Peter Haisenko: Die Bruchlandung in Moskau zeigt grundlegende Probleme der Luftfahrt auf

30 Jahre Erfahrung hat der ehemalige Lufthansa-Pilot Peter Haisenko als Co-Pilot und Flugkapitän auf den großen Passagiermaschinen gesammelt. Für ihn ist eine Passagiermaschine ein "extrem sicherer Ort" - trotzdem kann es dramatische Unfälle geben. Hier sein aktueller Bericht.
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Modernes CockpitFoto: iStock
Von 10. Mai 2019

Das Berufsbild eines Verkehrspiloten hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert. Der Kapitän ist heute mehr Manager als tollkühner Held der Lüfte. Die Ausbildung und fortlaufende Schulung trägt dem Rechnung was zur Folge hat, dass primären Fertigkeiten nicht mehr ausreichende Aufmerksamkeit gewährt wird.

Zunächst ist festzustellen: Die Zivilluftfahrt war noch nie so sicher wie heute. Und: Solange alles “normal” verläuft, gibt es kaum Probleme. Die Cockpitbesatzungen bewegen sich in einem gut durchorganisierten, ja geradezu geschützten Umfeld. Radarführung entlastet sie von eigenständiger Navigation. Die Flugzeuge selbst sind technisch ausgereift und in der Bedienung optimiert. Warum passieren dann überhaupt noch Unfälle in der Luftfahrt? Weil eben nicht immer alles “normal” verläuft und selbst die größte Umwahrscheinlichkeit doch geschehen kann.

Immer wieder wird kolportiert, das größte Unfallrisiko seien die Piloten. Das lässt außer Acht, wie viele Beinahe-Unfälle durch das beherzte und gekonnte Eingreifen der Piloten verhindert worden sind. Dass man darüber so wenig hört, liegt zum einen daran, dass dann ja nichts Spektakuläres zu berichten ist. Zum anderen haben die Airlines kein Interesse daran, ihren Kunden zu erzählen, wie oft sie haarscharf am Tod vorbeigeschrammt sind. Auch die Piloten selbst haben wenig Lust, ihre Heldentaten zu publizieren, denn meist ging der “Heldentat” ein gravierender Fehler voraus. Ihr eigener, ein technischer oder auch eine Fehleinschätzung des gesamten Umfelds.

Die Jets in früheren Jahren haben sich in Grenzbereichen “gutmütiger” verhalten

Was immer die technischen Probleme verursacht hat, die der Bruchlandung des “Super-Jet-100” in Moskau vorangingen, ist noch nicht geklärt, aber für den Ausgang unwesentlich. Fakt ist, dass die gesamte elektronische Flugregelung ausgefallen ist und der Pilot das Flugzeug im “direct law” geflogen hat, wie er selbst aussagte. “Direct law” heißt, dass zwischen den Bewegungen des Steuerknüppels und den Ausschlägen der Ruder (Kontrollflächen) keine elektronische Hilfe, Kontrolle mehr steht. Die Führung des Flugzeugs muss jetzt wie ganz früher durchgeführt werden. So absurd es klingen mag, muss der Pilot jetzt wirklich fliegen können – und da liegt der Haken.

Die Jets der 1950-er und 1960-er Jahre hatten zwar einen rudimentären Autopiloten, aber dieser war wirklich nur für grobe Routinearbeiten geeignet. Die Bewegungen des Steuerhorns wurden direkt an die Ruder geleitet und es war im Prinzip nicht anders als in einem Klein- oder Segelflugzeug. Der Autopilot wurde im Reiseflug benutzt und, obwohl er es einigermaßen konnte, nur in seltenen Fällen für einen Landeanflug eingesetzt, weil er zu unruhig und ungenau war. Wir konnten das besser und zwar aus dem einfachen Grund, weil es unser täglich Brot war, wir es tun mussten und gern taten. Zum anderen waren diese Flugzeugtypen noch nicht so ausgereizt, was die aerodynamische Auslegung betraf. Sie waren in Grenzbereichen “gutmütiger”.

Mit dem A 320 von Airbus begann eine neue Ära. Die großen Jets fliegen nun im Prinzip immer mit Autopilot und die Eingaben am Steuerknüppel sagen diesem eigentlich nur noch, was er tun soll, selbst dann, wenn der Autopilot eigentlich “ausgeschaltet” ist. Das funktioniert richtig gut und es entlastet den Kapitän. Weil diese Funktionen derart essentiell geworden sind, sind sie mit bis zu zwölf Computern abgesichert und die Ausfallwahrscheinlichkeit liegt bei 10 hoch minus 12 oder besser. Aber auch das ist eben nicht Null, wie der Unfall in Moskau jetzt gezeigt hat oder auch der Absturz der AF 447 über dem Südatlantik. Hier kommen wieder die Kaufleute ins Spiel. Soll man etwas trainieren, teuer und zeitaufwändig, was rein rechnerisch mit höchster Wahrscheinlichkeit niemals zur Anwendungsnotwendigkeit wird?

