H.-G. Maaßen: Jetzige Situation und besorgniserregende Entwicklungen in Deutschland (2. Teil)

Einen Rückblick auf die DDR vor dem Mauerfall und eine Bestandsaufnahme der augenblicklichen Situation in Deutschland stellte Dr. Hans-Georg Maaßen in einer Rede zusammen für ein Treffen der WerteUnion. Wir veröffentlichen sie hier mit seiner freundlichen Genehmigung. Der 2. Teil.
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Der frühere Verfassungsschutzpräsident Dr. Hans-Georg Maaßen.Foto: Adam Berry/Getty Images

Die Verweigerung des Gespräches, die Verweigerung der Sachauseinandersetzung mit der Begründung, das braucht man nicht zu diskutieren, weil es von „dem“ oder von „denen“ gesagt worden ist, die Ausgrenzung von politischen Gegnern sind zutiefst undemokratisch und deshalb abzulehnen. Ich sehe hier eine besorgniserregende Entwicklung in Deutschland.

Aus der Rede, gehalten bei der WerteUnion Sachsen-Anhalt am 9. 11. 2019 (1. Teil HIER). Zweiter Teil:

4. Die Gegenwart:

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wo steht Deutschland heute?

1987 bin ich mit einer Stipendiaten-Gruppe der Universität Köln in die DDR gereist. Es war eine Besichtigungsreise. Wir fuhren nach Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Wir waren in Eisenach, in Schmalkalden, in Weimar, Dresden, Leipzig und Magdeburg. Seit 1990 habe ich die meisten dieser Städte wiederholt besucht. Zuletzt auch im Zusammenhang mit meinem Wahlkampfauftritten für die CDU in Thüringen und in Sachsen.

Helmut Kohl hatte 1990 gesagt:

Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg- Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“

Vergleicht man die maroden Städte, die ich 1987 gesehen hatte, mit heute, dann ist es uns gelungen, aus verfallener Bausubstanz und maroder Infrastruktur blühende Landschaften zu schaffen. Auch die wirtschaftliche Situation hat sich in vielerlei Hinsicht wesentlich verbessert. Einer Stellungnahme des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zu- folge, sind rund 1,6 Billionen Euro in den Osten investiert worden. Zusätzlich erfolgten noch direkte Finanztransfers in Höhe von 560 Milliarden Euro.

Wenn man die mit dem Erreichten heute noch nicht zufrieden ist, kann ich das nur teilweise verstehen, denn man muss sich auch die heutige Situation in Westdeutschland anschauen, und diese mit der im Jahr 1989 vergleichen. Dort liegt heute sehr vieles im Argen, ob es Bausubstanz, Schulen, Straßen oder Brücken sind.

Ich hatte im Zusammenhang mit meinen Wahlkampfauftritten in Sachsen und in Thüringen die Gelegenheit, mit vielen Menschen ins Gespräch zu kommen. Mein Eindruck ist, dass nicht die wirtschaftliche Lage die Leute beunruhigt; die Menschen sind aus anderen Gründen zutiefst beunruhigt. Mir ist wiederholt gesagt worden, dass sich das heutige Deutschland schrittweise von dem Deutschland entfernt, für das man 1989 demonstrierte und das man sich mit der Wiedervereinigung erhoffte.

Mir sagten Menschen in Plauen, in Radebeul, in Suhl, Meiningen und anderswo, dass sie vor 30 Jahren nicht auf die Straße gegangen sind, um wieder Sozialismus zu haben. In den Augen vieler dieser Menschen sah ich Zorn, Wut, Hass und Traurigkeit über die Verhältnisse in Deutschland.

Ich habe in den vergangenen Wochen an einer Reihe von politischen Veranstaltungen im Westen Deutschlands teilgenommen. Ich war in dieser Woche zu Veranstaltungen der WerteUnion und von CSU und Junger Union in Düsseldorf, München und Augsburg. Erstaunlicherweise war die Reaktion in diesen Veranstaltungen nicht viel anders als im Osten, aber vielleicht ist der Anteil der Menschen, die dieses Unbehagen empfindet, im Westen nicht so hoch wie im Osten.

