Chemieproduktion mit „angezogener Handbremse“

Jedes vierte Unternehmen der Chemiebranche macht Verluste, jedes zweite hat Lieferschwierigkeiten. Die Kosten steigen stärker als die Verkaufspreise, insbesondere der Mittelstand ist betroffen.
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Die chemische Industrie ist der drittgrößte Wirtschaftszweig Deutschlands.Foto: iStock
Von 23. Januar 2023

„Weil die Chemie mit angezogener Handbremse produzieren muss, werden einzelne Grundstoffe bereits knapp“, erklärte Markus Steilemann, Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI). Probleme bereiten die Energiepreise und die Preissteigerungen von Rohstoffen und Vorprodukten. „Dazu kommt, dass unsere Unternehmen durch die stark vom Gaskommissionsvorschlag abweichende Umsetzung der Strom- und Gaspreisbremse voraussichtlich kaum oder nicht entlastet werden. Vor allem unsere Mittelständler kämpfen um ihre Zukunft.“

Die Liste fehlender Stoffe wird stetig länger

Es fehlte unter anderem an Pigmenten, Carbon- und Glasfasern, Salzsäure, Natronlauge, technischem CO₂, organischen Silikonverbindungen oder Eisenchlorid. Die Liste würde stetig länger, erste Wertschöpfungsketten reißen, sagte er während der Jahrespressekonferenz des Verbandes der Chemischen Industrie in Frankfurt im Dezember.

Steilemann warnt: „Chemie steckt in fast allen Gegenständen des täglichen Bedarfs. Eine wirtschaftliche Schieflage der Branche würde zu Versorgungsengpässen in allen Lebensbereichen führen.“ Die Produktion sank im Vergleich zum Vorjahr um sechs Prozent. Ohne das Pharmageschäft lag der Rückgang bei rund zehn Prozent. Einen ähnlich starken Einbruch bei der Produktion gab es zuletzt 2009 als Folge der Weltwirtschaftskrise.

Besonders schwer getroffen hat es das Geschäftsfeld Petrochemikalien. Es verzeichnet im Gesamtjahr 2022 einen Produktionsrückgang von 15,5 Prozent. Auch die Hersteller von anorganischen Grundstoffen, Polymeren und Spezialchemikalien mussten ihre Produktion um knapp zehn Prozent zurückfahren. Bei den konsumnahen Seifen, Wasch- und Reinigungsmitteln sowie bei Kosmetika lag das Minus bei 1,5 Prozent.

Lediglich die Pharmasparte konnte auch 2022 zulegen. Ihre Produktion stieg um drei Prozent. Die Zahl der Beschäftigten in der Chemie- und Pharmabranche verbleibt im Gesamtjahr mit 475.500 auf stabilem Niveau.

Quelle: https://www.vci.de/ergaenzende-downloads/20221214-charts-jahres-pk-2022-end-ohne-backup.pdf

Vier von zehn Unternehmen haben die Produktion gedrosselt oder tun es demnächst

Um größere Verluste zu vermeiden und um Energie – insbesondere Gas – einzusparen, haben viele Unternehmen der Branche ihre Produktion gedrosselt.

40 Prozent der Unternehmen geben an, die Produktion bereits zurückgefahren zu haben oder dies in Kürze tun zu wollen. Ein Teil davon wurde an ausländische Standorte verlagert. Bei fast jedem vierten Unternehmen ist die Verlagerung konkret geplant oder bereits umgesetzt. Jedes fünfte Unternehmen musste wegen der Energiekrise Aufträge ablehnen.

Zwei Drittel der Mitgliedsunternehmen des Verbandes machte im November der Auftragsmangel zu schaffen. Über 25 Prozent der Unternehmen sahen ihre Geschäftstätigkeit dadurch sogar stark beeinträchtigt.

Kann ein Unternehmen aufgrund der steigenden Kosten nicht mehr produzieren, fallen entsprechende Stoffe aus – wie bei der temporären Abschaltung der Ammoniakanlage des SKW Piesteritz. Damit ruhte die Produktion von AdBlue. Der SKW ist deutschlandweit der größte Hersteller von AdBlue, einem Zusatzstoff, den fast alle Lkw und Diesel-Pkw brauchen.

