Eckpunkte zu EU-Migrationspakt: Kritiker warnen vor „dreistufigem Entzug der nationalen Souveränität“

Im September hat die EU-Kommission ihren Endbericht zum geplanten Migrationspakt präsentiert. Mit dem Pakt will man die Grundlage zu einer abgestimmten europäischen Asylpolitik legen, ohne auf feste Quoten zu setzen. Nicht alle sind vom Entwurf überzeugt.
Titelbild
Migranten in einem griechischen Lager. Symbolbild.Foto: LOUISA GOULIAMAKI/AFP via Getty Images
Von 5. Oktober 2020

Bereits in ihrem Arbeitsprogramm vom 29.1. des Jahres, also noch vor den Erschütterungen durch die Corona-Krise, hat die Europäische Kommission angekündigt, ihre 2015 begonnene Arbeit an der „Europäischen Migrationsagenda“ zu forcieren. Ziel bleibe ein „Neuer Pakt zu Migration und Asyl“, der von einem Blick auf die Gesamtheit der Problematik und der Verflechtung zwischen internen und externen Aspekten der Migration ausgehen soll.

Der Migrationspakt gilt als Kernanliegen der deutschen Ratspräsidentschaft.

Migrationspakt an der Öffentlichkeit vorbei diskutiert?

Am Ende soll eine „resilienteres, humaneres, effektiveres Migrations- und Asylsystem“ stehen, das „auch das Vertrauen in die Schengen-Zone der Bewegungsfreiheit untermauern soll“. Die Arbeiten an dem Vorhaben konnten in einem vergleichsweise ruhigen Fahrwasser stattfinden – auch wenn es Ende Februar zu einer mehrwöchigen Zuspitzung an der griechisch-türkischen Grenze gekommen war.

In Summe waren es der europäischen Grenzsicherungsagentur Frontex zufolge von Januar bis August etwa 60.800 Migranten, die illegal die Grenze zur EU überschritten hatten. Das waren um 14 Prozent weniger als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Im Jahr 2015 hatte es demgegenüber 1,8 Millionen Grenzübertritte gegeben.

Am 23.9. hat die Kommission nun ihren Endbericht über den bisherigen Verlauf des Orientierungsprozesses vorgelegt, von dem bereits vor Monaten Kritiker gemeint hatten, er sei gegenüber der Öffentlichkeit in unzureichender Weise kommuniziert worden – und deshalb auch weitgehend an dieser vorbeigegangen.

Nur ein Drittel der abgelehnten Asylbewerber wird abgeschoben

Die Botschaft, die von dem Dokument ausgehen soll, ist die, dass die Einwanderung in die Staatengemeinschaft im Griff habe und niemanden überbelasten wolle. Die Gesamtzahl der Asylanträge in der EU habe sich von 1,28 Millionen im Jahr 2015 auf 698.000 im Vorjahr erheblich reduziert.

Die Gesamtzahl an Flüchtlingen, die sich derzeit in der EU aufhielten, entspreche lediglich 0,6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Allerdings räumt man ein, dass nur etwa ein Drittel der im Schnitt 370.000 abgelehnten Schutzsuchenden auch nach Hause zurückgeschickt würden.

Der neue Migrationspakt soll mehrere Kernanliegen umsetzen. So gehe es um ein „robustes und faires“ Grenzregime an den Außengrenzen, das auch Identitäts-, Gesundheits- und Sicherheitschecks umfassen soll. Dazu soll es „faire und effiziente Asylregeln“ geben, die auch klare Verfahrensvorgaben zu Asyl und Rückführung umfassen sollen. Erwähnt wird auch ein „neuer Solidaritätsmechanismus“, der in Situationen des Drucks, der Krise und bei Rettungsaktionen greifen soll.

EU setzt auf zentrale Koordinierung

Weiter soll der geplante Migrationspakt die Anstrengungen zur Vorbereitung auf Krisen und die dazu erforderlichen Reaktionen intensivieren, eine EU-weite Koordinierung im Sinne einer effektiven Rückführungspolitik schaffen und ein Administrationssystem auf EU-Ebene kreieren, um die Asyl- und Migrationspolitik besser bewältigen und umsetzen zu können.

Ergänzend dazu befasst sich das Dokument mit den weiteren Eckpunkten, die der Migrationspakt umfassen soll. Diese wären „Partnerschaften zum gegenseitigen Nutzen mit Schlüssel-Drittstaaten“, von denen Migration ausgehe oder die als Transitstaaten dienen, „nachhaltige legale Wege für Schutzsuchende und ausländische Talente“ in die EU und „Unterstützung effektiver Integrationsmaßnahmen“.

Erfahrungen von 2015 wirken nach

Das Dokument hat Skepsis von unterschiedlicher Seite hervorgerufen. Einerseits bezieht sich diese auf die deutlich erkennbaren Bemühungen, das Asylrecht in immer stärkerem Maße zu einer Gemeinschaftsangelegenheit zu machen. Auf den ersten Blick mag dies vor allem für jene Mitgliedstaaten Erleichterung versprechen, die regelmäßig als Erste von Migranten aus Drittstaaten angesteuert werden.