Den meisten Piloten fehlt die nötige Erfahrung

Im Handbuch zum A 340 ist zu lesen: Wenn das Flugzeug im “direct law” geflogen werden muss, dann haben Sie ein komplett anderes Flugzeug. Genau darum geht es. Die Steuerungsdynamik ohne die elektronischen Filter hat mit dem, was man gewohnt ist, nichts mehr gemein. Man hat keine Erfahrungswerte, keine antrainierten Reflexe, wenn man jetzt das Flugzeug steuern will. Wie die Bruchlandung in Moskau gezeigt hat, neigen die Piloten dann zum “Übersteuern”. Das heißt, dass mit zu großen Eingaben, die der Computer vorher gedämpft, korrigiert hatte, das Flugzeug bis hin zu unkontrollierbaren Lagen “gesteuert” wird. Das Fliegen im “direct law” erfordert Erfahrung und eine wirklich ruhige Hand. Was zumeist fehlt, ist die Erfahrung.

Bei den andauernden Schulungen und Checks im Simulator wird das Fliegen im “direct law” nicht geübt. Im richtigen Flugzeug sowieso nicht. Warum auch sollte man etwas zeitaufwendig üben, das theoretisch nur einmal bei jedem 1.000-milliardesten Flug auftreten könnte? Ich selbst bekam in meiner Zeit auf dem A 340 keine Gelegenheit, das zumindest einmal auszuprobieren, um wenigstens grob zu wissen, was da auf mich zukommen könnte. Nicht bei der Einschulung und nicht bei den wiederkehrenden Schulungen und Checks, obwohl ich nicht nur einmal darum angesucht hatte. Nein, das ist nicht vorgesehen, hieß es. Nach meiner Erfahrung liegt das möglicherweise auch daran, dass man weiß, wie groß der Schulungsaufwand wäre, wollte man das ins Training aufnehmen. Man würde reihenweise Zusatzschulungen benötigen, weil die meisten in den ersten Anläufen scheitern würden oder es nie richtig auf die Reihe kriegten. Das Flugzeug ist einfach nicht dafür ausgelegt, ohne elektronische Hilfen geflogen zu werden.

Moderne Flugzeuge werden nicht mehr mit einem “Uhrenladen” navigiert

Damit bin ich beim nächsten Defizit, das Piloten mit sich tragen, die nur auf modernen Jets gearbeitet haben. Die Navigation. “Controlled flight into terrain” (CFIT) war schon früher ein Thema. Auf Deutsch heißt das, dass ein intaktes Flugzeug gegen einen Berg fliegt und zerschellt. Unbeabsichtigt. Auch da wurde viel hin und her geredet, aber die wahre Ursache kaum angesprochen. Wenn ein Pilot unbeabsichtigt gegen einen Berg knallt, hat das eine einfache Ursache: Er wusste nicht, wo er war. Hätte er es gewusst, wäre er nicht gegen den Berg geflogen. Nun ist es so, dass moderne Flugzeuge nicht mehr mit einem “Uhrenladen” navigiert werden, sondern die Piloten einen Bildschirm mit einer Landkarte vor sich haben.

Man folgt einem angezeigten Strich und seit etwa zwanzig Jahren werden dort auch Erhebungen und Hindernisse angezeigt, wenn sie für den Flug relevant sind. Funkfeuer, Kompass und Stoppuhr? Obwohl man das auch heute noch lernen muss, braucht man heutzutage diese rudimentären Navigationsmittel nicht mehr. So muss man sich nicht wundern, wenn die jungen Piloten auf modernen Airlinern überhaupt keine Übung mehr haben, die Positionsbestimmung ihrer Computersysteme mit einfachsten Mitteln auf Schlüssigkeit zu überprüfen. Wie auch, warum auch, alles funktioniert doch höchst zuverlässig. Aber wehe, es funktioniert dann doch mal nicht. Da ist dann guter Rat teuer, denn auch diese eventuellen Notfälle werden nicht im Simulator geübt. Warum? Siehe oben unter “direct law”.