Das mag vielleicht daran liegen, dass die Menschen hier im Osten wesentlich sensibler dafür sind, was Eingriffe des Staates in das tägliche Leben angeht, was also Sozialismus bedeutet. Sie kennen den Sozialismus, und sie haben sich ihre Freiheiten selbst erkämpft und wollen sie nicht aufgeben. Dagegen musste man im Westen nie für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, für Meinungsfreiheit und Reisefreiheit kämpfen. Und schon gar nicht musste man den Mut aufbringen, wegen seiner Überzeugung ausgegrenzt, isoliert diskreditiert oder in Haft zu geraten.

Ich möchte zehn Punkte nennen, die mir 30 Jahre nach dem Mauerfall Sorge bereiten, und auf die ich auch wiederholt angesprochen wurde. Das sind Sorgen um die Stabilität unserer Demokratie und um die Zukunft Deutschlands.

(1.) Die Meinungsfreiheit:

Es besteht in breiten Bevölkerungsschichten der Eindruck, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland nicht mehr gewährleistet ist. Nach der kürzlich veröffentlichten Shell-Jugend-Studie, die jährlich erscheint, stimmten 68 % der befragten 2.572 Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 12 und 25 Jahren der Aussage zu: in Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden.

In einer Umfrage für die ARD ermittelte Infratest dimap Anfang September, dass 64 % der Brandenburger und sogar 69 % der Sachsen der Aussage zustimmen, bei bestimmten Themen werde man heute ausgegrenzt, wenn man seine Meinung sagt. Das Institut für Demoskopie Allensbach kam jüngst in seiner Untersuchung über die „Grenze der Freiheit“ zu dem Ergebnis, dass die Mehrheit der Deutschen glaubt, sich in der Öffentlichkeit heute nicht mehr zu allem frei äußern zu können. Fast zwei Drittel der von Allensbach Befragten (63 %) stimmten zu, dass man heute sehr aufpassen müsse, zu welchen Themen man sich wie äußert. Nur 23 % der Befragten sahen das nicht so. 78 % der Befragten meinte, man müsse bei einigen oder sogar bei vielen Themen vorsichtig sein, wenn man sich in der Öffentlichkeit oder nur unter Freunden und Bekannten dazu äußere. Lediglich 18 % gaben an, in der Öffentlichkeit bei allen Themen frei seine Meinung äußern zu können.

Besonders die Themen Flüchtlinge, Vaterlandsliebe und Patriotismus, Muslime und Islam werden als besonders heikel angesehen.

In einer meiner Wahlkampfveranstaltungen meldete sich ein Bürger zu Wort, und er sagte: „Natürlich gibt es bei uns Meinungsfreiheit, und das Gute ist, wenn die eigene Meinung dem Mainstream entspricht, dann wird man deshalb noch nicht einmal ausgegrenzt.“ Das klingt mir nach schwarzem Humor, wie man ihn in totalitären Staaten hatte.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn über 70 % der Menschen in Deutschland der Auffassung sind, dass sie nicht mehr frei ihre Meinung äußern können, haben wir ein demokratisches Problem.

(2.) Die Medien:

Die Medien sind in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar für die Meinungsbildung. Die Bürger müssen als Wahlbürger, als Souverän eine wahre Tatsachengrundlage haben, auf der sie ihre politischen Entscheidungen treffen können, und sie brauchen eine kompetente Einordnung und Bewertung von Sachzusammenhängen.

Das ist keine politische Liebeserklärung gegenüber Medien, es ist einfach die Feststellung, dass eine Demokratie nur dann funktionieren kann, wenn der Bürger weiß, worüber er entscheidet und was seine Entscheidungen für Folgen haben können.

