TESCREAL: Die technologisch-utopische Zukunft aus dem Silicon Valley

Willkommen in der schönen neuen Techwelt: Der TESCREALismus fasst die Schnittmenge der Silicon-Valley-Visionen für Mensch und Maschine zusammen und zeigt auf, wohin die Reise gehen soll, wenn es nach den Techgurus geht. Was bedeutet die neue KI-Religion – vor allem für den Menschen?
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Was erwartet den Menschen?Foto: Istock metamorworks
Von 24. Oktober 2023

Die Tage, als wir noch glaubten, wir hätten eine Seele und einen freien Willen, seien endgültig vorbei, so der Bestsellerautor Yuval Noah Harari. Menschen seien jetzt „Tiere, die gehackt werden können“, erklärte Harari in einem CNN-Interview im November 2019. Mit „hacken“ ist in diesem Fall das Eindringen wie in ein Computersystem gemeint. Schon bald, das vertritt der Hausphilosoph des World Economic Forum (WEF), könnten wir durch die Verschmelzung mit Technik „Übermenschen“ sein.

Upgrade zum Übermenschen

In seinem Bestseller „Homo Deus – die Geschichte von morgen“ beschreibt der israelische Historiker Technologie als „gottgleich, magisch oder direkt als die nächste Stufe der Evolution, die den Menschen überholt“. Wer sich nicht bald selbst „upgradet“, verliert den Anschluss. Dazu gehört die Integration von Technologie in den menschlichen Körper, wie es der Transhumanismus anstrebt.

Das „Potenzial“ der Verschmelzung von Mensch und Maschine hat WEF-Gründer Klaus Schwab an vielen Stellen deutlich gemacht. Harari ist ein brillanter Beobachter dieses Prozesses. In seinen Büchern hat er immer auch die ethisch-moralische Frage gestellt. Nur haben wir sie als Gesellschaft bisher nicht beantwortet und die Dinge nehmen rasant ihren Lauf. Der Transhumanismus ist allerdings nur ein Teil einer wachsenden Bewegung, die sich den unbegrenzten Möglichkeiten des technischen Fortschritts verschrieben hat. TESCREAL ist ihr Name. Das ist ein Akronym, also ein aus den Anfangsbuchstaben mehrerer Wörter gebildetes Kurzwort, das eine ganze Gruppe von Ideologien bündelt: Transhumanismus, Extropianismus, Singularitarismus, Kosmismus, Rationalismus, effektiver Altruismus und Langfristigkeit.

Ethisch problematische Anschauungen der Techbranche

Den Begriff TESCREALismus (gesprochen Tesc-Real-Ism oder -Ismus) hat die prominente Forscherin aus den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI) und Ethik, Dr. Timnit Gebru, zusammen mit anderen Forschern und Philosophen wie Émile Torres geprägt. Gebru hatte TESCREAL in die Debatte eingebracht, um vor ethisch problematischen Anschauungen in der Techbranche zu warnen. Die Wissenschaftlerin selbst wurde 2020 von Google entlassen, nachdem sie sich gegen die ihrer Meinung nach fehlenden ethischen Leitplanken des Unternehmens ausgesprochen hatte.

Schnittmenge des zukünftigen Albtraums?

Der TESCREALismus ist im Grunde die KI-zentrierte Weltanschauung, die sich aus den sich überschneidenden Glaubenssystemen seiner Bestandteile ergibt. Oder anders herum: Beim TESCREALismus sammeln sich gleich mehrere Ismen mit sich überlagernden Sichtweisen. Dadurch ist es beschreibbar als eine Art Ideologiebündel. Diejenigen, die sich den Überzeugungen des TESCREALismus verschrieben haben, hoffen auf eine technologisch-utopische Zukunft mit einer gentechnisch veränderten Bevölkerung. Diese Noch-Menschen sitzen zumeist in der San Francisco Bay Area. Zumindest überwiegend von dort, aus dem Silicon Valley, kommen die Ideen und „Ismen“ dazu.

Utopie mit „verbesserten“ Postmenschen

Im Mittelpunkt des TESCREALismus steht eine technisch-utopische „Zukunftsvision, in der wir zu einer neuen Spezies ‚verbesserter‘ Postmenschen werden, den Weltraum kolonisieren, die Natur unterwerfen, den Kosmos wegen seiner enormen Ressourcen ausplündern und riesige, im Weltraum schwebende Computer bauen, auf denen Virtual-Reality-Simulationen laufen, in denen Billionen und Billionen ‚glücklicher‘ digitaler Wesen leben.