Fehlendes Eisen(II)-sulfat (auch als Grünsalz bekannt) wirkt sich beispielsweise auf Kläranlagen aus. Fehlt es, können Phosphate nicht mehr überall aus dem Abwasser entfernt werden. Eisen(II)-sulfat fällt im Produktionsprozess von Titandioxid im Unternehmen Kronos International an. Kronos ist der größte – und einzige – Hersteller in Deutschland, Standorte befinden sich in Leverkusen und Nordenham. Schwankt hier die Produktion, hat dies Auswirkungen auf die Wasserqualität.

„Null-Schadstoff-Vision“

Neben der Energiesituation beeinflussen Gesetzesvorhaben der EU für chemische Stoffe im Rahmen des Green Deal die Lage. Die EU-Kommission legte Mitte Mai 2021 ihren Aktionsplan „Zero Pollution Action Plan“ vor. Die dahinterstehende Vision ist, bis zum Jahr 2050 „Null Schadstoff in Gewässern, Boden und Luft“ zu erreichen.

Mit der REACH-Verordnung der EU, die sowohl für chemische Stoffe in industriellen Prozessen als auch für die im täglichen Leben vorkommenden Stoffe gilt, stehen fast allen Unternehmen in der EU gravierende Veränderungen bevor. Das gilt auch für Stoffe in Reinigungsmitteln, Farben und Lacken sowie in Produkten wie Kleidung, Möbeln und Elektrogeräten.

Beispielsweise sind neue Gefahrgutklassen im Rahmen der Überarbeitung der CLP-Verordnung geplant, was zu automatischen Stoffverboten führt, so Gerd Romanowski, VCI-Geschäftsführer Umwelt und Technik. „Wir fürchten deshalb, dass zahlreiche Chemikalien vom Markt verschwinden. Sie fehlen dann für Produkte, die zur Umsetzung der EU-Chemikalienstrategie und die Ziele des europäischen Green Deals wichtig sind.“

51 neue Gesetze im Jahr 2023 geplant

Im Jahr 2023 plant die Kommission 51, neue Gesetze auf den Weg zu bringen – 116 Vorschläge aus den Vorjahren sind noch anhängig. „Die ohnehin schon angeschlagenen Unternehmen erwartet damit ein regelrechter Regulierungs- und Bürokratietornado“, stellt der Präsident des VCI fest.

Anstatt Anreize für Innovation und Investition zu setzen, schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren auf den Weg zu bringen und den massiven Ausbau erneuerbarer Energien voranzutreiben, werde gesetzgeberisches Mikromanagement betrieben.

Dabei stehe nicht nur die Krisenabwehr auf dem Spiel. Die Chemiebranche leiste auch für die Transformation hin zur Klimaneutralität einen entscheidenden Beitrag. „Ohne eine starke und international wettbewerbsfähige Chemieindustrie wird es keine zukunftssichere und nachhaltige Wirtschaft geben. Sie ist unersetzlich für den Wohlstand unseres Landes“, sagt Steilemann.

Ausblick 2023: Keine Besserung der Lage

Der Umsatz der chemischen Industrie lag 2022 mit 266,5 Milliarden Euro noch rund 17,5 Prozent höher als 2021. Das Umsatzplus war allein preisgetrieben, die Verkaufsmengen rückläufig.

Für 2023 erwartet der VCI aktuell keine Besserung der Lage. „Die Ertragslage der gesamten Branche hat sich im Jahresverlauf rapide verschlechtert. Und die Vorzeichen für das kommende Jahr stehen denkbar schlecht. Der Rückgang der Industrieproduktion in Deutschland wird sich weiter beschleunigen, der Importdruck weiter zunehmen“, erklärt Markus Steilemann.

Im Inlandsgeschäft rechnet der Verband der Chemischen Industrie wegen der Industrierezession mit einem kräftigen Rückgang.

 



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