Die Absurdität der Winnetou-Debatte

Nach dem Aus für Winnetou beim Ravensburger Verlag gibt es viel Gegenwind. Selbst Indianer reagieren mit Unverständnis. ZDF will Filme weiter zeigen, die ARD nicht.
Die Absurdität der Winnetou-Debatte
Eine Originalausgabe der Winnetou-Bücher im Karl May Museum in Radebeul.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 4. September 2022

„Als Erstes freue ich mich, dass wir sonst keine Probleme haben. Wir haben die Inflation bewältigt, wir haben die Ukraine befriedet, die Zuwanderung ist kein Thema, also können wir uns den richtig wichtigen Dingen des Alltags widmen.“ Mit überaus ironischen Bemerkungen kommentiert der Journalist und Buchautor den Medienhype um den nach Rassismusvorwürfen aus dem Ravensburger Verlag aussortierten Titel „Der junge Häuptling Winnetou“.

Der ganze Wirbel im Winnetou sei eine Realsatire, sagte Henryk M. Broder in einem Video-Interview mit der „Welt“, deren Kolumnist der 76-Jährige auch ist: „Wenn sich das einer von uns vor fünf Jahren ausgedacht hätte, hätte man ihn zur ärztlichen Behandlung geschickt.“

Drei, vier, fünf Denunziationen genügen

Broder nennt die Vorgänge die „Tyrannei der Political Correctness“. Das Ganze habe aber bereits vor langer Zeit begonnen, sagte Broder. So habe „irgendeine Organisation“ sich vor 20 Jahren darüber beschwert, dass in einem Buch des Philosophen Walter Benjamin (1892 bis 1940) das Wort „Zigeuner“ vorkomme. Es sei „der schlichte Wahnsinn“.

Mit dieser Betrachtungsweise könne man eigentlich alle Büchereien räumen, fast alle Kinofilme verbieten. Die Argumentation des Ravensburger Verlages, dass man „mit heutigem Wissen die Titel gar nicht mehr veröffentlichen würde“, nennt Broder „eine ganz dumme Ausrede, die einfach nur zeigt, dass die nicht wissen, worüber sie reden“. Er wisse nicht, was sich dahinter verberge.

Der eigentliche Skandal sei, „dass drei, vier, fünf Denunziationen genügen, um so einen Prozess in Gang zu bringen“. Die Angst vor einem inkorrekten Verhalten, „vor einem Verhalten, das nicht woke ist, hat offensichtlich die Gesellschaft erfasst“.

Broder stellte auch die Frage, warum es keine kulturelle Aneignung geben soll. So müsste man einer südafrikanischen Theatergruppe die Aufführung eines Stückes von Friedrich Schiller (1759 bis 1805) verbieten, weil sie sich eine andere Kultur aneigne.

„Kulturelle Aneignung ist ein Totschlagargument, ein dummes Wort, das überhaupt nichts bedeutet.“ Von solchen Worten gebe es eine ganze Menge. „Damit werden politische Ereignisse eingeleitet oder gerechtfertigt, aber sie sind eben nur Schlagworte.“ Sie richteten aber Schaden an, weil es Leute einschüchtere.

Kunst hat die Aufgabe, Diskussionen auszulösen

„Die Winnetou-Debatte hat absurde Züge angenommen, die sich kaum noch nachvollziehen lassen“, sagt der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Gernot Vollmer auf Anfrage von Epoch Times. Die Entscheidung des Ravensburger Verlags teile weder er noch die Karl-May-Gesellschaft, deren stellvertretender Vorsitzender er ist. Sie sei auch nicht plausibel zu begründen.

Generell seien „erschreckende Tendenzen“ zu erkennen, Kunst unter der Devise einer „Political Correctness“ zu zensieren. Kunst hat Vollmers Ansicht nach jedoch die Aufgabe, Kontroversen, kritische Diskussionen auszulösen, anzuregen, aufzugreifen.