Gilbert Chesterton, in Deutschland als Schöpfer der weltbekannten Romanfigur Pater Brown bekannt, war in seinem Heimatland England einer der bekanntesten Journalisten des beginnenden 20. Jahrhunderts. Er hatte einmal gesagt:

Schlimmer als die Zensur der Presse ist die Zensur durch die Presse.“

Er dachte daran, dass Medien selbst entscheiden könnten, etwas nicht oder manipulativ zu berichten.

Wir haben in Deutschland ein Medienproblem und eine Medienkrise, aber vor allem haben wir eine Vertrauenskrise in die Medien und das aus gutem Grund und das nicht erst seit dem Fall Relotius. Es besteht bei vielen Menschen der Eindruck, dass bestimmte Tatsachen von deutschen Medien nicht oder in manipulativer Weise verbreitet werden.

Nach Prof. Kepplinger, einem der bekanntesten deutschen Kommunikationsforscher, liegen die Parteipräferenzen deutscher Journalisten zu 36 % bei den Grünen und zu 25 % bei der SPD, aber nur zu 11 % bei CDU/CSU und nur zu 6 % bei der FDP. 23 % entfallen auf „Sonstige“ oder „ohne Parteineigung“. Mehrere Studien zeichnen ein ähnliches Bild: Deutsche Journalisten fühlen sich weit überwiegend linken Parteien nah, während die Verteilung unter den Bürgern – also den Lesern und Medienkonsumenten – anders aussieht. Der Vorstandsvor- sitzende von Axel Springer, Mathias Döpfner, bemerkte dazu in einem NZZ-Interview kritisch:

Wenn Medien politische Positionen der Bevölkerung so verzerrt repräsentieren, führt das auf die Dauer zu einer Entkoppelung.“

Hinsichtlich der privaten Medien sehe ich dies persönlich nicht als das größte Problem an, denn es ist ihr gutes Recht eine bestimmte völlig einseitige politische Tendenz zu vertreten. Niemand ist gezwungen, das Neue Deutschland oder die Süddeutsche Zeitung zu kaufen. Pressefreiheit ist die Freiheit, sich als Medium auch bestimmten politischen Positionen und Standpunkten anzuschließen. Und Pressefreiheit ist auch die Freiheit diese Positionen auch sehr einseitig und unter Weglassung anderer Tatsachen und Argumente zu vertreten. Private Medien unterliegen nicht der Wahrheitspflicht. Dafür sollte es auch eine Konkurrenz auf dem Medienmarkt geben.

Ganz anders ist es beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Er ist zur ausgewogenen und wahrhaftigen Berichterstattung verpflichtet. Nicht damit vereinbar ist die Einstellung eines Tages- schau-Journalisten, für den Haltung wichtiger ist als Fakten, eine NDR-Autorin, die jedem fünften Thüringer „eine reinhauen will“, weil er AfD gewählt hat, ein DLF-Journalist der offen zum Hass gegen alle aufruft, die er für rechts hält. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist heute leider weit entfernt von Meinungspluralismus und einer breiten auf Tatsachen fußenden Berichterstattung. Wir brauchen eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Und wir müssen in Zeiten des Internets und der sozialen Medien auch überlegen, ob wir nicht gänzlich auf diesen öffentlich-rechtlichen Rundfunk verzichten.

(3.) Meinungsmanipulation:

Vielen Menschen ist erst im Zusammenhang mit dem so genannten „Framing Manual“ der ARD der Ausdruck Framing bekannt geworden. Framing ist die Einbettung von Ereignissen und Themen in Deutungsraster. Oder anders formuliert: Durch die Wahl bestimmter Worte und bestimmte Zusammenhänge will man beim Adressaten bestimmte Bilder erzeugen. Durch Ausdrücke, wie zum Beispiel „medienkapitalistische Heuschrecke“ für private Fernsehsender, im Unterschied zur ARD, die sich als „verlängerter Arm des Bürgers“ bezeichnet, sollen moralisch unterlegte Bilder bei Adressaten geschaffen werden. Dieses Framing ist heute in Politik und Medien gang und gäbe. Durch die Worte werden Bilder erzeugt und dadurch können Menschen beeinflusst werden.