Die unvergleichliche Zuverlässigkeit moderner Flugzeuge hat dazu geführt, verführt, ehedem elementare Trainingsinhalte zu vernachlässigen. Die Praxis zeigt, dass die statistische Flugsicherheit darunter nicht gelitten hat, es sein denn, es passiert etwas, was eigentlich nicht passieren dürfte. Das Fliegen als solches ist einfacher geworden, der Beruf des Flugzeugführers insgesamt nicht. Die Flugzeuge und das Umfeld sind so komplex geworden, dass die Piloten kaum noch in der Lage sind, wirklich jede Facette ihres Arbeitsgeräts vollständig zu erfassen. Selbst die zugehörigen Handbücher können nicht mehr auf jede Einzelheit erschöpfend eingehen. Drastisch hat sich das gerade bei den Unfällen mit der B 737 MAX gezeigt. Wie Boeing zugeben musste, haben sie weder Piloten noch Operator ausreichend über die Funktion ihres Spezial-Flugreglers informiert, geschweige denn trainiert.

Trotz systembedingter Defizite ist das Verkehrsflugzeug ein extrem sicherer Ort

Das enorme Wachstum des gesamten Flugverkehrs weltweit stellt die Branche vor große Probleme. War in den 1970-er Jahren schon das Argument von Airbus, seinen neuen A 310 ohne Flugingenieur zu planen, damit man so hochqualifizierte Mitarbeiter im Cockpit einsparen kann, die vor allem in Entwicklungsländern einfach nicht zur Verfügung standen, so ist das Problem nicht geringer geworden, was die Piloten anlangt. Weiterhin muss natürlich auch der Wirtschaftlichkeit Rechnung getragen werden und so ist es tatsächlich kaum sinnvoll, kontinuierlich aufwendige Schulungsmaßnahmen durchzuführen für den Fall, dass etwas geschehen könnte, was nach menschlichem Ermessen eigentlich nicht passieren wird. So wird man auch in der Luftfahrt darüber nachdenken müssen, wo die Grenzen des Wachstums erreicht sind, wann immer billiger und immer mehr nicht mehr sinnvoll sein kann.

Ich tadele den russischen Pilot nicht, denn er hat so verantwortungsvoll gehandelt, wie er eben konnte – wie es die allermeisten auch nicht besser gekonnt hätten. Wir müssen damit leben, dass das Leben an sich gefährlich ist und meistens tödlich endet. Man kann nicht jegliche Unfallgefahr restlos ausschließen, wenn man den Rest seines Lebens nicht im Bett verbringen will – und dort sterben die allermeisten. Wer ein Verkehrsflugzeug betritt, begibt sich an den sichersten Ort, der vorstellbar ist. So will ich mit diesen Ausführungen nur allgemein darauf hinweisen, wie sich die Arbeit in und um Verkehrsflugzeuge verändert hat und dass es systembedingte Defizite gibt, zu deren Lösung mir aber auch nichts Schlüssiges einfällt.

Bedenken wir dazu, dass sich allein in Deutschland jedes Jahr mehr als 10.000 Menschen umbringen und noch mehr ganz einfach bei Arbeiten im Haushalt zu Tode kommen. Darüber wird nicht mit großer Aufmachung berichtet, ebenso wenig wie über Patienten, die durch ärztliche Kunstfehler das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen. Die Luftfahrt steht im Fokus, weil es eben spektakulär ist, wenn eine Maschine mit vielen Menschen verunglückt. Die Entwicklung der letzten 60 Jahre hat zu einer kontinuierlichen Verbesserung der Flugsicherheit geführt. Die fortschreitende Technik und die unaufhörliche Ausbildung der Piloten haben das gebracht. Was ich aber fordere, ist, dass bei der Auswahl und Ausbildung der Piloten wieder mehr Gewicht auf die grundlegenden Fähigkeiten gelegt wird, die jeder Pilot beherrschen sollte. Eben auch ein Flugzeug dann zu beherrschen, wenn alle Flugregler und Navigationssysteme ausgefallen sind – so unwahrscheinlich das auch sein mag.

Nachtrag: Mir wurde berichtet, dass einige Piloten im Simulator doch den Umgang mit ihrem Gerät bei Ausfall aller Steuerungskomputer ausprobiert/geübt haben. Aber das gehört nach wie vor nicht zum Standardausbildungsprogramm.

Zuerst erschienen bei Anderweltonline.com

Peter Haisenko, Verkehrspilot, war nach seiner Ausbildung bei der Lufthansa 30 Jahre im weltweiten Einsatz als Copilot und Kapitän.  Seit 2004 ist er tätig als Autor und Journalist. Er gründete den Anderwelt Verlag. www.anderweltonline.com/

 

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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