Das ultimative Ziel für die TESCREAL-Bewegung ist die Maximierung der Gesamtmenge an ‚Wert‘ im Universum“, fasst Émile Torres auf truthdig.com zusammen: Transhumanismus, Extropianismus, Singularitarismus, Kosmismus, Rationalismus, effektiver Altruismus und Langfristigkeit – diese Bündelung repräsentiert das ganze Programm: Die verschiedenen Ismen überschneiden sich nicht nur in ihrer Geschichte, sondern haben viele Schnittmengen in ihren Ideologien.

Transhumanismus: Verschmelzung von Technik und Mensch

Beim Transhumanismus soll sich der Mensch durch die Kombination von biologischen und synthetischen Technologien verbessern, um seine Art „weiterzuentwickeln“. Zu seinen prominentesten Vertretern zählen heute die Unternehmer der größten US-amerikanischen Techkonzerne Bill Gates oder Elon Musk, dessen Projekt Neuralink eines Tages den Menschen mit einem Gehirnimplantat vernetzen will. Die Idee: Der Mensch müsse sich mit Technik verbinden, um in Zukunft mit einer fortschrittlichen Künstlichen Intelligenz mithalten zu können oder um neue Gebiete im Weltall zu erschließen.

Extropianismus: Alle Hindernisse überwinden

Der Extropianismus ist eine Strömung des Transhumanismus. Er geht davon aus, dass der Mensch der Entropie entgegenwirken und so die menschliche Lebensspanne verlängern kann – im Extropianismus-Idealfall sogar bis ins Unendliche. Kernpunkte des Extropianismus sind das Verlangen nach mehr Intelligenz, Weisheit und Effektivität, nach unbegrenzter Lebensdauer und der Beseitigung politischer, kultureller, biologischer und psychologischer Grenzen, grenzenloser Fortschritt und die Besiedelung des Weltalls. Kurz: Die Überwindung von Hindernissen, die unserem Fortschritt und unseren Möglichkeiten im Wege stehen.

Singularitarismus: Unsterblicher Geist und überflüssiger Körper

Der Singularitarismus geht davon aus, dass die Technologie so weit fortschreiten wird, dass sie die menschliche Intelligenz übertrifft und dass sie beginnt, sich selbst zu entwerfen, was sich exponentiell beschleunigt und zu einer „Singularität“ oder einer unumkehrbaren Explosion des technologischen Fortschritts führt.

Die erste Superintelligenz wäre damit die letzte Erfindung der Menschheit, da spätere Innovationen weitestgehend unabhängig von menschlichen Akteuren durch Maschinen entwickelt würden. Damit wäre die Zukunft der Menschen nicht mehr vorhersehbar.

Populär wurde der Begriff durch das 2005 erschienene Buch „The Singularity Is Near: When Humans Transcend Biology“ (deutscher Titel: „Menschheit 2.0: Die Singularität naht“) von Raymond Kurzweil, der das Eintrittsdatum in die Singularität auf das Jahr 2045 schätzt. Dann werde sich, so Kurzweil, die Künstliche mit der menschlichen Intelligenz verschmelzen. Das Bewusstsein des Menschen werde sich dann vollständig auf Maschinen übertragen lassen, der biologische Körper wird somit überflüssig.

Für Kurzweil, dem derzeitigen Leiter der KI-Forschungsprojekte bei Google, wäre das der Schritt hin zur Unsterblichkeit des menschlichen Geistes. Diese drei Ideen, bei TESCREAL das T, E und S, werden seit mehreren Jahrzehnten diskutiert und von Technologiepredigern wie Ray Kurzweil propagiert.

Cosmism – Wiedererweckung der Toten und Kolonialisierung des Kosmos

Aber die TESCREAL zugrunde liegenden Ideen gehen noch weiter zurück: Kosmismus, das „C“ in TESCREAL, ist eine Denkrichtung, bei der schon im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Denker und Künstler der russischen Avantgarde das Ziel verfolgten, die Menschen durch Technologie unsterblich zu machen. Begründer des Kosmismus war der Philosoph Nikolai Fjodorow (1829–1903), der ein asketisches Leben als Bibliothekar führte, aber wie auch Karl Marx die Meinung vertrat, dass die Philosophen die Welt jetzt genug interpretiert hätten und es nun an der Zeit sei, sie zu verändern.