Die Sozialisten verstanden und verstehen Framing in einem hervorragenden Sinne. Es macht einen Unterschied aus, ob man die nach Deutschland einreisenden Ausländer als Illegale, als Migranten, Einwanderer oder als Flüchtlinge bezeichnet. Es macht einen Unterschied aus, ob man gegen Rechtsextremismus oder gegen rechts ist. Um nur ein zwei Beispiele zu nennen.

Mein Eindruck ist, der bewusste Einsatz der Framing-Technik dient dazu, das politische Bewusstsein der Bürger zu lenken und damit deren Entscheidungen zu beeinflussen. Auch die sog. gendergerechte Sprache soll dazu dienen, menschliches Denken in die Kategorien der Erfinder dieser Sprache hinein zu pressen und andere Denkkategorien auszuschließen.

(4.) Politischer Idealismus:

Aus meiner Sicht haben wir Deutschen schon seit jeher ein Problem mit politischem Idealismus und mit Weltfremdheit. Christian Kullmann, der Vorstandsvorsitzende des großen DAX Unternehmens Evonik, hatte das mit Blick auf die deutsche Klima- und Energiepolitik in seiner Rede vor dem Innovationskongress im vergangenen Jahr sehr schön auf den Punkt gebracht. Er sagte:

„Was wir zurzeit in unserem Land erleben, das ist die Wiederkehr der deutschen Romantik. Diese philosophische Strömung, immerhin 200 Jahre alt, erlebt eine wundervolle Wiederbelebung in Deutschland: in einer modernen global vernetzten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Das Bewusstsein vieler Menschen in unserem Land ist bei den Anstrengungen zur Rettung des Klimas gerade davon tief durchdrungen. Deutsche Romantik entstand im 19. Jahrhundert als Gegenbewegung zur Philosophie der Aufklärung. Das Fundament der Aufklärung ist die Vernunft. Auch ich träume von einer gesünderen Welt, doch bei alledem bin ich auch dafür, dass wir vernünftig handeln. Poesie gehört nicht in die Realität der Zukunftsgestaltung einer Industrienation und sei sie noch so romantisch.“

Ich habe den Eindruck, dass die Politik in einigen wichtigen Themenfeldern die Realität nicht mehr als Realität wahrnimmt, sondern sich von Wunschvorstellungen leiten lässt. Es gehört in den Bereich religiöser Spiritualität zu glauben, dass wir als größter Industriestandort Europas nahezu zeitgleich auf Stromerzeugung aus Atomkraft und Kohle verzichten können und unseren Energiebedarf nur durch erneuerbare Energien decken könnten. Dies ist bislang noch keinem anderen Industriestaat gelungen, und wir alle haben große Zweifel daran, dass allein die Glaubenskraft ausreicht, dass Deutschland dies schaffen wird.

Zumal wir im technischen Bereich längst nicht mehr zu den Weltmeistern gehören, wenn wir noch nicht einmal in der Lage sind, selbst und ohne chinesische Hilfe ein 5G-Netz aufzubauen und wir Probleme haben, in Berlin einen Flughafen ans Netz zu bringen oder zeitgerecht Brücken fertigzustellen.

Mir fehlt in der aktuellen Politik die Nüchternheit und Abgeklärtheit, Probleme als Probleme wahrzunehmen. Wenn Politiker nicht mehr in der Lage sind, Probleme als solche zu identifizieren, werden sie auch nicht in der Lage sein, diese Probleme zu lösen. Sie sind damit Teil des Problems.

