Von der Leyen und Lagarde als Gewinner in deutsch-französischem Deal – Verlierer ist die EU

In Medien und Politik wird der Ratskompromiss über künftige EU-Spitzenposten vom Dienstagabend als „Postenschacher“ gebrandmarkt. Tatsächlich bleibt den Spitzenkandidaten zum Amt des Kommissionspräsidenten eine Blamage im EU-Parlament erspart. Die EU dürfte aber mehr denn je als reformunfähig und als deutsch-französisches Machtinstrument gelten.
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Gesucht wird sein Nachoflger: Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission.Foto: Olivier Matthys/AP/dpa
Von 3. Juli 2019

Bereits seit Monaten haben Medien geschrieben, Ursula von der Leyen werde ihr Amt als Bundesverteidigungsministerin bald räumen müssen. Wie es aussieht, könnten sie Recht behalten – wenn auch nicht ganz in dem Sinne, wie die meisten sich das vorgestellt hätten.

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben sich am Dienstag (2.7.) darauf verständigt, dass die Tochter des früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht künftig als Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker die EU-Kommission leiten soll. Von der Leyen hat sich damit nicht nur in ihren Ministerämtern als das erwiesen, was der VfL Bochum und später der HSV lange Zeit für die deutsche Fußball-Bundesliga waren – nämlich „unabsteigbar“.

Sie hat vielmehr gezeigt, dass sie, wenn überhaupt, dann stets nach oben fällt. Vom Bundesfamilienministerium wechselte sie 2009 nach vier Jahren ins Ministerium für Arbeit und Soziales – also in ein Amt mit dem Zehnfachen des Etats des zuvor von ihr bekleideten. Das Bundesverteidigungsministerium, an dessen Spitze sie dann ab 2013 stand, war in weiterer Folge dann zwar vom Gesamtetat her bescheidener bestückt. Allerdings stieg das Volumen externer Beratungsaufträge auf ein Vielfaches, auch gemessen an den Verhältnissen des Sozialressorts.

Merkel setzt sich ein Denkmal

Nun steigt von der Leyen noch einmal auf – prestigemäßig auf den formal höchsten Posten in der EU, gehaltsmäßig von etwas mehr als 15 000 Euro brutto im Monat auf derzeit 24 422,80 Euro. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel hat – einen Tag, nachdem Publizist Gabor Steingart über das Fehlen deutscher Repräsentanten in internationalen Spitzenpositionen geklagt hatte – sich selbst ein Denkmal über ihre voraussichtlich 2021 endende Amtszeit hinaus gesetzt und eine Deutsche an die Spitze der EU-Kommission gebracht.

Am heutigen Mittwoch schreibt Steingart entsprechend vom „Wunder von Brüssel“, das der Kanzlerin geglückt sei. „Ursula von der Leyen und Angela Merkel bilden ab heute Morgen eine Zugewinngemeinschaft“, schreibt Steingart weiter, würdigt von der Leyen als „nachhaltige Politikerin“ und schließt seinen Kommentar mit den Worten: „Glückwunsch, Kanzlerin!“

Ob Ursula von der Leyen tatsächlich EU-Kommissionspräsidentin wird, hängt nun vom EU-Parlament ab. Es zeichnet sich zurzeit hinhaltender Widerstand aus Teilen der SPD ab. Vize Ralf Stegner spricht von „Prinzipienlosigkeit“ bei Merkel und hofft, dass von der Leyen keine Mehrheit im EU-Parlament findet. Er wittert gar eine rechte Verschwörung gegen den „vorzüglichen Kandidaten Frans Timmermanns“. Gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe (Mittwochsausgaben) warf er Merkel vor, „vor Orban und Co. einzuknicken“.

Auch der Chef der SPD-Abgeordneten im Europaparlament, Jens Geier, hat Widerstand gegen die Nominierung von Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen angekündigt. Die Europa-SPD werde diesem Vorschlag auf keinen Fall zustimmen, erklärte Geier in Straßburg.

