Wie die Menschen mit Angstbotschaften „auf Linie“ gebracht wurden

Der Diplom-Psychologe Dr. Peter M. Wiedemann hat den Umgang der deutschen Regierungspolitiker und Medien mit der Corona-Krise einer Analyse unterzogen: Demnach habe man die Menschen gezielt in Angst versetzt, Wissenschaftler weggefiltert und Andersdenkende dem „Reich des Bösen“ zugeordnet.
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Karl Lauterbach und Horst Seehofer standen stets für einen strengen Corona-Kurs.Foto: über dts Nachrichtenagentur
Von 9. Januar 2023

Die „Berliner Zeitung“ macht sich seit Monaten für eine Aufarbeitung der Corona-Politik in Deutschland stark. In einem Gastbeitrag lieferte der Psychologieprofessor Dr. Peter M. Wiedemann jetzt eine Menge Argumente, die vor allem Anhängern des „Teams Vorsicht“ zu denken geben könnten.

Wiedemann kommt nach fast drei Jahren Pandemie-Rückschau zu dem Ergebnis, dass die tonangebenden Stimmen aus Medien und Politik weniger „der Wissenschaft“ gefolgt seien als vielmehr beabsichtigten, das Verhalten der Bevölkerung zu steuern: „Propaganda und Pathos dominierten die öffentlichen Medien. Mit missionarischem Eifer wurden Angstbotschaften massiv kommuniziert, um Menschen auf Linie zu bringen“.

„Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“

Wiedemann erinnert daran, wie schon im Frühjahr 2020 ein internes „Strategiepapier“ des Bundesinnenministeriums geleakt worden war, in dem genau beschrieben wurde, wie man Menschen möglichst schnell und effektiv in Angst und Schrecken versetzen konnte. Der damals zuständige Innenminister, Horst Seehofer (CSU), hatte das BMI-Papier in Auftrag gegeben.

„Wer nicht mitmachte, war unsolidarisch und gehörte damit schon ins Reich des Bösen, das mit AfD, Querdenkern und Reichsbürgern auch eine politische Richtung zugewiesen bekam, deren Ablehnung als selbstverständliche Norm galt und gilt“, gibt der Diplom-Psychologe zu bedenken. „Flankiert vom Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft […] verschärfte sich die Tonlage in der Öffentlichkeit.“ Wiedemann erkennt darin einen „Rückfall in autoritäre Gesten, in eine paternalistische, mit dem Zeigefinger drohende Ansprache, die auf Angst und Ressentiments setzt“.

Wie aber kann eine Bundes- oder Landesregierung im Jahr 2020 zu solchen Mitteln greifen, die jahrzehntelang in der Bundesrepublik als absolutes No-Go gegolten hätten? Wiedemann: „Die moralisch höhere Sache gebot es, Grundrechte außer Kraft zu setzen, wenn sie mit moralisch höheren Zielen kollidieren. Denn für die Moral gibt es nur das Gute und das Böse, und keine Kompromisse“.

Keinesfalls ein persönliches Risiko eingehen

Um sich nicht irgendwann vorwerfen lassen zu müssen, man habe die Gefahrenabwehr unzureichend betrieben oder gar unterlassen, habe sich die Politik also sehr schnell entschieden, lieber „vorsorglichen Alarmismus“ zu betreiben als irgendein Risiko einzugehen – schon gar nicht für die eigene Karriere. Aus dieser Position heraus habe man sich stets am „Worst Case“ orientiert, also dem schlimmsten denkbaren Fall.

Falls es dann doch nicht so fatal kommen würde wie befürchtet, hätte man das mit der eigenen, „vorausschauenden Vorsorgepolitik“ erklären können. „Somit war es egal, wie sich die Lage entwickelt hätte, die defensive Entscheidungsfindung würde immer die gewünschten Ergebnisse erbracht haben“, erklärt Wiedemann.

Wer mahnt, fliegt

Diese Art der Entscheidungsfindung habe dabei stets auf den Szenarien jener „Wissenschaftler“ basiert, die anhand von mathematischen Modellrechnungen oder aufgrund ihrer Expertise in Virologie die potenziellen Wirkungen des Coronavirus betrachteten, allen anderen Folgen einer strengen Corona-Politik aber wenig Beachtung schenkten. „Der Umstand, dass Pandemiemodelle Konjunktivkonstruktionen sind, geriet schnell aus den Augen“, schreibt Wiedemann. Erfahrungswissen zum Umgang mit Infektionskrankheiten habe „kaum Aufmerksamkeit“ gefunden. Die Politik habe sich genau da „an einigen Protagonisten einer Mikroskop-Wissenschaft“ orientiert, „wo eigentlich eine breit gefächerte Public-Health-Perspektive nötig gewesen wäre“, kritisiert Wiedemann.

Erinnert sei hier auch an den Fall des Oberregierungsrates Stefan Kohn (SPD): Der beim Bund im Referat K4 (Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz)  für den Schutz kritischer Infrastrukturen zuständige Verwaltungswissenschaftler hatte bis Anfang Mai 2020 einen eigenen „Auswertungsbericht“ zur Corona-Lage erarbeitet, indem er „gravierende Fehlleistungen“ im Krisenmanagement beschrieb und vor einem „Fehlalarm“ warnte, dessen Folgeschäden schwerwiegender sein könnten als die des Virus. Kohn wurde kurz darauf von Bundesinnenminister Seehofer suspendiert.