Auf der anderen Seite gibt es mit den Visegrád-Staaten gleich mehrere Akteure, die um ihre Souveränität in Asylfragen fürchten und argwöhnen, dass größere Mitgliedstaaten einen solchen Mechanismus nutzen könnten, um dem Rest der Gemeinschaft ihre asylpolitischen Präferenzen aufzuzwingen.

Das deutsche Vorpreschen des Jahres 2015, dem sich auch Schweden angeschlossen hatte, wirkt im Unterbewusstsein der Entscheidungsetagen vieler EU-Länder nach wie vor nach – auch wenn aus Schweden mittlerweile andere Töne kommen.

„Dreistufiger Entzug der nationalen Souveränität“

Einige andere Inhalte sind verhältnismäßig wenig präzise gehalten und eröffnen Interpretationsspielraum in unterschiedliche Richtungen. Für Diskussionsstoff dürfte auch die Verknüpfung von Asylpolitik und Arbeitsmigration sorgen, die Maßnahmen für „Schutzsuchende und ausländische Talente“ in einen Zusammenhang stellt. Österreich hatte erst 2018 den UN-Migrationspakt abgelehnt, weil nach Überzeugung von Bundeskanzler Sebastian Kurz dieser keine ausreichende Trennung zwischen diesen höchst unterschiedlichen Themenbereichen vornehme.

Die Initiatoren einer Petition gegen den Pakt, die seit einigen Tagen zur Unterzeichnung aufliegt, warnen vor einem „dreistufigen Entzug der nationalen Souveränität in Einwanderungsfragen durch die EU“, der in unterschiedlichen Maße greifen würde, je nachdem, wie viele illegale Migranten gerade ankämen.

Wie freiwillig bleiben „Empfehlungen“ der EU?

Sie weisen darauf hin, dass zwar die Verantwortung bezüglich der Prüfung der Asylgesuche bei den Erstaufnahmeländern bleibe, der geplante Pakt jedoch für drei unterschiedliche Szenarien vorsehen, in denen je nach Stärke des Migrationsdrucks umso mehr Gestaltungsbefugnisse nach Brüssel wandern würden.

Halte sich der Andrang im Rahmen, würde die EU „freiwillige Empfehlungen“ an die Mitgliedsstaaten richten, die in unterschiedlichen Bereichen tätig werden könnten, um die Erstaufnahmeländer zu entlasten. Bei stärkerem Migrationsdruck sollen Mitgliedstaaten mindestens zu 70 Prozent die EU-„Empfehlungen“ bezüglich Aufnahme, Finanzhilfe oder Beteiligung an „Abschiebe-Partnerschaften“ erfüllen – oder sie könnten zur Aufnahme von mindestens 50 Prozent der ihnen gemäß fiktiver Verteilungsquote zugeteilten Asylbewerber gezwungen werden.

Im Fall einer Großkrise würde die EU bestimmen, wie viele Flüchtlinge ein Land aufnehmen müsse – und dieser Verpflichtung könnten sich die Betreffenden nur noch durch die Beteiligung an einer Abschiebe-Partnerschaft entziehen, nicht mehr durch bloße Finanzhilfe. Auch hier würde im Extremfall eine Zwangszuteilung greifen.

Polen und Ungarn als „Rausschmeißer“ vorgesehen

In der „Financial Times“ hält Tony Barber das Vorhaben aus anderen Gründen für unpraktikabel. Er sieht in dem nun präsentierten Papier einen Schnellschuss unter dem Eindruck der Ereignisse von Moria, der nicht einmal die Mindesterfordernisse eines Paktes erfülle. Die Mitgliedstaaten blieben gespalten hinsichtlich der Inhalte – auch wenn man die einwanderungskritischen Staaten wie Polen oder Ungarn ködere, indem man ihnen die Möglichkeit biete, sich als „Rausschmeißer“ zu betätigen.

Auch habe das Vorhaben, die Identität der Neuankömmlinge in Europa zu prüfen, sie in zeitliche Einrichtungen zu bringen, das Asylverfahren durchzuführen und bei negativem Ausgang die Rückführung zu veranlassen, schon bis dato nicht funktioniert. Der Umstand, dass es nicht einmal diesbezüglich zu einer Einigung gekommen sei, habe die untragbaren Zustände in Lagern wie Moria erst möglich gemacht.

Außerdem habe sich das Abkommen aus dem Jahr 2016 mit der Türkei nicht als tragfähig erwiesen, heißt es in der FT weiter. Nur wenige abgelehnte Asylbewerber seien tatsächlich zurückgenommen worden, stattdessen seien die Erstaufnahmeländer wie Griechenland allein gelassen worden mit überforderten Hilfsmannschaften und Spannungen zwischen lokalen Bürgern und Insassen von Aufnahmeeinrichtungen. Die Folge sei gewesen, dass einer Verschlechterung der Bedingungen in den Lagern bereitwillig zugesehen worden sei in der Hoffnung, auf diese Weise Abschreckung zu bewirken.



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