Ex-Geheimdienstchef: „Seit der Revolution von 1789 hat es in französischen Städten nichts Vergleichbares mehr gegeben“

Ist das schon „Bürgerkrieg“? Was müsste die Regierung tun, um die Macht auf der Straße wiederzugewinnen? Der frühere Chef des französischen Auslandsgeheimdienstes schätzt die Anzahl der Randalierer auf 100.000 bis 200.000.
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Feuerwehrleute löschen ein Feuer in einem Büro der französischen Bank Credit Mutuel, das nach Krawallen Ende Juni ausbrach.Foto: Zakaria Abdelkafi/AFP via Getty Images
Von 21. Juli 2023

Nach Angaben des Innenministeriums beläuft sich die Anzahl der Randalierer, die nach dem Tod von Nahel Merzouk in mehreren französischen Städten gewütet haben, auf 8.000 bis 12.000 Personen, von denen seit dem 27. Juni insgesamt 3.500 Verdächtige festgenommen wurden.

Diese Schätzung liegt weit unter derjenigen, die der ehemalige Geheimdienstchef Pierre Brochand in einem bemerkenswerten Interview abgegeben hat. Dem hochrangigen Beamten zufolge liege die Anzahl der Aktivisten eher zwischen 100.000 und 200.000 Personen, wenn man „das optimistische Verhältnis von 1 Prozent auf die jede Nacht aufgegriffenen Personen anwendet“. [1]

Einwanderung wurde verherrlicht

Pierre Brochand, von 2002 bis 2008 ehemaliger Generaldirektor des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE (Direction générale de la sécurité extérieure) sowie französischer Botschafter (unter anderem in Ungarn und Israel), vertrat in einem Interview mit dem Magazin Figaro am 6. Juli die Ansicht, dass die Unruhen, die Frankreich mehrere Tage lang erschütterten, das Ergebnis jahrzehntelanger Verblendung und Propaganda zugunsten einer Bevölkerungszuwanderung seien. 

„Der Grund dafür, dass es so weit gekommen ist, liegt auch und vielleicht hauptsächlich an der herrschenden Ideologie, die die massive Einwanderung in den vergangenen 50 Jahren gerechtfertigt und sogar verherrlicht hat. Man kann die aktuellen Entwicklungen nicht erklären, ohne auf die Veränderung des Gesellschaftsmodells in den 1970er-Jahren zurückzukommen. Meiner Meinung nach geht alles darauf zurück“.

Seit 40 Jahren Unruhen in den Vorstädten

Dieser gesellschaftliche Umbruch war dadurch gekennzeichnet, dass die Eingliederung aus ideologischen Gründen aufgegeben wurde. Angesichts der zu massiv gewordenen Migrationsströme war man ebenfalls gezwungen, Eingliederungsmaßnahmen aufzugeben. Diese Gesellschaft der Individualisten, die auf der Prämisse beruht, dass Menschen austauschbar und wurzellos sind, hat zu einer Einschleusung kollektiver Identitäten geführt.

Da die Entscheidung für eine Politik der „Integration“ letztlich zur „Trennung“ führte, bildeten sich Diaspora von Menschen, die „weder angepasst noch integriert sind, nicht kooperativ sind, wahre Dritte-Welt-Pools, in denen sich eine doppelte Dynamik der Abspaltung entwickelt“, kritisiert der ehemalige Botschafter. 

Da die Vorstädte zahlenmäßig anschwollen und unsere „Kompromisse und Zugeständnisse“ bemerkten, „ebenso viele Schwachstellen, die zur Übertretung aufrufen“, waren sie 40 Jahre lang Schauplatz isolierter Unruhen, bevor sie sich zu kollektiven Unruhen entwickelten, wie der Flächenbrand von 2005.

Fast zwanzig Jahre später sind die Vorstädte erneut in Aufruhr geraten. Die Städte sind erneut in Flammen aufgegangen und haben einer „polymorphen Gewalt mit drei Zielen“ Platz gemacht: „metapolitisch“ (gegen alles, was Frankreich und seinen Staat repräsentiert), utilitaristisch (großangelegte Plünderungen), sinnlos (nihilistischer Vandalismus). 

Es sind fast ausschließlich dieselben Täter: junge Männer aus den Vorstädten, wo sie das Recht des Stärkeren durchsetzen. Die gleiche offensichtliche Ähnlichkeit mit den rassenfeindlichen Ausbrüchen in den amerikanischen „Ghettos“. Die gleiche Vorliebe für die Nacht, wie bei allen Guerillas der Welt. Dasselbe, ausschließlich urbane Milieu.

Ist das ein „Bürgerkrieg“?