„Von Ergebnisoffenheit keine Rede“

Von „Ergebnisoffenheit […] konnte also von Beginn an keine Rede sein“, stellt Wiedemann fest. „Der Trick, um dennoch behaupten zu können, man folge der Wissenschaft, war simpel: Politik reduzierte die Wissenschaft auf diejenigen Wissenschaftler, die ihr für die Mobilmachung gegen das Virus brauchbar erschienen“, schreibt Wiedemann. Dabei wisse man aus der psychologischen Forschung schon seit Langem, dass „Konformitätsdruck“ eine „fatale Wirkung“ entfalten könne. Und dass bessere Vorhersagen in der Regel nicht von Experten stammten, „die von einem fast alles wissen“, sondern von jenen, „die von allem etwas wissen“.

Doch genau solche Fachleute seien auf einmal nicht mehr gefragt gewesen, stellt Wiedemann fest: „An die Stelle der Auseinandersetzung mit den Argumenten der Skeptiker, die die Einsicht in die Notwendigkeit nicht teilen, tritt deren moralische Aburteilung. Corona-Politik wurde so zur Frage der richtigen Gesinnung.“

Ausgeschlossen, abberufen oder ignoriert

Wiedemann selbst nennt nur zwei der vielen Cancel-Culture-Opfer, die die Dinge aus anderen Perspektiven betrachteten und zum Beispiel „Kritik an den Corona-Maßnahmen der bayerischen Staatsregierung geübt“ hätten: „In der Corona-Krise steht dafür der Fall des Philosophen und Wirtschaftsinformatikers Christoph Lütge, der im Februar 2021 aus dem Bayerischen Ethikrat ausgeschlossen wurde. Ein weiteres Beispiel ist die Abberufung Friedrich Pürners von seinem Amt als Leiter des Gesundheitsamtes in Aichach-Friedberg“.

Zudem hätten die Einschätzungen von „wissenschaftlichen Fachgesellschaften“ wie etwa „der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH), der Gesellschaft für Hygiene, Umwelt und Präventivmedizin (GHUP) sowie der Deutschen Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie (DGHM)“ keine Rolle „für die deutsche Pandemiepolitik“ gespielt. Umgekehrt habe Prof. Karl Lauterbach – anfangs stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Gesundheitsexperte der SPD, heute Bundesgesundheitsminister – einen auch medialen Aufstieg zum „Master of Disaster“ erlebt.

„Merke: Hochwertige Wissenschaft ist vorzugsweise jene, die einen erwünschten Befund erbringt“, kritisiert Wiedemann.

„Entscheidungsfallen“

Der Diplom-Psychologe unterstellt in seiner Analyse für die Berliner Zeitung allerdings keineswegs einen Plan von Anfang an, sondern eine „völlig einseitige Entscheidungslogik“: „Wer nur danach strebt, das Risiko einer Covid-19-Erkrankung bzw. -Epidemie zu minimieren, bei einer Null-Covid-Strategie gar zu verhindern, und dabei übersieht, dass die gewählten Präventionsmaßnahmen auch negative Folgen haben können, schafft nicht nur Sicherheit“, mahnte Wiedmann.

Das Verhalten und die Äußerungen jener Verantwortung tragenden Kräfte seien auch auf „Nervosität“, „Konformitätsdruck“, auf einen „Tunnelblick“ und auf das Fehlen eines Blicks für „Risiko-Risiko-Abwägungen“ in einer „Ausnahmesituation“ zurückzuführen. So sei man eben in die „Entscheidungsfallen“ getappt.

Eine Aussage der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel scheint diese Erklärung zu unterstützen: Im Januar 2021 räumte Merkel in der Bundespressekonferenz auf eine Frage des freien Journalisten Boris Reitschuster ein:
„Es gibt in dem ganzen auch politische Grundentscheidungen, die haben mit Wissenschaft nichts zu tun.“ [Video auf „YouTube“]. Letztlich nehme der Politik „ja keiner die Entscheidungen ab“, so Merkel damals.

„Überbordende Vorsorge“ aber sei ein Fehler, und selbst „eine Kommunikation mit guten Absichten“ könne „fatale Folgen haben“, meint Wiedemann. Deshalb komme es gerade bei der Bekämpfung einer Pandemie darauf an, „mit besonnener Vorsicht zu agieren“. Wenn aufgrund eines Gesetzes in die Grundrechte eingegriffen werde, sei der Hebel genau hier anzusetzen, empfiehlt Wiedemann.

Zur Person: Peter M. Wiedemann

Der Diplom-Psychologe und Risiko-Experte Prof. Dr. habil. Peter M. Wiedemann, Jahrgang 1948, war nach Angaben der „Berliner Zeitung“ bis 2014 unter anderem Leiter der Programmgruppe „Mensch, Umwelt und Technik“ (MUT) am Forschungszentrum Jülich. Außerdem arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und Sprecher des Wissenschaftsforums EMF in Berlin. Nach Beginn seines Ruhestands 2014 lehrte er bis 2019 als Dozent an der Universität Innsbruck und forschte bis 2020 als Honorarprofessor an der University of Wollongong (Australien). Derzeit bekleidet er ein Amt als außerordentlicher Professor an der Fakultät für Medizin, Krankenpflege und Gesundheitswissenschaften der „Monash University“ in Melbourne.



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