Investigativjournalist Seymour Hersh: US-Regierung verantwortlich für Nord-Stream-Anschlag

Der Investigativjournalist und Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh macht die CIA für die jüngsten Nord-Stream-Theorien verantwortlich. Er sieht darin eine falsche Fährte, die vom eigentlichen Täter ablenken soll: Präsident Joe Biden. Andere Journalisten sehen Hershs Aussagen bislang nicht widerlegt.
Das vom dänischen Verteidigungskommando zur Verfügung gestellte Foto zeigt das Nord Stream 2-Gasleck aus der Luft. Es gibt weitere Entwicklungen in dem Fall.
Das vom dänischen Verteidigungskommando zur Verfügung gestellte Foto zeigt das Nord-Stream-Gasleck aus der Luft.Foto: -/Danish Defence Command/dpa
Von 23. März 2023

Die Geschichte der pro-ukrainischen Gruppe, die mithilfe eines Segelboots den Nord-Stream-Anschlag verübt haben soll, „war eine totale Erfindung des amerikanischen Geheimdienstes“, schreibt Seymour Hersh in einem neuen Substack-Artikel.

Ein weiteres Mal beruft er sich auf eine anonyme Geheimdienstquelle. Die Geschichte sei mit Beteiligung deutscher Dienste zusammengerührt und an ausgesuchte Medien serviert worden.

Konkret geht es um die „New York Times“ und „Die Zeit“, die in einem Rechercheverbund mit ARD und SWR am 7. März gemeldet hatten, dass die Nord-Stream-Ermittlungen in die Ukraine führten. Die Artikel sollten darauf abzielen, Hershs frühere Recherchen zu diskreditieren. Der Investigativjournalist sieht die Verantwortlichen für den Anschlag bei der US-Regierung.

Mit seiner detaillierten Analyse hatte er am 8. Februar die bis dahin merkwürdig stille Debatte um den größten Anschlag auf die deutsche Energie-Infrastruktur seit dem Zweiten Weltkrieg ins Rollen gebracht.

Kanzler-Besuch beim US-Präsidenten als Ausgangspunkt

Den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beim US-Präsidenten Anfang März sieht Hersh als Ausgangspunkt der „Cover Story“:

Seitdem wurden von keiner der beiden Regierungen Erklärungen oder schriftliche Absprachen veröffentlicht, aber mir wurde von jemandem, der Zugang zu diplomatischen Geheimdienstinformationen hat, gesagt, dass es eine Diskussion über das Pipeline-Exposé gab und dass infolgedessen bestimmte Stellen in der ‚Central Intelligence Agency’ gebeten wurden, in Zusammenarbeit mit dem deutschen Geheimdienst eine Titelgeschichte vorzubereiten, die die amerikanische und deutsche Presse mit einer alternativen Version für die Zerstörung von Nord Stream 2 versorgen würde. In den Worten des Geheimdienstes sollte die CIA ‚einen Impuls im System’ erzeugen, um die Behauptung zu widerlegen, Biden habe die Zerstörung der Pipelines angeordnet.“

Die Meldung der pro-ukrainischen Gruppe wurde in den Leitmedien deutlich größer transportiert als die Recherchen von Seymour Hersh. Doch tatsächlich hatte wohl der 85-jährige Starreporter einige Staatslenker zum Zittern gebracht. Selbst der UN-Sicherheitsrat diskutierte über seine Recherchen.

Die Aussagen von Präsident Biden vom Februar 2022, die USA würden den Pipelines ein Ende setzen, falls Russland in die Ukraine einmarschieren würde, wurden weltweit neu bewertet und setzten die USA sowie die deutsche Regierung unter Druck. Hersh macht deutlich, dass er nicht wisse, ob Bundeskanzler Olaf Scholz bereits im Vorfeld über die Sprengungspläne des US-Präsidenten in Kenntnis gesetzt wurde. In jedem Fall benehme er sich aber wie ein Komplize der US-amerikanischen Vertuschungsversuche.

