Azubi macht Bachelor: Ein Zukunftsmodell in Deutschland?

Abitur in der Tasche und dann? Viele junge Menschen stehen nach dem Schulabschluss vor der Qual der Wahl. Für Unentschlossene gibt es ein neues Studienmodell, das bundesweit immer beliebter wird.
Studium oder Ausbildung
An der Beruflichen Hochschule Hamburg (BHH) können junge Menschen eine Ausbildung machen und gleichzeitig studieren.Foto: iStock
Von 2. März 2023

Studium oder Ausbildung? Vor dieser Entscheidung stehen auch in diesem Jahr Hunderttausende Jugendliche, die kurz davor sind, ihr Abitur zu erwerben. Viele tun sich schwer, eine Wahl zu treffen. Seit mehr als einem Jahr gibt es in Hamburg die Möglichkeit, beide Wege zu kombinieren – mit einer studienintegrierenden Ausbildung. Könnte dieses Modell zum bundesweiten Trend werden?

Die Berufliche Hochschule Hamburg (BHH) bietet seit dem Wintersemester 2021/2022 in Kooperation mit Betrieben und Berufsschulen fünf Bildungsgänge an. So können Studenten beispielsweise eine Ausbildung zum Fachinformatiker in Kombination mit dem Studium Informatik absolvieren. Handwerkliche Ausbildungsberufe wie Maler, Tischler oder Elektroniker können mit einem Betriebswirtschaftsstudium kombiniert werden.

Ein wesentlicher Unterschied zum dualen Studium

Die Verzahnung der Inhalte soll Doppelungen reduzieren, heißt es in der Studienbeschreibung. Auf diese Weise sei es möglich, dass Absolventen nach nur vier Jahren zwei Abschlüsse erlangen können: einen Ausbildungsabschluss und einen Bachelor. Dies sei auch ein wesentlicher Unterschied zum dualen Studium.

Auch finanzielle Anreize gibt es bei diesem Modell. Da die BHH eine öffentliche Hochschule ist, gibt es hier keine Studiengebühren. Die Studenten erhalten hingegen von Anfang an eine Ausbildungsvergütung.

In den ersten 18 Monaten findet die studienintegrierte Ausbildung an drei Lernorten statt, im Betrieb, an der Berufsschule und an der Hochschule. Nach anderthalb Jahren stehen die Lernenden erneut vor der Ausgangsfrage: Wollen sie nur die Ausbildung oder nur das Studium weiterführen, oder wollen sie mit dem Doppelabschluss weitermachen?

Studienabbruch ist „kein Versagen“

„Wo die Begeisterung liegt und wo die Stärken und Schwächen liegen, zeigt sich erst im Verlauf der Zeit“, erklärte Prof. Dr. Insa Sjurts, Präsidentin der Beruflichen Hochschule, während einer Online-Podiumsdiskussion mit „Table.Bildung“. Auch wenn ein Student nach anderthalb Jahren die Entscheidung trifft, nur die berufliche Ausbildung weiterzumachen, sei das „kein Versagen“.

Im Gegenteil: „Es ist auch ein Erfolg, weil es nämlich eine Erkenntnis ist, die im Rahmen der Studien integrierenden Ausbildung gewonnen wurde“, so Sjurts weiter.

Im Jahr 2020 verließen 28 Prozent aller Bachelorstudierenden in Deutschland die Hochschulen ohne einen Abschluss. Dies geht aus der Studienabbruchstudie 2022 des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung hervor.

Je nach Fach gibt es deutliche Unterschiede. Besonders hoch waren die Abbrecherquoten in den Geisteswissenschaften mit 49 Prozent sowie in Mathematik und Naturwissenschaften mit 50 Prozent.

Wie die Präsidentin erklärte, wolle man dieses Szenario möglichst unterbinden durch ein begleitendes, individuelles Coaching. Dies sei ein wichtiger Bestandteil der studienintegrierenden Ausbildung.

Ein bundesweiter Trend?

Die studienintegrierende Ausbildung wird derzeit auch in Nordrhein-Westfalen angeboten. Im Ausbildungsjahr 2021/2022 startete das Land mit drei Pilotstandorten. Ein Jahr später sind sieben weitere Pilotstandorte hinzugekommen.

Auch die Industrie- und Handelskammer in Ulm bietet ein vergleichbares Modell an. In 4,5 beziehungsweise 5 Jahren können die Studenten zwei vollwertige Abschlüsse erwerben. Zehn Studiengänge werden nach dem „Ulmer Modell“ angeboten.

Prof. Bernd Fitzenberger, Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, sieht hier Parallelen zum dualen Studium. Dieses Modell entwickelte sich in den frühen 1970er-Jahren aus der Initiative der lokalen Betriebe in Baden-Württemberg. Schnell haben viele Bundesländer diese Idee aufgriffen und umgesetzt.

Die studienintegrierende Ausbildung könnte laut Fitzenberger ein „neuer Meilenstein“ werden, der die betriebliche Ausbildung mit akademischen Inhalten verbindet. Dieses Konzept kommt zu einer Zeit, in der junge Menschen offenbar weniger Interesse daran haben, eine Berufsausbildung zu beginnen.

In den letzten zwei Dekaden geht der Trend deutlich in Richtung Akademisierung. Doch viele, die sich für ein Studium entschieden haben, sind bereits nach den ersten Semestern unzufrieden mit ihrer Wahl. Gleichzeitig suchen immer mehr Betriebe händeringend nach Auszubildenden.

Leistungsstarke Abiturienten sind willkommen

Prof. Sjurts, die zum Jahresbeginn 2023 die Leitung der BHH übernommen hat, sieht bei der studienbegleitenden Ausbildung eine Win-win-Situation für Unternehmen und Studenten. Auf der einen Seite erhielten Unternehmen „bessere Kandidaten“. Denn in Kombination mit einem Studium wird die Berufsausbildung „auf einmal für ganz andere Zielgruppen interessant“.

Auf der anderen Seite „generieren wir einen Benefit für junge Menschen, die vielleicht noch nicht sicher sind“, ob eine Berufsausbildung oder ein Studium die richtige Wahl für sie ist, so Sjurts.

Derzeit kooperiert die BHH mit über 130 ausbildenden Unternehmen. Mehr als 210 Studenten sind bisher in der Hochschule eingeschrieben. Dazu bewerben sie sich direkt bei den Betrieben. Diese wählt die geeigneten Bewerber aus und schließt mit ihnen einen Ausbildungsvertrag. In der Regel wird Abitur oder ein Fachabitur vorausgesetzt.

Das Studienmodell richtet sich damit an engagierte, leistungsstarke Abiturienten. Und da die Auswahl der Bildungsgänge derzeit noch begrenzt ist, bleibt für die allermeisten Abiturienten nach dem Schulabschluss doch die Frage: Studium oder Ausbildung?



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