(5.) Die Moralisierung des Politischen:

Wir erleben derzeit eine Moralisierung des Politischen. Jeder Mensch hat seine eigene persönliche Moral. Dies hängt von seinem familiären, religiösen oder gesellschaftlichen Hintergrund ab. Als Jurist hat man gelernt, dass das Recht das moralische Minimum ist, auf das sich die Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen individuellen Moralen verständigt hat. Das bedeutet, man hat sich darauf verständigt, dem anderen nicht seine Moral aufzuzwingen, sondern ein Recht zu akzeptieren, das mitunter sogar der eigenen Moral widerspricht.

Was wir heute erleben ist, dass die Politik durchtränkt ist von Moral. Politische Vorgänge werden nicht mehr nach den Kategorien der Rechtmäßigkeit, der politischen Zweckmäßigkeit und der politischen Klugheit entschieden, sondern nach moralischen Kategorien: Menschlichkeit, Humanität, Zeichen setzen, gegen Hass, gegen das Böse usw. Es wird Vokabular verwendet, das eigentlich eher auf der Kirchenkanzel verwendet werden sollte als in der politischen Auseinandersetzung, bei der man die Moral des Anderen als gleichwertig akzeptieren sollte. Statt dessen stelle ich einen Wettlauf der Moralen fest, wobei diejenigen, die eine Hypermoral zur Schau stellen, die anderen als unmoralisch vor sich her treiben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Gesellschaft muss wieder zurückfinden zur Herrschaft des Politischen und des Rechts und die Moral dorthin zurückverweisen, wo sie hingehört, nämlich in den Bereich des Privaten. Und diese Überlegungen zur neuerdings bestehenden Dominanz der Moral gegenüber Politik und Recht führen mich zur jetzigen Situation des Rechtsstaates in Deutschland.

(6.) Der Rechtsstaat:

Wenn gesagt wird, die sozialistische DDR war ein Unrechtsstaat, dann ist das nur teilweise richtig. Sicherlich ist zu sagen: Für Zwecke des Sozialismus wurden Menschenrechte missachtet, Menschen wurden weggeschlossen, misshandelt und getötet. Allerdings verstand sich die DDR auch als Rechtsstaat; sie hatte nur ein „alternatives Verständnis“ von Rechtsstaat als im Westen. Im Westen verstand man unter Rechtsstaat: die Herrschaft des Rechts. Und das bedeutet, dass politische Auffassungen, religiöse Überzeugungen oder moralische Vorstellungen nicht über dem Gesetz stehen, sondern sich nach dem Gesetz auszurichten haben.

In der DDR war Rechtsstaat: die Herrschaft durch das Recht. Nach Artikel 86 der DDR Verfassung von 1968 gab es eine sog. sozialistische Gesetzlichkeit. Das Gesetz diente danach der Durchsetzung des Sozialismus. Ich habe die Sorge, dass wir auf dem Wege sind, die Herrschaft des Rechts durch eine Herrschaft durch das Recht zu ersetzen, bei dem das Recht so angewandt wird, wie es der moralischen oder politischen Vorstellung der Herrschenden entspricht.

Viele Menschen haben den Eindruck, dass der Rechtsstaat doppelgesichtig ist: einerseits werden zum Beispiel Parkverstöße konsequent geahndet, andererseits wird das Recht nur halbherzig angewandt, wenn ich zum Beispiel an die Einreise von illegalen Ausländern oder an den Vollzug der Abschiebung dieser Personen denke. Bundesminister Seehofer hatte im Zusammenhang mit der so genannten Flüchtlingskrise 2015 von einer Herrschaft des Unrechts gesprochen. Mit dem Ausdruck Herrschaft des Unrechts verbindet man einen rechtlosen Zustand oder einen Zustand in dem bestehendes Recht ignoriert wird und dagegen verstoßen wird. So etwas darf es in Deutschland nicht geben. Auch die Politik steht nicht über dem Gesetz.

