Alles nur Verschwörungstheorie

Ein nicht nur philosophisches Essay über einen kontroversen Begriff. Von Dr. Michael Rectenwald
Dr. Michael Rectenwald: Alles nur Verschwörungstheorie
Verschwörung, Manipulation, Kontrolle – Realität oder Fiktion?Foto: iStock
Von 4. August 2022

Dieses Essay stellt eine „Verschwörungstheorie“ (oder besser noch eine Verschwörungshypothese) zur Verwendung des Begriffs „Verschwörungstheorie“ selbst dar.

Mir ist bewusst, dass der Begriff zu den wirkungsvollsten Schimpfworten zählt, die man einem Autor oder Redner entgegenschleudern kann. Und auch, dass der Begriff in erster Linie dafür verwendet wird, seinem Ziel die Legitimation abzusprechen und es herabzusetzen. Der Begriff wird nicht bloß dafür eingesetzt, die Behauptung eines Autors oder Sprechers zu diskreditieren, allein schon der Umgang mit angeblichen Verschwörungen gilt als Makel.

Der Begriff stellt eine verdichtete und verkürzte Methode dar, eine Behauptung negativ zu kategorisieren und den Behauptenden zu erniedrigen, ihn zu disqualifizieren und die Behauptung von vornherein gleich mit.

Indem ich über die „Verschwörung“ hinter der Verwendung des Begriffs schreibe, mache ich mich zugleich verwundbar für den Vorwurf, mit „Verschwörungstheorien“ zu hantieren. Ich würde behaupten, dass die Begriffe „Verschwörungstheorie“ und „Verschwörungstheoretiker“ am häufigsten von der politischen Linken verwendet werden und üblicherweise mit „rechten“ Argumenten und Gesprächspartnern in Verbindung gebracht werden. Indem ich also dieses Essay verfasse, lade ich die Linken offen dazu ein, mich zu verurteilen. Aber das geschieht absichtlich.

Geschichtlich gesehen

In den Vereinigten Staaten wird der Begriff „Verschwörungstheorie“ häufig auf eine Desinformations- oder Täuschungskampagne der CIA im Zusammenhang mit der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy angewendet. Das hat die Absicht, bis auf die offizielle Lesart zu diesem Ereignis alle anderen Theorien zu diskreditieren.

Doch das Oxford English Dictionary führt als erste Verwendung einen Artikel in der „American Historical Review“ aus dem Jahr 1908 an und definiert den Begriff so: „Theorie, wonach ein Ereignis oder Phänomen infolge einer Verschwörung zwischen interessierten Parteien eintritt; insbesondere der Glaube, dass ein verdeckter, aber einflussreicher Akteur (typischerweise politisch motiviert und von unterdrückerischen Absichten getrieben) für das unerklärliche Ereignis verantwortlich ist“.

Karl Popper ging 1957 in „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ offenbar als erster auf die Idee der Verschwörungstheorie ein und griff das Thema 1963 in „Vermutungen und Widerlegungen“ erneut auf. [Die Jahreszahlen wurden an die deutschen Veröffentlichungen angepasst.] In Band 2 der „Offenen Gesellschaft“, in dem er die historistische Methode von Karl Marx diskutiert, führt Popper den Begriff der „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ ein.

Dessen Annahme, die Hauptaufgabe der Soziologie bestehe darin, den künftigen Verlauf der Geschichte vorherzusagen, ist nach Auffassung Poppers völlig fehlgeleitet. Die Verschwörungstheorie der Gesellschaft definiert er wie folgt: „Dass die Erklärung eines sozialen Phänomens in der Entdeckung besteht, dass Menschen oder Gruppen an dem Eintreten dieses Ereignisses interessiert waren und dass sie konspiriert haben, um es herbeizuführen. Ihre Interessen sind manchmal verborgen und müssen erst enthüllt werden.“

Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens

Popper bezeichnet die Verschwörungstheorie der Gesellschaft als „typisches Ergebnis der Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens“. Und als eine Erklärung für die historische Kausalität, die das Handeln der Götter oder Gottes ersetzt durch „unheilvolle Machtgruppen, deren böse Absichten für alle Übel verantwortlich sind, unter denen wir leiden –, wie die Weisen von Zion, die Kapitalisten, die Monopolisten oder die Imperialisten“.