Fjodorow wollte seinerzeit die wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu nutzen, die Toten auferstehen zu lassen, indem er die körperlichen Überreste der Vorfahren zur Wiederbelebung sammeln lassen wollte. Da die Erde für eine von ihm erdachte, unsterbliche Menschheit auf absehbare Zeit zu klein werden würde, schlug er die Eroberung und Besiedlung des Weltraums als neuen Lebensraum vor.

Effektiver Altruismus: „Herz statt Kopf“ als Problem

Der sich seit 2010 etablierende Effektive Altruismus (EA) zielt darauf ab, die Philanthropie, also „Menschenliebe“, mit all ihren Auswirkungen von Mildtätigkeit, Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft gegenüber Bedürftigen sowohl im Hinblick auf die Effizienz als auch auf das Endergebnis zu überdenken und vor allem neu zu gestalten. Anstatt beispielsweise der frierenden Person gegenüber mit einer Decke zu helfen, könnte es nach dem Effektiven Altruismus sinnvoller sein, Systeme zu entwickeln, die sicherstellen, dass bestimmte Menschen Ressourcen erhalten, um ihre langfristigen Chancen zu maximieren, die Welt zu verändern.

„Das Problem“ sei, so sagen es die EAs, dass Menschen nicht rational handeln, denn die meisten Menschen helfen mit dem Herz, nicht mit dem Kopf. Unter der Überschrift „Hirn statt Herz“ schrieb der „Spiegel“ 2017 über diese Philosophie: „Effektive Altruisten wollen nicht bloß Gutes tun, sondern mit ihrem Engagement das beste Ergebnis erzielen. Dafür rechnen sie aus, wessen Leben am meisten wert ist. Darf man das?“

Die Kernidee des Effektiven Altruismus ist, mit wenigen Mitteln möglichst viel Gutes zu bewirken. Effektive Altruisten fragen nämlich: Was bringt den höchsten Nutzen? Wo erzielt eine Spende die größte Wirkung? „ZEIT Campus“ fragt in einem Bericht aus dem Jahr 2016: „Heiligt der Zweck die Mittel? Dürfte man beispielsweise in einem Konzern wie Monsanto oder an der Wall Street arbeiten, wenn man dafür einen großen Teil des Einkommens effektiv spendet“? Die Effektiven Altruisten sagen: Ja! Und dass andernfalls eine andere Person, die nicht spendet, den Job machen würde.

Übrigens war Sam Bankman-Fried, der bekanntermaßen Milliarden US-Dollar von der Crypto-Börse FTX verprasst hat, einer der großen Namen der Effektiven Altruisten. Eines von Bankman-Frieds erklärten Zielen war es, viel Geld zu verdienen, damit er Investitionen in Bereichen des Effektiven Altruismus finanzieren konnte.

Alles nur Kopf: R wie Rationalismus

Der Rationalismus ist getragen von der philosophischen Idee, dass die Vernunft die Quelle und Grundlage für Wissen sein sollte. Dies steht im Gegensatz zum Empirismus, einer anderen bedeutenden philosophischen Strömung, die die Sinneserfahrung und die Beobachtung als Hauptquelle für Wissen ansieht.

Last but not least: Longtermism

Longtermism schließlich ist eine Philosophie, die von MacAskill und seinem Oxforder Philosophenkollegen Nick Bostrom vertreten wird. Mit einer Mischung aus Ideen des russischen Kosmismus und der EA befasst sich der Longtermismus mit der Maximierung zukünftiger „Intelligenzen“ im Universum und geht davon aus, dass jeder, der sich dem in den Weg stellt, unzähligen zukünftigen (potenziellen) Leben schadet.

Die Perspektive von Longtermism zielt auf langfristige Auswirkungen und Konsequenzen bei Entscheidungen und Handlungen ab. In der Wirtschaft kann Longtermism beispielsweise bedeuten, langfristig zu investieren, anstatt kurzfristige Gewinne anzustreben. Im Kern geht es darum, die Zukunft in den Mittelpunkt zu stellen. Denken, aber auch Ethik sind beim Longtermism zukunftsgerichtet, genauso wie moralische Prinzipien, das Wohl zukünftiger Generationen zu priorisieren.