(7.) Ausgrenzung der Andersdenkenden:

Ich nehme eine Rigorosität und Aggressivität des politischen Mainstreams gegenüber Andersdenkenden wahr. Der politisch Andersdenkende wird nicht mehr als der politische Gegner angesehen, mit dem man eine politische Diskussion führt, den man als Menschen und als Individuum akzeptiert, sondern der Andersdenkende wird wie ein Feind behandelt, dem man das Gespräch verweigert, zu dem kein Kontakt bestehen darf, der ausgegrenzt, stigmatisiert, isoliert und diskreditiert werden darf. Damit sollen Menschen eingeschüchtert und mundtot gemacht werden. Eine Umgangsform, die einer Demokratie unwürdig und völlig inakzeptabel ist.

Gerade eine Demokratie lebt von der politischen Auseinandersetzung im Parlament, in den Medien, auf der Straße, in der Kantine und auch am Stammtisch. Eine Demokratie lebt davon, dass man dem Andersdenkenden das Recht einräumt, seine Meinung und seine Argumente vorzutragen. Auch der Radikale, auch der Extremist auch der schlechteste Mensch auf der Welt kann einmal Recht haben, und man muss ihn anhören. Nur in einem totalitären Staat ist nur eine Meinung die richtige („Die Partei, die Partei hat immer Recht!“) und alle anderen Meinungen sind falsch.

Die Verweigerung des Gespräches, die Verweigerung der Sachauseinandersetzung mit der Begründung, das braucht man nicht zu diskutieren, weil es von „dem“ oder von „denen“ gesagt worden ist, die Ausgrenzung von politischen Gegnern sind zutiefst undemokratisch und deshalb abzulehnen. Ich sehe hier eine besorgniserregende Entwicklung in Deutschland.

(8.) Bildungseinrichtungen:

Ein alter Juraprofessor an der Freien Universität Berlin hatte mir schon vor Jahren einmal gesagt, die deutschen Professoren haben sich seit jeher mehr durch ihre intellektuelle Brillanz als durch ihre Zivilcourage ausgezeichnet. Das galt im Kaiserreich und das galt während der beiden deutschen Diktaturen. Und ich befürchte, dass es heute nicht anders ist. Gott sei Dank gibt es Ausnahmen, aber sie sind zu wenige. Und die Professoren sollten Vorbilder sein.

Ich finde es erschreckend und beschämend, dass die Hochschullehrerschaft es zulässt, dass ihre Kollegen, die mit Auffassungen auffallen, die außerhalb des linken politischen Mainstreams liegen, von linksextremistischen Gruppen mundtot gemacht werden und dass die Universitätsleitungen sich die Hände in Unschuld waschen, während die Betroffenen einem linken Mob alleine gegenüberstehen.

Ich hätte nicht gedacht, dass das in Deutschland wieder möglich ist. Auch für Wissenschaft und Lehre könnte man das Chesterton-Zitat heranziehen:

Schlimmer als die Zensur von Wissenschaft und Forschung ist die Zensur durch Wissenschaft und Forschung.

Die Schulen dienen dazu, den jungen Menschen das Rüstzeug für das Leben mitzugeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollten wir im Westen ein Schulwesen, das ideologiefrei ist.

In den Gesprächen mit Bürgern höre ich immer wieder die begründete Sorge, dass teilweise in Schulen Ideologie vermittelt wird, ob dies nun die Klima- oder die Flüchtlingspolitik ist. Ich persönlich halte die Unterstützung der „Fridays for Future“-Bewegung durch Lehrkräfte für inakzeptabel. Wir dürfen nicht zulassen, dass Kinder in Schulen ideologisch indoktriniert werden.

(9.) Die Wirtschaft:

Die deutsche Wirtschaft ist in einer schwierigen Situation. Sie fühlt sich in Teilen im Stich gelassen, in Teilen wie die Automobilindustrie steht sie mit dem Rücken an der Wand. Eine grundsätzliche Modernisierung unserer Ökonomie mit Blick auf die neuen Technologien hat nicht stattgefunden. Deutschlands Industriekraft beruhte bislang auf Innovationen des 19. und 20. Jahrhunderts.