Poppers Problem mit der Verschwörungstheorie der Gesellschaft bestand nicht darin, dass es keine Verschwörungen gibt, sondern dass sie selten erfolgreich sind. Die Verschwörungstheorie räume der Macht der menschlichen Akteure zu viel Glaubwürdigkeit ein, so seine These.

Anstatt Verschwörungstheorien zu verstehen, sollten die Sozialwissenschaften lieber in erster Linie erklären, warum vorsätzliches menschliches Handeln (wozu auch Verschwörungen gehören), oftmals unbeabsichtigte Folgen haben kann.

Zuerst möchte ich auf eine Ironie der Geschichte hinweisen: Die erste ausführliche Anfechtung der Verschwörungstheorie der Gesellschaft durch Popper fand vor dem Hintergrund statt, dass man den Umgang mit Karl Marx‘ Methoden betrachtete.

Es fielen Theorien über „Monopolisten“, „Kapitalisten“ und „Imperialisten“ (die „Weisen von Zion“ lassen wir für den Augenblick außen vor). Der Vorwurf, es handele sich um eine „Verschwörungstheorie“, wird häufig von Sozialisten und anderen Linken erhoben.

Handelt es sich beim Marxismus um eine Verschwörungstheorie?

Doch Popper spricht davon, dass Marx‘ Methode ein Ableger der Verschwörungstheorie sei. Es sei „Historizismus“, ein Irrglaube. Er bringe die Gefahr einer geschlossenen Weltsicht und einer Manipulation gesellschaftlicher Abläufe auf eine scheinbar wissenschaftlich feststehende Zukunft hin mit sich.

Die Behauptung, es gebe eine echte Beziehung zwischen Historizismus und Verschwörungstheorie, wirft die Frage auf: Handelt es sich beim Marxismus um eine Verschwörungstheorie und wenn ja, inwiefern?

Eine Antwort darauf lässt sich zum Teil in Marx‘ Idee von einem „Klassenbewusstsein“ finden, also der Vorstellung, dass alle Mitglieder einer wirtschaftlichen Klasse einheitlich denken, einheitlich auf die Welt schauen und ihre Intentionalität identisch ist. Von besonderem Interesse in diesem Zusammenhang ist seine Behauptung, alle Mitglieder der kapitalistischen Klasse würden dieselbe Vorstellung haben und ihr entsprechend handeln, denn sie alle würden heimlich die Absicht haben, in der Produktion Wert aus der Arbeiterschaft zu ziehen.

Diesen Wert maß Marx (irrtümlich) in Form der sozial erforderlichen Arbeitszeit eines Rohstoffs. In „Das Kapital“ schreibt er: „Dass ein halber Arbeitstag nötig [sic!], um ihn während 24 Stunden am Leben zu erhalten, hindert den Arbeiter keineswegs, einen ganzen Tag zu arbeiten. Der Wert der Arbeitskraft und ihre Verwertung im Arbeitsprozess sind zwei verschiedene Größen. Diese Wertdifferenz hatte der Kapitalist im Auge, als er die Arbeitskraft kaufte.“

Anders gesagt: Alle Kapitalisten betrügen alle Angehörigen der arbeitenden Klasse jeden einzelnen Tag um ungefähr einen halben Tageslohn. Diesen methodischen und allgegenwärtigen Diebstahl bezeichnete Marx als „Mehrwert“, den der Kapitalist in der Produktion extrahiert und der die einzige Quelle seines Profits darstellt.

Dass alle Kapitalisten diese verborgene Absicht hegen und eigenständig danach agieren – ein Fakt, den Marx der Welt wohl „enthüllen“ wollte –, deutet auf eine Verschwörung hin, die in Umfang und Wirkung atemberaubend ist. Sie ist allerdings auch nicht atemberaubender als Marx‘ Vorwurf, ein derart gewaltiger, fortwährender und vorsätzlich durchgeführter Betrug stelle die Grundlage des Kapitalismus dar.

Kapitalisten handeln nicht kollektiv

Die Vorstellung, eine wirtschaftliche Klasse wirke geschlossen daran, Arbeiter „auszubeuten“, ist nicht weniger eine Verschwörungstheorie als zu glauben, dass eine jüdische Bande die Geschicke der Welt leitet.