Pierre Brochand möchte mit dem „beruhigenden Klischee der ‚winzigen Minderheit‘ aufräumen: „Was das Ausmaß betrifft, so geben die offiziellen Statistiken Anlass zu der Annahme – Historiker sollten dies überprüfen –, dass seit der Revolution von 1789 in den französischen Städten nichts Vergleichbares passiert ist […] Diese Informationen verschweigen die Anzahl der Protagonisten, die man sehr grob auf 100.000 bis 200.000 Personen schätzen kann (wenn man das optimistische Verhältnis von 1 Prozent auf die Zahl der jede Nacht festgenommenen Personen anwendet).“ [1]

Eine neue Tatsache, die bei der städtischen Gewalt im Jahr 2023 zu beachten ist, ist ihre Ausbreitung in sehr kleine Provinzstädte. Das ist „ein beunruhigendes Spiegelbild der Verbreitung der Einwanderung über das gesamte Staatsgebiet, manchmal auf Veranlassung der Behörden“ und auch in die Zentren der Metropolen.

Den Ausdruck „Bürgerkrieg“, der stellenweise verwendet wird, verwirft der ehemalige Direktor des französischen Auslandsgeheimdienstes DGSE hingegen, insbesondere wegen des Adjektivs „zivil“, das er für unangemessen hält:

„Zum einen, weil die Ausländer zweifellos in großer Zahl aktiv sind, und zum anderen, weil ich auch auf die Gefahr hin, die Leute zu schockieren, die Ansicht vertrete, dass Binationale und Inländer, die Frankreich angreifen, sich selbst aus der nationalen Gemeinschaft ausschließen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die große Mehrheit der Bevölkerung schweigend und aufmerksam abwesend bleibt und nur zuschaut.“

Seiner Meinung nach ist der Begriff „Aufstand oder Revolte gegen den französischen Nationalstaat durch einen bedeutenden Teil der Jugend außereuropäischer Herkunft, die sich auf seinem Territorium aufhält“, am zutreffendsten.

Eine vorhersehbare Katastrophe

Es ist eine Katastrophe, die vorhersehbar war und deren Eintreten von Politikern, Richtern und Journalisten jahrzehntelang mit leeren Beschwörungsformeln und Rassismusvorwürfen hinausgeschoben wurde – ein Instrument der Angst und Schuldzuweisung, um jeden, der sich der Fremdenfreundlichkeit widersetzt, gesellschaftlich zu ächten. 

„Der Mythos hat sich aufgrund von Inkohärenzen am Leben erhalten: Die Einwanderung existiert nicht – sie hat immer existiert. ‚Sie hat nicht begonnen; sie ist unvermeidlich; keine moralische Pflicht; kein wirtschaftlicher Imperativ; wir müssen nur die Mittel bereitstellen; sie sind sowieso schon hier; wir können nichts dagegen tun; sie sind Franzosen wie du und ich‘. Und so weiter.“

Der ethische Anspruch habe sich im Kontakt mit der Realität ebenfalls lächerlich gemacht: „Die Aufforderungen zum ‚Zusammenleben‘ und zur ‚sozialen Mischung‘, der Refrain von der ‚reichen Vielfalt‘, das ‚Prinzip der Brüderlichkeit‘, das dem Verfassungsrat am Herzen liegt“, seien zu leeren Beschwörungsformen oder sogar zu Oxymorons geworden, die Anlass zum Lachen gäben.

Ist es zu spät für eine Korrektur?

Ist es möglich, die verlorenen Gebiete der Republik zurückzugewinnen? Für Pierre Brochand ist das nicht der Fall: „Es ist sehr spät, um Jahrzehnte der kumulierten Abdankung rückgängig zu machen. Deshalb kann man diejenigen, die die Maschinerie haben laufen lassen, die möglichen Folgen kommen sahen, aber nichts unternommen haben, um sie zu verhindern, nicht oft genug anprangern.“ 

Dennoch kommt es nicht infrage, aufzugeben. Notwendig sei, aus dem „zentristischen Ansatz“ auszubrechen. Als Lösungen schlägt er vor, die Migrationsströme einzuschränken, den Zugang zur Staatsbürgerschaft zu begrenzen und die Strafrechtspolitik zu verstärken, um dem Gefühl der Straflosigkeit ein Ende zu setzen.

Und vor allem: „Lassen Sie uns nicht eine Wiederbelebung der Stadtpolitik aus dem Hut zaubern“. Denn das würde auf eine „Belohnung der Revolte“ hinauslaufen.

[1] Er versucht aus der Zahl der Verhafteten – die ist bekannt – auf die Zahl der Teilnehmer zu schließen, die unbekannt oder manipuliert ist. Das eine Prozent ist willkürlich gewählt. Wenn zum Beispiel 100 Leute verhaftet wurden und das einem Prozent der Teilnehmer entspricht, waren insgesamt 10.000 Menschen auf der Straße.

Der Artikel erschien zuerst in der französischsprachigen The Epoch Times unter dem Titel „L’ancien patron de la DGSE évalue entre 100.000 et 200.000 le nombre d’émeutiers: ‚Rien de comparable ne s’est produit dans les villes françaises depuis la Révolution de 1789‘“.



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