Der konstruierte Notstand: SPD und Grüne suchen Aufhänger für Aussetzung der Schuldenbremse

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil zum Nachtragshaushalt die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse gestärkt. Für die politische Linke ein Anlass, die Regeln zu ändern. SPD-Chefin Esken sieht eine „fortdauernde Krise“ als Anlass.
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Olaf Scholz, Christian Lindner und Robert Habeck (v.l.) während einer Fragestunde im Bundestag in Berlin am 15.11.2023.Foto: Odd Andersen/AFP via Getty Images
Von 19. November 2023

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 vom Mittwoch, 15. November, hat die Schuldenbremse des Grundgesetzes gegenüber haushaltspolitischen Umgehungsversuchen gestärkt.

Für die Kläger von der Unionsfraktion und für die FDP, die als Regierungspartei dem Haushalt zugestimmt hatte, ist es ein Signal für mehr Ausgabendisziplin. Für SPD, Grüne und Linke ein Anlass, die Regeln zu ändern – und ein politisch konstruierter Notstand soll es möglich machen.

Esken will Schuldenbremse kurzfristig aussetzen – und perspektivisch „reformieren“

SPD-Parteichefin Saskia Esken will die Schuldenbremse zumindest vorübergehend aussetzen – für 2023 und 2024. Dabei würde eine Aussetzung für dieses Jahr wieder eine rückwirkende Haushaltsplanung erfordern, wie sie die Karlsruher Richter bemängelt hatten.

Wie das ZDF berichtet, soll eine „Notlage“ der Aufhänger dafür sein. Gegenüber der Funke Mediengruppe sprach die Politikerin von einer „fortdauernden krisenhaften Situation“, in der man sich „durch äußere Einflüsse“ befinde. Diese mache eine Aussetzung erforderlich, um „vorübergehend“ wieder mehr Spielraum für staatliche Ausgaben zu schaffen.

Darüber hinaus will Esken die Schuldenbremse allgemein „reformieren“. Dies wäre angesichts der staatlichen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Klimawandel, der Digitalisierung und des demografischen Wandels „unausweichlich“. Die SPD werde „weder beim Klimaschutz und seiner sozialgerechten Ausgestaltung noch beim Sozialstaat Einsparungen zulassen“. Für zusätzliche Einnahmen sollen demnach auch höhere Steuern für Spitzenverdiener sorgen.

Fratzscher sieht in BVerfG-Urteil „Gift für die Wirtschaft“

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Marcel Fratzscher plädiert für ein Aussetzen der Schuldenbremse zumindest für 2024. Auf X erklärt er, dies wäre „der pragmatischste und klügste Weg, um das Problem zu lösen“. Man brauche in Deutschland „mehr Zukunftsinvestitionen — und nicht weniger, was jetzt die logische Konsequenz der Entscheidung des BVerfG sein wird“.

Fratzscher warnt davor, „die negativen Auswirkungen der Entscheidung des BVerfG auf die Wirtschaft“ zu unterschätzen. Die Entscheidung schaffe „Unsicherheit“, weil sie Unternehmen und Haushalten Planungssicherheit nehme. Dies sei „Gift für die Wirtschaft“.

Äußerungen dieser Art im Zusammenhang mit dem Heizungsgesetz oder anderen staatlichen Sanierungsvorgaben sind von ihm nicht bekannt. In diesem Kontext bemängelte er lediglich das „Vor und Zurück“ und die innere Zerstrittenheit hinsichtlich der Maßnahme – nicht die möglichen hohen Kosten für Hausbesitzer.

Überfahren der Union wie in der Merkel-Ära gilt derzeit als unrealistisch

In der ersten Haushaltsdebatte nach dem Urteil haben sich Abgeordnete von SPD, Grünen und Linkspartei offen gezeigt für eine Lockerung oder gar Abschaffung der Schuldenbremse. Die Mehrheit für eine dafür erforderliche Verfassungsänderung ist derzeit nicht in Sicht, da die Union nicht mitziehen würde.

Um diese Situation zu ändern, wird es für Befürworter einer Abkehr von der Schuldenbremse erforderlich sein, im vorpolitischen Raum Druck zu entfalten. Dass dies zu Kehrtwenden bei der Union beitragen kann, hatte die Merkel-Ära mehrfach offenbart.

Der Atomausstieg 2011 und das Klimaschutzgesetz von 2019 waren vor allem durch massiven öffentlichen und medialen Druck entstanden. Aufhänger waren damals die Havarie im KKW Fukushima und die Aufmärsche von Pressure Groups wie Fridays for Future mit ihren Katastrophenwarnungen.

Anders als in den genannten Jahren scheint dies zumindest aus Richtung der Grünen oder diesen nahestehender „zivilgesellschaftlicher“ Bestrebungen schwieriger zu sein. Die Umfragewerte der Grünen haben sich seit Ende der 2010er fast halbiert.

Die Teuerungseffekte grüner Energiepolitik haben auch Gruppen wie Fridays for Future den Wind aus den Segeln genommen. Dazu kommen Antisemitismusskandale, die zu deren interner Spaltung beitragen.

DGB-Vorstandsmitglied will „Nettoinvestitionen künftig von der Schuldenregel ausnehmen“

Derzeit sind es vor allem Ökonomen wie Fratzschers DIW-Kollegin Claudia Kemfert, die den „Notstand“ im Kontext des Klimawandels beschwören. Dazu kommen Stimmen aus den Gewerkschaften, die eine Modifizierung der Schuldenbremse fordern, um sozialpolitischen Verwerfungen aufgrund der Energiekrise gegenzusteuern.

DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell bezeichnete die Schuldenbremse als „unflexibel“ und „investitionsfeindlich“. Er forderte eine Reform, deren Ziel es sei, „Nettoinvestitionen künftig von der Schuldenregel auszunehmen“.

Die sogenannten Wirtschaftsweisen zeigen sich in dieser Frage unterdessen gespalten. Die Vorsitzende Monika Schnitzer erklärte, „größere Spielräume für die Schuldenfinanzierung von Nettoinvestitionen“ könnten Abhilfe für gefährdete Klimaprojekte schaffen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hatte den mit 60 Milliarden Euro bestückten „Klima- und Transformationsfonds“ betroffen.

Schnitzer zufolge ließe sich eine erneute Ausnahme von der Schuldenbremse mit den Auswirkungen der Energiekrise begründen. Diese erfordere eine Abfederung der Lasten und einen Ausbau der Energieversorgung.

Grimm: „Subventionen kürzen statt Schuldenbremse aushebeln“

Die Wirtschaftsweise Veronika Grimm hingegen fordert eine Einhaltung der Schuldenbremse. Gegenüber der Funke Mediengruppe machte sie deutlich, dass eine akute Notlage mit dem Klimaschutz „schwer zu argumentieren“ sei. Immerhin sei dieser „eine langfristige Transformationsaufgabe, die Jahrzehnte andauert“.

Eine willkürliche Aufweichung oder gar eine Abkehr von der Schuldenbremse wäre Grimm zufolge nicht zu verantworten: „Hier muss man finanzpolitisch nachhaltig agieren, sonst erleben wir in Europa Staatsschuldenkrisen, lange bevor das Klima gerettet ist.“

Stattdessen solle die Bundesregierung Subventionen kürzen – auch beim Heizungsgesetz: „Haushalte, die es sich leisten können, müssen nicht subventioniert werden, um ihr Heizungssystem auszutauschen.“

(Mit Material von AFP)



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