Tatsächlich ist erstere Vorstellung sogar noch verdächtiger als letztere, schreibt sie doch der gesamten „kapitalistischen Klasse“ eine gemeinsame und geheime Absicht zu, eine, die sich noch nicht einmal die Verschwörer untereinander eingestehen. Es handelt sich schlicht um etwas, das jeder Kapitalist zu tun weiß und auch tut, unabhängig davon, in welcher Form er mit anderen Kapitalisten kommuniziert.

Außer acht gelassen wird dabei die Tatsache, dass Kapitalisten nicht kollektiv handeln, sondern vielmehr im Wettbewerb zueinander stehen und dass ein Teil dieses Wettkampfs der Kampf um die Ressource Arbeitskräfte ist. Dieser letztere Wettstreit treibt, wenn die Nachfrage hoch ist, die Preise für Arbeitskräfte hoch, anstatt sie zu senken.

Wie zentral dieses vermeintliche Phänomen für das marxistische Vorhaben ist, lässt sich nicht überbetonen. „Ausbeutung“ ist die Grundlage der marxistischen Forderung, dass sich die Arbeiterklasse „vereint“, sich erhebt und ihre kapitalistischen Herren stürzt. Sie ist die Grundlage für die Notwendigkeit einer kommunistischen Revolution. Diese Notwendigkeit basiert auf einer Verschwörungstheorie (und der falschen Arbeitswerttheorie).

„Haltet den Dieb“

Dennoch ist es interessanterweise wohl ausgerechnet die Gruppe der Sozialisten, die am ehesten den Vorwurf der „Verschwörungstheorie“ erhebt. Nehmen wir ein zeitgenössisches Beispiel, ein Essay, der 2017 im linken Onlinemagazin „CounterPunch“ erschien und von einem erklärten Marxisten verfasst wurde. Die Überschrift lautet „Neuanfang für den Faschismus: Der Aufstieg der Anti-Establishment-Kapitalisten“ und der Text beginnt wie folgt:

„Die Welt ruht auf einem Steilhang. Auf der einen Seite haben wir institutionalisierte Ausbeutung und imperialistische Gewalt. Die Prioritäten einer kleinen, instabilen kapitalistischen Klasse, die es vorziehen würde, dass der Rest von uns – diejenigen, die sich tagtäglich abmühen müssen, um sich ihre zum Überleben notwendigen Dinge wie Nahrung und ein Dach über dem Kopf kaufen zu können – als geschlossene Klasse unorganisiert bleibt, beschneiden auch weiterhin das Wohlergehen der Menschheit stark. Auf der anderen Seite haben wir diejenigen, die der Ansicht sind, dass die fundamentale Klassentrennung zwischen Herrschenden und Arbeiterschaft so unerträglich wie unnachhaltig ist, und die deshalb Massenbewegungen für sozialen Wandel, der der Herrschaft einer Klasse über eine andere ein Ende bereitet, organisieren und sich dort einbringen möchten.“

Zu Beginn finden wir Marx‘ Behauptung von einer Mehrwertschöpfung, gefolgt von der Auffassung, eine „kleine, instabile kapitalistische Klasse“ arbeite vorsätzlich daran, dass „der Rest von uns“ sich auch weiterhin nicht als geschlossene Klasse organisiert. Ebenso ist die Verschwörung der Kapitalisten größtenteils erfolgreich.

Im Artikel geht es weiter damit, dass sich der Autor äußert zu „problematischen und konspirativen, aber scheinbar gegen das Establishment gerichteten Vorstellungen, denen es gelegentlich gelungen ist, klassenbasierte Analysen zu der Frage, wie und warum es zu sozialem Wandel kommt, vorübergehend zu verdrängen“.

Der Brandrede zufolge handelt es sich um „rechtsgerichtete“ und „faschistische“ Ideen, die dort nicht weniger als 36-mal als „Verschwörungstheorien“ und „verschwörerisches“ Denken hingestellt werden, wie sie „Verschwörungstheoretiker“ betreiben.

Ich könnte Hunderte, wenn nicht Tausende Fälle vorlegen, bei denen Marxisten Menschen, die andere Ansichten vertreten, vorwerfen, „Verschwörungstheorien“ anzuhängen und „Verschwörungstheoretiker“ zu sein. Das lässt sich insofern erklären, als die Marxisten die Aufmerksamkeit weg davon lenken müssen, dass der Marxismus höchstselbst auf einer unbegründeten und unlogischen Verschwörungstheorie basiert.

