Österreichischer Public-Health-Experte Sprenger: Kein Land wird Corona-Krise unbeschadet überstehen

Martin Sprenger war Mitglied des Expertenbeirats der von der Regierung eingesetzten Corona-Taskforce in Österreich. In einem Beitrag für „Addendum“ sieht er Licht und Schatten, was die Erfolge der Bekämpfung der Seuche in der Alpenrepublik anbelangt.
Titelbild
Eine Schneekugel mit einer Miniatur einer Toilettenpapierrolle, hergestellt in Wien.Foto: ALEX HALADA/AFP via Getty Images
Von 18. April 2020

Der Grazer Public-Health-Experte Martin Sprenger, der vor etwa einer Woche den Expertenbeirat der österreichischen Corona-Taskforce verlassen hatte, hat sich auf der Investigativplattform „Addendum“ erneut zu Wort gemeldet. Was den bisherigen Verlauf der Bekämpfung der Pandemie in Österreich anbelangt, zieht er eine gemischte Bilanz.

Auf jeden Fall sei es Österreich gelungen, einen Zusammenbruch der Krankenversorgung vorerst abzuwenden, macht Sprenger deutlich. Dies sei auch der gut ausgebauten intensivmedizinischen Infrastruktur im Land zu verdanken. Derzeit würden etwa 250 mit COVID-19 Infizierte auf Intensivstationen österreichischer Krankenhäuser liegen, was weniger als zehn Prozent der Bettenkapazität beanspruche.

Gute Betteninfrastruktur in Österreich – aber zu kompliziertes Gesundheitssystem

Österreich habe 30 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner, Schweden ein Fünftel davon: „Das heißt, wenn Österreichs Intensivstationen zur Hälfte belegt sind, wären sie in Schweden schon längst kollabiert.“ Andererseits habe die Seuche auch strukturelle Schwächen des österreichischen Gesundheitssystems offenbart, die auch mit komplizierten Verteilungen von Zuständigkeiten und einem komplizierten und fragmentierten Gesundheitssystem zu tun habe. So seien restriktiver Zugang zu Krankenhäusern und Schwierigkeiten bei der zeitnahen Betreuung durch Fachärzte nach wie vor kritisch.

Die Entscheidung, am 16. März einen Shutdown der Gesellschaft zu verordnen, habe zudem viele Leben gerettet, bilanziert Sprenger. „Dafür sollten wir unserem Bundeskanzler wirklich dankbar sein. Ob es der Druck aus Tirol war, der zu dieser frühzeitigen Entscheidung geführt hat, ist dabei nebensächlich. Er hat sie so getroffen, und das war wichtig und richtig. Auch ich habe, wie so viele andere, die Wucht dieser Pandemie unterschätzt.“

Allerdings werde auch Österreich die Seuche nicht unbeschadet überstehen. Neben dem Schaden durch COVID-19 selbst entstehe auch noch einer durch die Regelversorgung im Krisenmodus und durch die Eindämmungsmaßnahmen selbst. Es müsse jetzt darum gehen, den „gesundheitlichen, psychischen, sozialen und ökonomischen Schaden durch die SARS-CoV-2 Pandemie, aber auch durch Unter- und Fehlversorgung sowie den durch Eindämmungsmaßnahmen verursachten Schaden möglichst klein zu halten“.

Welche Kollateralschäden bleiben unentdeckt?

Es sei zudem auch zu befürchten, dass die Aufmerksamkeit, die dem neuartigen Coronavirus seit einigen Monaten fast exklusiv zuteil geworden sei, Kollateralschäden in anderen Bereichen nach sich ziehe.

In Italien verstarben etwa vier Kinder, die aus Angst vor einer COVID-19-Infektion zu spät ein Krankenhaus aufgesucht hatten, obwohl sie unter einer behandlungsbedürftigen gesundheitlichen Anomalie litten – von Erstmanifestationen von Leukämie oder Typ-I-Diabetes bis hin zu anhaltenden Krampfanfällen. Auch viele andere Entwicklungen könnten unentdeckt bleiben. Dies reiche von einer Zunahme an körperlicher Gewalt oder sexuellem Missbrauch bis hin zu Angststörungen oder Depressionen infolge der Restriktionen im täglichen Leben.

In Österreich sei insbesondere zu beklagen, dass es zu wenig an Zahlenaufarbeitung und Datenanalyse im wissenschaftlichen Bereich gäbe. So fänden sich in der speziell eingerichteten Datenbank PubMed COVID-19 bereits mehr als 3.500 Publikationen zur Auswertung der Corona-Pandemie aus unterschiedlichsten Ländern. Davon stamme jedoch keine einzige aus Österreich, obwohl das Land viele exzellente Institute und Forscher habe.

Sprenger: „Phase 1 vorbei, jetzt muss Monotoringstrategie her“

Die Phase 1 der Pandemie, die der „Freak Wave“, sei nun vorüber, meint Sprenger. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass nicht absehbar sei, wie schnell die exponentielle Verbreitung der Seuche vonstattengehen würde – und ob die Kapazitäten des Gesundheitssystems diesen gewachsen seien. Österreich habe diese dank guter Infrastruktur und schnellen, harten Maßnahmen gut gemeistert.

Nun beginne die Phase 2 des pandemischen Geschehens, in der geklärt werden müsse, wie viele Menschen in welcher Region bereits immun seien und wie lange diese Immunität anhalte. Es sei nun ein intensives Monitoring erforderlich, um der Gefahr einer neuen Erkrankungswelle entgegenzuwirken. Die nunmehrige Phase werde vier bis acht Wochen dauern. Es komme jetzt darauf an, Erkenntnisse über die Herdenimmunität zu gewinnen:

„Eine effektive Herdenimmunität ist dann erreicht, wenn das Ausmaß der Immunität in einer Bevölkerung ausreicht, um weitere Neuinfektionen erfolgreich zu verhindern. Bei Masern liegt diese bei 95 Prozent der Bevölkerung, bei SARS-CoV-2 bei circa 50 bis 66 Prozent.“

Das Problem: Es gebe noch immer keine detaillierte Teststrategie, keine Monitoringstrategie und kein Budget oder Aufträge für Versorgungs- und Begleitforschung.

Stanford-Studie bestätigt: Corona-Todesfälle bei gesunden Patienten unter 65 extrem selten

Insgesamt zeichne sich ab, was auch eine auf Daten aus Ländern wie Deutschland, Belgien, Italien, Niederlande, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien und den USA gestützte Studie unter Federführung von John P.A. Ioannidis (Stanford University) bestätige und was bereits von Beginn der Pandemie an gemutmaßt wurde: Bei unter 65-Jährigen bestehe ein sehr kleines Risiko, an COVID-19 zu versterben – selbst in Hotspots des pandemischen Geschehens wie in Bergamo. Auch bei Personen unter 65 Jahren, die an keinen Grunderkrankungen litten, seien tödliche Verläufe von COVID-19 sehr selten.



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