Das einzige bisher bekannte Indiz

Der Journalist Fabian Scheidler setzte sich in der „Berliner Zeitung“ mit beiden Theorien auseinander. Militärexperten und Journalisten seien bei der Segelboot-Geschichte auf zahlreiche Ungereimtheiten gestoßen, schreibt Scheidler. Das einzige bisher bekannte konkrete Indiz dieser These stellten Spuren eines Explosivstoffes dar, der auf dem Kajütentisch des Segelbootes gefunden worden sein soll. Doch warum hatte die Gruppe bei so einer heiklen Mission den Tisch nach der Tat nicht gereinigt?

Holger Stark, der Leiter des Ressorts „Investigative Recherche“ bei der „Zeit“, antwortet darauf: „Offenbar waren die Attentäter unter Druck und hatten nicht ausreichend Zeit, ihre Spuren zu verwischen.“ Doch Fabian Scheidler macht deutlich, dass der Anschlagsort Hunderte Kilometer vom Rostocker Hafen entfernt sei, wo die Jacht zurückgegeben wurde. „Warum sollten die Täter auf dieser langen Reise keine Zeit gehabt haben, ihre Spuren zu verwischen?”, fragt Scheidler.

Beweis für totale Unprofessionalität

Auch Jeremy Scahill, Mitgründer des Nachrichtenmagazins „The Intercept“, hat Zweifel an der Echtheit der Geschichte mit den Sprengstoffspuren auf dem Kajütentisch: „Dies ist entweder Beweis für totale Unprofessionalität oder eine vorsätzlich gelegte ‚Spur‘, die in der Absicht hinterlassen wurde, zu täuschen.“

Einen Hinweis, dass die Story der „New York Times“ auf wackeligen Füßen steht, gibt selbst einer der drei Reporter, die die Geschichte recherchiert hatten. Julian Barnes erzählt im „New York Times“-PodcastThe Daily” folgendes:

REPORTER: […] ich möchte klarstellen, dass wir wirklich sehr wenig wissen, oder? Diese Gruppe bleibt mysteriös. Und sie bleibt nicht nur für uns rätselhaft, sondern auch für die US-Regierungsvertreter, mit denen wir gesprochen haben. Sie wissen, dass es sich bei den Beteiligten entweder um Ukrainer oder um Russen oder um eine Mischung aus beiden handelt. Sie wissen, dass sie nicht mit der ukrainischen Regierung in Verbindung stehen. Aber sie wissen auch, dass sie Anti-Putin und Pro-Ukraine sind.

MODERATOR: Nach all diesen investigativen Berichten kommt ihr zu dem Schluss, dass es sich bei den Tätern um eine Gruppe von Personen handelt, die dasselbe wollen wie die Ukraine, aber nicht offiziell mit der ukrainischen Regierung verbunden sind. Aber ich bin neugierig, wie sicher ihr seid, dass diese Personen nicht mit der ukrainischen Regierung verbunden sind?

REPORTER: Nun, die Geheimdienstinformationen besagen derzeit, dass sie es nicht sind. Und obwohl uns von offizieller Seite gesagt wird, dass der ukrainische Präsident und seine wichtigsten Berater nichts davon wussten, können wir nicht sicher sein, ob das stimmt oder ob nicht jemand anderes davon wusste.“

US-Geheimdienst lancierte Falschinformationen

Mit anderen Worten: Es gibt keinerlei Indizien außer wackeliger Geheimdienstinformationen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Medien vom US-Geheimdienst lancierte Falschinformationen in die Welt bringen. Der bekannteste Fall ist die Lügengeschichte der Massenvernichtungswaffen im Irak. Darüber berichtete der ehemalige CIA-Analyst und heutige politische Aktivist Ray McGovern in einer bemerkenswerten Rede an den UN-Sicherheitsrat am 21. Februar 2023:

Als ehemaliger CIA-Mitarbeiter muss ich gestehen, dass unsere PR-Leute, unsere Leute für Öffentlichkeitsarbeit, keine besonders gute Bilanz haben. Niemand möchte 20 Jahre zurückgehen bis zu Colin Powells Rede vor dem Sicherheitsrat. Wir alle kennen sie.” (ab Min. 5:30 im Video)

„New York Times verbreitete CIA-Lügen“

McGovern erzählt, wie CIA-Informanten die Medien im Vorfeld der US-Invasion im Irak gesteuert haben. Auch die „New York Times“ hätte damals Lügen der Geheimdienste verbreitet. Ein Jahr später gab es eine Entschuldigung der Chefredaktion. Man hätte damals die Behauptungen „aggressiver hinterfragen” sollen.