Man hat es verabsäumt, in Deutschland ein Silicon Valley aufzubauen. Eine deutsche Tageszeitung titelte vor einigen Tagen „Abstieg einer Marke“: Made in Germany hat erheblich an Ansehen verloren. Ich befürchte, die großartigen Zeiten unserer Industrie können bald vorbei sein, weil die profitablen modernen Industrien nicht in Deutschland sind. Leider hatte die deutsche Industriepolitik in den letzten Jahren versagt.

(10.) Asyl und Sicherheit:

Das sind meine Lieblingsthemen, aber ich fasse ich heute kurz: Sorgen bereitet vielen Menschen natürlich die Asylpolitik. Die Angst, davor, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein. Eine Ausländerpolitik, die dazu führte, dass seit 2012 über zwei Millionen Asylsuchende, vielfach aus islamischen Staaten, zu uns kamen. Menschen, die uns vor erhebliche finanzielle und integrationspolitische Herausforderungen stellen.

Eine Asylpolitik die Deutschland in Europa weitgehend isoliert hat und die zur Spaltung Europas beigetragen hat.

Kriminalität und Terrorismus machen vielen Menschen Angst zumal es sich oftmals um Straftaten von Ausländern handelte. Allein bei den Tötungsdelikten sind nach der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik 43 % der Tatverdächtigen Ausländer. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass über die Flüchtlingseigenschaft und über die Staatsangehörigkeit der Täter gesprochen wird.

Dabei geht es nicht darum, die jeweilige Staatsangehörigkeit an den Pranger zu stellen, sondern an die Politik die Frage zu adressieren, warum diese Straftaten nicht durch ausländerpolitische Maßnahmen verhindert worden sind. Die Politik weicht der Beantwortung dieser Frage aus.

5. Die Zukunft:

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe den Eindruck, dass diese Fehlentwicklungen vor dreißig Jahren und selbst vor zehn Jahren so noch nicht festgestellt werden konnten. Man könnte glauben, dass es sich um eine schleichende Kulturrevolution handelt.

Erstaunlich ist für mich, wie unterschiedlich diese Entwicklung in Deutschland von den Menschen wahrgenommen wird. Auf der einen Seite Menschen, die zutiefst besorgt sind über diese Entwicklung. Sie fragen sich, wo sind wir mit unserer Demokratie angelangt und wo soll das noch enden. Werden unsere Kinder und Enkel noch in einem Land leben, das ein freiheitlicher prosperierender Rechtsstaat ist?

Auf der anderen Seite gibt es Leute, die fest an die Richtigkeit dieser Entwicklung glauben, teilweise diesen Glauben mit einem Eifer verteidigen, der sonst religiösen Fanatikern eigen ist.

Und dann gibt es die große Zahl der Menschen, denen die jetzige Lage schlicht nicht geheuer ist, die aber noch Vertrauen haben, dass diejenigen, die gewählt worden sind, das Richtige machen. Deutschland ist heute zutiefst gespalten.

Und dann gibt es 30 Jahre nach dem Mauerfall wieder Leute, die vom Sozialismus träumen, und die Enteignungen für richtig halten. Leute, die die DDR verklären: Eigentlich waren die Ziele des Sozialismus doch richtig. Eigentlich war das Schiff auf dem richtigen Kurs, es war in guten Zustand und man hätte das sozialistische Paradies mit dem Schiff auch erreichen können, wenn der Kapitän und ein paar Besatzungsmitglieder nicht schwere Fehler gemacht hätten.

