Großbritannien warnt EU: London zu hartem Brexit bereit – „Wir werden nicht euer Satellitenstaat“

Die EU müsse „den Umgang mit souveränen und eigenständigen Staaten in Europa erlernen“, betont Großbritanniens Chefverhandler Lord Frost zu Beginn der am Dienstag beginnenden Brexit-Verhandlungsrunde. London will keine Eingriffe in Gesetze und Fischereirechte zulassen.
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Der britische Premierminister Boris Johnson am 8. September 2020 in London, England.Foto: Leon Neal/Getty Images
Von 8. September 2020

Am heutigen Dienstag (8.9.) haben in London Gespräche zwischen den Chefverhandlern der britischen Regierung, Lord Frost, und der EU, die durch Michel Barnier vertreten wird, begonnen. Ziel der Gespräche ist es, einen möglichen „harten Brexit“ ohne Vereinbarungen über die künftigen bilateralen Beziehungen zu verhindern.

Während die frühere Premierministerin Theresa May ihre mit Brüssel geschlossene Brexit-Vereinbarung nicht durch das Unterhaus brachte, hat ihr Nachfolger Boris Johnson deutlich gemacht, dass Großbritannien den Brexit notfalls auch ohne Abkommen vollziehe.

Von der Leyen fordert London auf, sich „an das Völkerrecht zu halten“

Der „Guardian“ zitierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit der Mahnung an die britische Regierung, diese möge sich „an das Völkerrecht halten“. Er schreibt zudem von Telegrammen aus Brüssel in die Mitgliedstaaten, wonach man erwarte, dass Großbritannien mit eigenwilligen Verhandlungstaktiken versuchen würde, Druck aufzubauen, um die EU zu einem Kompromiss in letzter Minute zu zwingen.

Hingegen wirft Lord Frost der EU der „Daily Mail“ zufolge vor, im Stil einer Kolonialmacht zu versuchen, die Brexit-Entscheidung des britischen Volkes zu konterkarikieren und sich ungeachtet des Austritts weiterhin Mitbestimmungsrechte in britischen Angelegenheiten anmaßen zu wollen.

„Diesmal werden wir nicht als erste zwinkern“, machte Lord Frost in Anspielung auf das Abkommen Theresa Mays deutlich, das von Befürwortern eines harten Brexits als weitgehende Unterwerfung unter den Willen Brüssels bewertet worden war. In einem Exklusivinterview in der „Mail on Sunday“ erklärte Lord Frost an die Adresse Barniers, das Vereinigte Königreich werde kein „Satellitenstaat“ von Brüssel werden. Entsprechend werde man keine Restriktionen im umstrittenen Bereich der Fischerei akzeptieren und keine Vetorechte der EU gegen britische Gesetze.

Johnson: Noch 38 Tage – oder es gibt Brexit ohne Deal

Sollte es bis 31. Dezember keine Vereinbarung zwischen den Briten und der EU geben, werde der Brexit ohne Deal vollzogen. Da die Parlamente aller verbliebenen EU-Mitgliedstaaten einer solchen Vereinbarung zustimmen müssen, bleiben de facto nur noch wenige Wochen, um eine Einigung zu erreichen. Dies hatte auch Premierminister Boris Johnson jüngst deutlich gemacht, als er am Wochenende erklärt hatte, es wären nur noch 38 Tage Zeit, um eine Lösung zu finden.

Lord Frost bläst in dasselbe Horn und erklärt gegenüber der Mail: „Ein wesentlicher Teil unserer diesjährigen Anstrengungen dient dem Bestreben, der EU deutlich zu machen, dass wir zu unseren Ansagen stehen und es mit unserer Position ernst meinen.“ Dies sei für Brüssel nach den Erfahrungen mit der Vorgängerregierung, die im kritischen Moment verlässlich eingeknickt sei, ungewohnt.

EU will Vetorechte behalten

Um die Entschlossenheit, notfalls auch ohne Deal ins erste volle Jahr nach dem Brexit zu gehen, zu untermauern, hat das Kabinett eine Kommission mit Mitgliedern von Schlüsselministerien einberufen, die parallel zu den Verhandlungen mit Kanzleramtsminister Michael Gove Entwürfe für Gesetze und Verordnungen ausarbeiten soll, die den Handel im Fall des Scheiterns der Verhandlungen regeln sollen.

Lord Frost zufolge habe die EU „in Schlüsselbereichen unseres Lebens als Nation nicht akzeptiert, dass wir unsere Gesetze selbst beschließen, dass wir Dinge auf unsere Weise regeln wollen und dass wir unsere Freiheit nach dem Brexit auch nutzen wollen.“

Bis dato weigert sich EU-Unterhändler Barnier, zu akzeptieren, dass Großbritannien die Anzahl an Fischen, die in den eigenen Hoheitsgewässern gefangen werden dürfen, deutlich erhöhen möchte, was bisherige EU-Bestimmungen verhindern. Außerdem will die EU weiterhin ein Vetorecht behalten, wenn es um Subventionen für Unternehmen aus dem Staatshaushalt geht.

Lord Frost: Großbritannien ist für „australische Lösung“ bereit

Dies betrachtet man im britischen Verhandlungsteam als Ausdruck einer Weigerung der EU, das Selbstgestaltungsrecht einer souveränen Nation anzuerkennen. Offenbar gehe es, so heißt es in der britischen Presse und aus den Reihen der Konservativen Partei, Brüssel immer noch darum, ein Exempel zu statuieren, um andere potenzielle Austrittskandidaten aus der Staatengemeinschaft abzuschrecken.

Lord Frost ist jedoch nicht bereit, dafür als Prellbock zu fungieren. Er besteht auf einem Handelsvertrag, wie es ihn vonseiten der EU auch mit Kanada gibt: auf Augenhöhe, mit weitgehendem Verzicht auf Zölle und Restriktionen und unter Wahrung der Souveränität. Im Extremfall sei man aber auch dafür gerüstet, künftig Handelsbeziehungen mit der EU „nach Art von Australien“ zu pflegen.

Dies würde bedeuten, dass es keinerlei bilaterale Vereinbarungen mehr gäbe, die beide Partner binden würden und dass der Handel zwischen beiden Ländern lediglich auf der Basis der WTO-Regeln vonstattengehe. Eine weitere Folge wäre, dass wie in den 1970er Jahren die Royal Navy die Hoheitsgewässer kontrolliert, um die souveränen Fischereirechte zu sichern.

Einzelhandel warnt vor höheren Preisen

Andrew Opie vom britischen Einzelhandelsverband warnt allerdings gegenüber dem „Guardian“ vor den möglichen Folgen eines No-Deal-Brexit für die Konsumenten – was nicht zuletzt für Bürger von Irland und Nordirland von Belang wäre, die in diesem Fall Zollschranken zu erwarten hätten:

„Ein No-Deal-Brexit wäre das schlechteste Ergebnis für Konsumenten. Er würde zusätzliche Millionen Pfund an Zöllen auf die Preise der Waren in den Supermärkten zur Folge haben. Dies würde zu höheren Verbraucherpreisen führen, die in überproportionaler Weise die ärmsten Haushalte treffen würden.“

Tatsächlich werden zwischen Großbritannien und den EU-Staaten hauptsächlich Güter des täglichen Bedarfs gehandelt. Dies stellt einen wesentlichen Unterschied zu Australien dar, aus dem vor allem Rohstoffe in Richtung EU verschifft werden.



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