Theaterdonner bei den Sozialdemokraten

Allerdings dürfte sich dieser im Laufe der kommenden Wochen in Wohlgefallen auflösen. Der Grund: Mit Josep Borrell als designiertem EU-Außenbeauftragtem hat Europas Sozialdemokratie einen gut genährten Spatzen in der Hand, der ihr am Ende näher sein dürfte als die Taube in Form eines theoretisch noch denkbaren Kommissionspräsidenten Frans Timmermans auf dem Dach. Dessen Chancen, eine Mehrheit im EU-Parlament zu finden, wären angesichts der Mehrheitsverhältnisse aber ähnlich gering wie jene des ursprünglichen EVP-Kandidaten Manfred Weber, dessen Sonnenscheinpolitik in Richtung linkem Rand im Europawahlkampf nicht zur erhofften Resonanz geführt hatte.

Manfred Weber hätte, da er – wie es auch seinem eigenen erklärten Wunsch entsprach – nicht mit den Stimmen rechter Parteien oder der ungarischen Fidesz hätte rechnen können, nur mit ausreichender Unterstützung aus den Reihen von Sozialisten, Grünen, Kommunisten oder Fraktionslosen gewählt werden können. Diese hätten jedoch eigene Kandidaten präsentiert oder allenfalls für Frans Timmermans gestimmt. Dieser wiederum hätte für eine ausreichende Mehrheit alle Stimmen aus der liberalen Fraktion plus einige Abweichler aus den Reihen der Christdemokraten und Fraktionslose benötigt.

Am Ende hätte es mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Abstimmungsmarathon im EU-Parlament mit einem Zufallssieger gegeben, was die Autorität des neuen Kommissionspräsidenten schon vor Amtsantritt nachhaltig untergraben hätte. Eine zuvor im Hinterzimmer bestimmte Kompromisskandidatin des Rats wie Ursula von der Leyen zu präsentieren, bot unterm Strich realistischere Chancen auf eine einigermaßen schmerzlose Bestätigung durch das EU-Parlament.

Wähler haben Spitzenkandidaten für untauglich befunden

Dieter Hoß schreibt im „Stern“ von „Postenschacher“ und meint, die sich anbahnende Personalentscheidung sei „eine Ohrfeige für alle Wähler“. Sachlich lässt sich diese Einschätzung gut begründen, insbesondere in Anbetracht des Umstandes, dass EU-Politiker das erstmals 2014 zum Tragen gekommene „Spitzenkandidatenprinzip“ stets als Meilenstein für eine demokratischere Europäische Union gerühmt hatten.

Andererseits aber hat der Wähler am 26. Mai die klare Botschaft ausgesandt, dass er keinen der Spitzenkandidaten, die Europas Parteienfamilien präsentiert hatten, für geeignet halte – und am Ende siegte diesbezüglich auch bei Europas Spitzenpolitikern der Realitätssinn.

Hans-Jürgen Moritz schreibt im „Focus“ entsprechend, von der Leyen „rettet Merkel und Europa vor einer Blamage“. Deutschlands Bundeskanzlerin soll mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Gordischen Knoten gelöst haben, indem sie dessen Drängen entsprach, Christine Lagarde zur EZB-Präsidentin zu machen. Macron soll im Gegenzug seine Zustimmung zu von der Leyen erteilt haben.

Deutsch-französisches Versorgungskarussell

Längerfristig könnte sich jedoch auch diese Lösung als Pyrrhussieg erweisen. Ein deutsch-französischer Deal, der politisch angeschlagene Weggefährten mit Versorgungsposten bedenkt – das ist ein eindeutiges Signal, dass die EU offenbar nicht in der Lage ist, sich selbst in einer Weise zu reformieren, die diese näher an die Bürger rückt. Zudem zeigt sich die EU einmal mehr als Instrument deutsch-französischer Machtpolitik in Europa, die kleineren Ländern und erst recht jenen des „neuen Europas“, wie Ex-US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die osteuropäischen Länder nannte, bestenfalls eine Statistenrolle zubilligt.

Die Euroskeptiker und Rechtspopulisten können sich, wie es aussieht, bereits jetzt auf unfreiwillige Schützenhilfe freuen.

(Mit Material von dpa und dts)

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