1990 und in den Jahren danach ist oft der Ausdruck „Wendehälse“ verwendet worden. Damit bezeichnete man Personen, die zum SED-Establishment gehörten und es sich in der DDR- Diktatur haben gut gehen lassen, die nach dem Mauerfall vorgeblich zu Demokraten wurden und weiter Karriere machten. Ich denke, der Mensch, der sich den Namen „Wendehals“ für diese Leute einfallen ließ, muss ein regelrechter Schelm gewesen sein. Der Wendehals ist nämlich ein Spechtvogel. Das bemerkenswerte an dieser Art von Spechtvögeln ist,

1. sie sind parasitär, weil sie nicht in der Lage sind, eigene Brutplätze anzulegen, sondern sie nutzen die von anderen Vogelarten, und

2. sie drehen den Kopf nur bei Gefahr und wenn die Gefahr vorbei ist, drehen sie ihn wieder zurück.

Ich habe den Eindruck, dass inzwischen viele Wendehälse den Kopf wieder in Richtung Sozialismus zurückdrehen und sich sehr wohl fühlen mit der jetzigen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland: 30 Jahre nach dem Fall der Mauer wird wieder von Sozialismus und Enteignung geträumt.

30 Jahre nach dem Mauerfall ist die alte SED, die sich dreimal umbenannt hat, stärkste Kraft in Thüringen und in mehreren Ländern in den Landesregierungen vertreten. Und sie wird in einer unvorstellbaren Art und Weise in der Öffentlichkeit verharmlost. Die SED, die sich heute die Linke nennt, steht in einer erstaunlichen Kontinuität zur Ideologie und zum Personal der SED-Diktatur.

Es gab bis heute keine Entschuldigung für die 250.000 Menschen, die durch die SED aus politischen Gründen ins Gefängnis gesteckt wurden, keine Wiedergutmachung durch die Partei für die Opfer des Sozialismus. Mein Eindruck ist, dass diese Leute immer dreister ihren Sozialismus zur Schau stellen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, der 9. November 1989 ist ein Vermächtnis und ein Auftrag: Ein Auftrag im Kampf um Meinungsfreiheit, um Medienpluralismus, um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.

1989 hat sich gezeigt, dass es zunächst wenige waren, die Mut hatten. Den meisten fehlte zunächst der Mut. Zuerst waren es Einzelne, die sich etwas trauten, dann ein paar Dutzende dann ein paar Hunderte, dann Tausende, dann Hunderttausende. Wir müssen mutiger werden, und wir müssen die Bürger mobilisieren.

Ich glaube, wir haben als WerteUnion in den letzten zwei Jahren viel bewegt und vor allem vielen Menschen gezeigt, dass sie mit ihrer Meinung nicht alleine stehen, dass sie sich nicht der AfD oder Extremisten anschließen müssen, um in Deutschland etwas zu verändern. Was wir brauchen, ist eine Veränderung unserer CDU, und wir brauchen eine stärkere Ausrichtung der CDU an den klassischen christdemokratischen Werten.

Wir brauchen wieder mehr Rechtstaatlichkeit, mehr Demokratie und mehr Freiheit im Sinne des Grundgesetzes, und nicht im Sinne des Sozialismus der DDR. Wir brauchen eine Politikwende.

Wenige Wochen nach dem Fall der Mauer fand ein Parteitag der SED statt, bei dem über die die Zukunft der Partei und der DDR beraten wurde. Ein alter Arbeiter meldete sich zu Wort. Er sagte:

Zuerst habe ich den Nationalsozialismus kennen gelernt, danach den real existierenden Sozialismus. Einen Dritten Sozialismus überlebe ich nicht!“

Helfen wir, dass es nie wieder Sozialismus auf deutschem Boden gibt.

Dieser Beitrag wurde auszugsweise bereits in der Schweizer „Weltwoche“ veröffentlicht.

Dr. Hans-Georg Maaßen, Jurist, war bis November 20018 mehr als sechs Jahre lang Präsident vom Bundesamt für Verfassungsschutz.

 

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Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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