Verschwörungen sind typisch soziale Phänomene

Lassen Sie mich zurückkehren zu Poppers „Offene Gesellschaft und ihre Feinde“ und darauf hinweisen, dass Popper, als er von der Verschwörungstheorie der Gesellschaft sprach, eine gründliche Theorie meinte, die sämtliche Ergebnisse erklären sollte:

„Diese Verschwörungstheorie der Gesellschaft behauptet, dass alle Ergebnisse, sogar jene, die auf den ersten Blick von niemandem beabsichtigt zu sein scheinen, die beabsichtigten Resultate der Handlungen von Menschen sind, die an diesen Resultaten interessiert sind.“

Diese Formulierung zeigt deutlich, dass sich Poppers Behauptung nicht auf sämtliche Verschwörungstheorien erstreckt. Verschwörungstheorien, die nicht behaupten, als Erklärung für alles zu dienen, fallen nicht unter Poppers Urteil.

Schließlich sind Verschwörungen typische soziale Phänomene, wie Popper einräumt. Und er behauptet, dass die meisten Verschwörungen scheitern, was im Umkehrschluss bedeutet, dass einige erfolgreich sind.

Darüber hinaus können Verschwörungstheorien möglicherweise nicht nur erfolgreich verlaufende Verschwörungen erklären, sondern auch jene, die letztlich fehlschlagen. Verschwörungstheorien – oder besser: Verschwörungshypothesen – sind nur ein Versuch, Ergebnisse versuchter Verschwörungen zu erklären.

Theorien, die nicht darauf abzielen, alles im Rahmen einer einzigen, übergreifenden Verschwörung zu erklären, fußen auf dem Eingeständnis, dass Verschwörungen tatsächlich existieren und dass einige Ergebnisse das Resultat einer erfolgreichen Verschwörung darstellen.

Ein versuchter Bankraub ist technisch betrachtet eine Verschwörung und wenn man erklärt, wie der Überfall auf eine Bank ablaufen soll, handelt es sich technisch betrachtet um eine „Verschwörungstheorie“. Ebenso lassen sich Verschwörungshypothesen nicht von vornherein pauschal abtun. Sie müssen ein Ansatz für das Verständnis sozialer Realitäten bleiben.

Wem nützt das?

Warum also werden „Verschwörungstheorien“ und „Verschwörungstheoretiker“ so kategorisch abgelehnt und angeprangert?

Wie Murray N. Rothbard angedeutet hat, ist die Kampagne gegen Verschwörungstheorien Teil einer Verschwörung, die dem Schutz der Verschwörer selbst dient. All jene, die Verschwörungen durchführen (auch Bankräuber) haben guten Grund, die Aufmerksamkeit weg von ihren Aktivitäten zu lenken.

Doch nur einige Verschwörer verfügen über ausreichend Macht dafür, und sie sind es, die das Tabu rund um Verschwörungstheorien erfunden und in Umlauf gebracht haben.

Ihre Handlanger in der akademischen Welt, den Medien und der breiten Allgemeinheit wachen gehorsam über die Einhaltung des Tabus und verunglimpfen regelmäßig all jene, die dieses Tabu brechen. Das stellt einen Weg dar, Verschwörungen geheim zu halten und Verschwörer ungestraft davonkommen zu lassen.

Anstatt sie öffentlich anzuprangern, entlasten all jene, die an der Durchsetzung des Tabus rund um Verschwörungstheorien arbeiten, ihre verbrecherischen Herren und loben sie über den grünen Klee. Wer also darauf aus ist, alle Verschwörungstheorien und Verschwörungstheoretiker aus der Welt zu schaffen, dient den Mächtigen und den Feinden der Wahrheit.

Über den Autor:

Dr. Michael Rectenwald ist ein ehemaliger Professor der Universität New York und hat elf Bücher verfasst, darunter „Beyond Woke, The Google Archipelago“ und „Springtime for Snowflakes“.

Der Artikel erschien zuerst auf der Website des Mises Instituts: „Do Conspiracies Really Exist? Murray Rothbard Thought So“ (deutsche Übersetzung ms, für den Druck leicht gekürzt)

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 55, vom 30. Juli 2022.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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