Energiewendemärchen: Die Erdbeerformel

Der Bau eines französischen Kernkraftwerks verzögert sich und kostet mittlerweile 19 Milliarden Euro. Wäre es nicht besser, für dieses Geld Solaranlagen zu bauen? Mitnichten, erklärt Prof. Thess von der Uni Stuttgart anhand Tiefkühl-Erdbeeren.
Erdbeeren
Wer frische Erdbeeren im Winter essen möchte, muss sie im Sommer ernten und „speichern“.Foto: iStock
Von 8. Februar 2022

In einem Magazinbeitrag, der auf Twitter breite Diskussionen ausgelöst hat, wird unter der Überschrift „Kernkraft rechnet sich nicht!“ behauptet, für 19 Milliarden Euro könne man entweder ein Kernkraftwerk mit 1,6 Gigawatt oder 400 Millionen Solarmodule mit 105 Gigawatt kaufen.

Die Analyse

Die Grafik erweckt den Eindruck, beide Optionen seien gleichwertig. In Wirklichkeit werden hier Äpfel mit Birnen verglichen – oder, genauer gesagt, gefrostete mit frischen Erdbeeren. Verweilen wir zunächst einen Moment in der Erdbeerwelt.

Die Vollversorgung mit Erdbeeren ist für eine Industrienation wie Deutschland zum Glück weniger existenziell als die grundlastfähige Versorgung mit CO₂-neutralem Strom. Trotzdem kann man an dem unpolitischen Beispiel einiges lernen. Bei einem Supermarktbesuch im Frühsommer 2017 dokumentierte ich, dass gefrorene („grundlastfähige“) Erdbeeren 4,64 €/kg und frische („saisonale“) Erdbeeren 2,38 €/kg kosten. Wie ist diese Differenz zu erklären? Benötigt man grundlastfähige Erdbeeren an 8.760 Stunden im Jahr, muss man im Sommer saisonale Erdbeeren billig einkaufen und durch Reinigung, Trocknung, Tiefkühlung und Verpackung grundlastfähig machen. Die Zusatzkosten nenne ich „Speicherkosten“. Dieser Sachverhalt lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Erdbeerpreis-Grundlast = Erdbeerpreis-Saisonal + Speicherkosten

Die Speicherkosten sind der Preis, den man für eine Vollversorgung bezahlen muss – im vorliegenden Fall 2,26 €/kg. Wir lernen an diesem Beispiel, dass es keine Vollversorgung zum Nulltarif gibt.

Kernkraftwerke liefern grundlastfähigen CO₂-neutralen Strom. Solarmodule liefern tagsüber CO₂-neutralen Strom. Nachts liefern sie keinen Strom. Um fluktuierenden Solarstrom in grundlastfähigen Solarstrom zu überführen, muss dieser gespeichert werden – in konventionellen Batterien oder in Carnot-Batterien. Diesen Umstand können wir nun in Analogie zum Einführungsbeispiel in der folgenden „Erdbeerformel“ zusammenfassen:

Strompreis-Grundlast = Strompreis-fluktuierend + Speicherkosten

Die Formel gilt gleichermaßen für Solar- und Windstrom. Die Speicherkosten lassen sich im einfachsten Fall aus der Formel I/N berechnen, wobei I die Investitionskosten in € pro kWh und N die Zyklenzahl bezeichnet. Im Internet können wir erfahren, dass die Tesla-Powerwall 1 pro gespeicherter Kilowattstunde knapp 500 Euro kostet und 5.000 Zyklen überlebt. Daraus folgen Speicherkosten von etwa 10 Cent pro kWh pro Ladezyklus. Es ist dem Leser überlassen, auf der Basis dieser oder anderer Zahlen zu berechnen, wie viel grundlastfähigen Solarstrom man für die zitierten 19 Milliarden erhält.

Das Fazit

Der weit verbreitete direkte Vergleich der Kosten von grundlastfähiger Kernenergie mit fluktuierender Solarenergie ohne Berücksichtigung von Speicherkosten ist ein Paradebeispiel für Energiewendemärchen. Jeder Bürger, dem die Wissenschaft am Herzen liegt, sollte nach dem Motto „Null-Toleranz gegenüber Pseudowissenschaft“ solche Taschenspielertricks mit Verweis auf die Erdbeerformel zurückweisen.

P.S.: Die Rechnung

Deutschland benötigt zu jedem Zeitpunkt etwa 50 bis 70 GW, mit der zunehmenden Elektrifizierung eher 70 GW. Bei optimistischen acht Volllaststunden am Tag benötigt man 210 GW installierte Leistung, um den täglichen Strombedarf von 1.680 GWh zu erzeugen. Zwei Drittel davon (1.120 GWh) müssen jeden Tag gespeichert werden. Das kostet 560 Milliarden Euro, die man alle 5.000 Tage, oder 13 Jahre und 8 Monate, investieren muss.

Um die oben genannten 105 GW Solarstrom 40 Jahre lang grundlastfähig zu machen, benötigt man demzufolge zusätzliche 840 Milliarden Euro für Speicher sowie weitere 19 Milliarden Euro, um nach etwa 20 Jahren die Solarmodule zu erneuern. Mit den anfänglichen 19 Milliarden Euro bekommt man noch etwa 2,3 GW grundlastfähige Solarmodule. Sofern es genug Rohstoffe für die Akkus gibt – und die Sonne jeden Tag, sommers wie winters, acht Stunden scheint.

Um den Strom länger als einen Tag zu speichern, steigen die Kosten linear mit der benötigten Speicherdauer. Um jeden Tag im Winterhalbjahr ausschließlich sommerliche Erdbeeren zu genießen, beliefen sich die Speicherkosten – alle 14 Jahre – auf 151 Billionen Euro. Für 19 Milliarden Euro bekäme man dann noch 0,013 GW winter- und grundlastfähige Solar-Erdbeeren.

Über den Autor

André D. Thess ist Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Autor des Buches „Sieben Energiewendemärchen?“ Dieser Artikel erschien im Original auf Prof. Thess‘ Profil-Seite unter dem Titel: Energiewendemärchen der Woche 02-2022: Die Erdbeerformel (Rechnung und redaktionelle Bearbeitung ts)

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 30, vom 5. Februar 2022.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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