Heutiges Leben weniger wert als zukünftiges

„Für Longtermisten geht’s darum, dass die Menschen, die heute leben, weniger wert sind als die vielen potenziellen Menschenleben der Zukunft“, heißt es dazu am 7. September 2023 im „Deutschlandfunk“ in der Sendung „Ist Künstliche Intelligenz eine Weltanschauung?“, und weiter: „Und dann ist es ja doch besorgniserregend bis erschreckend, sich vorzustellen, dass Menschen, die große Technologieunternehmen heute an führender Stelle verantworten und leiten, dass die von solchen Vorstellungen geleitet werden.“ Komplexe Ideologien in einem solchen „Bündel“ zusammenzufassen, könnte als eine gefährliche Verkürzung erscheinen, schreibt Dave Troy im „Washington Spectator“ unter der Headline „Understanding TESCREAL“.

Da jedoch die Informationskriegsführung zunehmend darauf abziele, die Welt in eurasische und atlantische Sphären, Traditionalisten und „Woke“, Fiat- und Hartwährungen aufzuteilen, sei es schwierig, die TESCREAL-Ideologien nicht als integralen Bestandteil der eurasischen Weltsicht zu betrachten. „Dank des Philosophen Émile Torres und Dr. Gebru, die gemeinsam das Akronym TESCREAL geprägt haben, haben wir jetzt eine Kurzform für die Beschreibung des Phänomens.“

„Ismen“ zur Rechtfertigung extremer Handlungen

Émile Torres selbst, der den Sammelbegriff TESCREAL als Sammelbegriff mit eingeführt hat für KI-zentrierte Weltanschauung made in Silicon Valley, erklärt seine Beweggründe ausführlich auf truthdig.com. Einst richtete sich fast seine gesamte akademische Forschung um die Förderung des „Langfristismus“/„Longtermism“, bis ihm Ende 2019 klar wurde, dass diese zur „Rechtfertigung“ einer Vielzahl extremer Handlungen verwendet werden kann und diese Ideologie zutiefst gefährlich sein könnte. Was ihn zur Beschreibung des Phänomens und zur Miterschaffung des Akronyms TESCREAL führte.

Beispielsweise Nick Bostrom – einer der führenden TESCREAListen – behauptete schon 2013, dass selbst „eine winzige Verringerung des existenziellen Risikos moralisch besser sein könnte als die Rettung von Milliarden Menschenleben, wenn man die Zahlen durchrechnet.“ Damals waren Dinge wie präventive Gewalt, Massenüberwachung oder das Opfern von Menschen laut Émile Torres nur provokante Ideen, „die in der akademischen Literatur kursierten, geschrieben von Leuten, die bei Politikern oder den reichen Oligarchen, die unsere Gesellschaften leiten, keinen großen Einfluss hatten“.

2023: Befürchtungen nicht mehr hypothetisch

Im Jahr 2023 seien diese Befürchtungen allerdings nicht mehr hypothetisch: „Erstens ist die TESCREAL-Bewegung ungemein mächtig geworden“, beschreibt Torres die Entwicklung. Sie dringe in außenpolitische Kreise und wichtige Regierungsinstitutionen wie die Vereinten Nationen ein, „wird mit Dutzenden Milliarden Dollar unterstützt, ist im Silicon Valley weitverbreitet und wird von Menschen mit einer großen Fangemeinde in den sozialen Medien gefördert.“

Elon Musk zum Beispiel sagt, Longtermism habe „eine enge Übereinstimmung mit [s]einer Philosophie“ und habe letztes Jahr einen Link zu Nick Bostroms Arbeit darüber retweetet, wie viele digitale Menschen es geben könnte, wenn wir den Weltraum kolonisieren, zusammen mit dem Kommentar: „Wahrscheinlich das wichtigste Papier, das je geschrieben wurde.“ Torres fasst den aktuellen Stand der neuen, KI-zentrierten Weltanschauung zusammen: „Die TESCREAL-Bewegung hat sich zu einer globalen Kraft entwickelt und sie gewinnt an Dynamik.“



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