Auch die Story von Seymour Hersh beruht auf einer anonymen Geheimdienstquelle. Doch anders als bei der Segelboot-Theorie sind Hershs Recherchen gespickt mit detaillierten Informationen, die plausibel erscheinen. McGovern erzählt über „Sy“ Hersh, den er persönlich kennt, er werde aufgrund seines guten Rufs als Reporter von Menschen mit Gewissen aufgesucht. In einem Interview mit der „Berliner Zeitung” vom 14. Februar sagte Hersh, er habe so viel über die Operation erfahren, weil es kurze Zeit nach dem Anschlag bei den Beteiligten eine Menge Zorn und Ablehnung darüber gegeben habe.

Seymor Hershs Aussagen bislang nicht widerlegt

Fabian Scheidler resümiert, dass Seymor Hershs Aussagen bislang nicht widerlegt werden konnten. Doch es lohne sich ebenfalls, der Geschichte der pro-ukrainischen Gruppe nachzugehen. „Selbst wenn es eine Finte ist, könnte sie zum richtigen Täter führen”, so Scheidler.

Eine dritte These scheint hingegen keine weitere Substanz zu besitzen. Wer sich an die Schlagzeilen direkt nach der Zerstörung der Gasröhren erinnert, wird sie noch vor Augen haben. „Damals war die klare Mehrheitsmeinung: Die Russen waren’s!”, schreibt „Spiegel“-Autor Markus Feldenkirchen auf Twitter.

Dritte These: „Die Russen waren’s!“

Ob das die Deutschen tatsächlich mehrheitlich glaubten, sei dahingestellt. Es war auf jeden Fall jene Meinung, die direkt nach der Sprengung fast unisono in Mainstream-Medien transportiert wurde.

Besonders aktiv im Verbreiten des „Russland-ist-schuld-Standpunkts“ war damals Johannes Peters. Er ist Abteilungsleiter für Maritime Strategie und Sicherheit am Institut für Sicherheitspolitik (ISPK) an der Universität zu Kiel. Auf die Frage, wer ein Interesse daran haben könnte, die Pipelines zu stören, erklärte Peters auf „n-tv” am 27. September – also einen Tag, nachdem der Druckabfall bemerkt worden war:

Ein Interesse daran hätte in der gegenwärtigen Situation eigentlich nur Russland selber. Alle anderen Akteure, die dafür vielleicht die technischen Möglichkeiten hätten, haben überhaupt kein Interesse daran, jetzt in dieser Situation den Betrieb der Pipeline, die ja sowieso momentan kein Gas liefert, zu stören. Dem einzigen Akteur, dem das derzeit nutzt, ist Russland selber.“

In den Tagen nach der Sprengung sagte er ähnliche Dinge bei RTL, „Focus online“, dem „ARD-Morgenmagazin“, dem „ZDF-Mittagsmagazin“, in den „Tagesthemen“, beim „Stern“, beim „RedaktionsNetzwerk Deutschland“, gegenüber der Nachrichtenagentur „Reuters“ sowie verschriftlicht in Artikeln von „Die Zeit“ und „MSN.de“.

Epoch Times bat Johannes Peters um eine Stellungnahme zur Frage, wie er damals so schnell zu seiner Schlussfolgerung gekommen sei und ob er aus heutiger Sicht seine Schuldzuweisung korrigieren würde. Peters lehnte ab und äußerte erhebliche Zweifel gegenüber Epoch Times.

Zu den Partner-Organisationen seines Instituts gehören das „Center for a New American Security, das „Atlantic Council“ und das „Aspen Institute“.



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