dem Huanan Meeresfrüchte-Markt, gewesen waren, wurden infiziert. Auch das medizinische Personal begann zu erkranken.

Während dieses Zeitraums sagten Expertenteams, die von Peking nach Wuhan entsandt wurden, dass sie keine klaren Anzeichen von Gefahr und Übertragung von Mensch zu Mensch feststellen konnten. Ein Expertenteam, das am 8. Januar entsandt wurde, konnte ebenfalls keine klaren Anzeichen einer Übertragung von Mensch zu Mensch ausmachen. Doch während ihres Aufenthalts waren bereits mehr als ein halbes Dutzend Ärzte und Krankenschwestern an dem Virus erkrankt, wie eine später im „New England Journal of Medicine“ veröffentlichte umfassende retrospektive Studie der chinesischen CDC zeigte.

AP zufolge suchten diese Teams nach Patienten mit schwerer Lungenentzündung und übersahen diejenigen mit milderen Symptomen. „Sie schränkten die Suche auch auf diejenigen ein, die den Meeresfrüchtemarkt besucht hatten – was im Nachhinein ein Fehler war“, sagte Cowling, ein Epidemiologe aus Hongkong, der Ende Januar nach Peking flog, um die Fälle zu überprüfen.

In den Wochen, nachdem die Schwere der Epidemie deutlich wurde, beschuldigten einige Experten Beamte aus Wuhan, Fälle absichtlich zu verheimlichen. „Ich hatte immer den Verdacht, dass es von Mensch zu Mensch übertragbar ist“, schrieb Wang Guangfa, der Leiter des zweiten Expertenteams, in einem Beitrag vom 15. März auf Weibo, einer chinesischen Social-Media-Plattform. Kurz nach seiner Rückkehr nach Peking am 16. Januar erkrankte er selbst an dem Virus.

Der damalige Bürgermeister von Wuhan, Zhou Xianwang, machte nationale Vorschriften für die Geheimhaltung verantwortlich. „Als örtlicher Regierungsbeamter durfte ich Informationen nur mit Genehmigung weitergeben“, sagte Zhou Ende Januar den staatlichen Medien. „Viele haben das nicht verstanden.“ Chinesische Spitzenfunktionäre wurden im Dunkeln gelassen, schreibt AP.

„Die CDC handelte träge und nahm an, alles sei in Ordnung“, sagte ein staatlicher Gesundheitsexperte, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben möchte. „Wenn wir ein oder zwei Wochen früher begonnen hätten, etwas zu tun, hätten die Dinge ganz anders laufen können“.



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