„Dazu zählen auch Rassismus-Debatten und Auseinandersetzungen mit jeder Art von Diskriminierung. Eine Tabuisierung oder Verbannung von problematischen Texten oder Büchern löst meiner Meinung nach nicht die Problematik, sondern fördert sie noch, und zwar – wie das Beispiel der Winnetou-Debatte leider zeigt – auf eine eskalierende Weise.“

Ein Teil der Winnetou-Filme wurde früher im Tal des Flusses Zrmanja in Kroatien gedreht. Foto: iStock

Prof. Vollmer: „Dekoloniale Aktivisten sind der eigentliche Sündenfall“

Die Karl-May-Gesellschaft und die Karl-May-Stiftung sehen als „eigentlichen Sündenfall“, dass „dekoloniale Aktivisten“ einen Bezug zu Karl May herstellten, der ein „überholtes rassistisches Weltbild vertrete und den Genozid an der indigenen Bevölkerung Amerikas romantisiere oder verschweige“. Grundsätzlich möchten die gemeinsamen Verfasser dieses offenen Briefes zum Umgang mit historischen Darstellungen verschiedene Aspekte festhalten. So sei Karl May (1842-1912) „unvermeidlich vom Habitus eines kolonialen Zeitalters geprägt“. Die zeitbedingte Weltsicht teile May mit praktisch allen Autorinnen und Autoren der Vergangenheit.

Das Besondere sei, dass in seiner Darstellung des „Wilden Westens“ von Anfang an die Sympathie des Erzählers der leidenden indigenen Bevölkerung gelte. Ihre Würde und ihre menschlichen Qualitäten verkörperten sich in Idealfiguren wie Winnetou, dem Häuptling der Apachen. Die „tragische Vernichtung“ ihrer materiellen und kulturellen Existenz sei Grundlage aller seiner Nordamerika-Erzählungen.

Überhebliche Verachtung außereuropäischer Kulturen, rassistische Sprache und religiöse Intoleranz seien bei Karl May „durchgehend Merkmale negativ gezeichneter Antagonisten. Hierdurch hat der Autor bei seiner großenteils jugendlichen Leserschaft zweifellos über mehrere Generationen hinweg als Erzieher zu Toleranz und Weltoffenheit gewirkt“, betonen die Verfasser.

May habe sich durch die autodidaktische Beschäftigung mit Geschichte, Religionen und Sprachen fremder Kulturen im Laufe seines Schriftstellerlebens zunehmend über den „chauvinistischen Zeitgeist“ des späten 19. Jahrhunderts erhoben.

​Wenn nun die auf May basierende Darstellung von Winnetou die Gefühle anderer Menschen verletzt habe, wie der Ravensburger Verlag behaupte, „dann werden die Wunden nicht dadurch geheilt, dass man den Verursacher (…) ausradiert“.

Vielmehr bedürfe es einer „wirksamen und nachhaltigen Therapie der expliziten Auseinandersetzung mit den Ursachen“. In diesem Zusammenhang verdiene der Schriftsteller, der häufig auf Film-Klischees reduziert werde, eine differenzierte Betrachtung.

Ein Sioux ist auf Winnetous Seite

Unterstützung für die Winnetou-Befürworter gibt es auch von den Indianern selbst: „Ich bin auf Winnetous Seite. Ich unterstütze seine Geschichten komplett und bin ziemlich verärgert, dass man versucht, ihn quasi auszuradieren. Ich fühle mich überhaupt nicht diskriminiert, ich sehe auch überhaupt nichts diskriminierendes oder gar rassistisches bei Winnetou“, wird der Sioux Robert Packard in einem Interview auf reitschuster.de zitiert.

ARD sendet keine Filme mit dem Apachen-Häuptling

Ungeachtet aller Gegenargumente verschwindet Winnetou auch bei der ARD zunächst einmal im Archiv. Wie die „Bild“ schreibt, werde der öffentlich-rechtliche Sender keine Filme mit dem Apachen-Häuptling zeigen. Die Anstalten hätten bereits im Jahr 2020 die entsprechenden Lizenzen auslaufen lassen. Erneute Lizenzkäufe seien nicht geplant.

Das Social-Media-Team von „ZDF-heute“ forderte laut „Bild“ Nutzer in den sozialen Medien auf, „das I-Wort in der Kommunikation zu vermeiden“. Später habe der Sender diese Formulierung bedauert. Das ZDF werde „in den nächsten Jahren“ weiter Winnetou-Filme ausstrahlen.

Keine verharmlosenden Klischees verbreiten

Der Ravensburger Verlag beantwortete keine der von Epoch Times gestellten Fragen. Zu eventuellen Auswirkungen auf sein Angebotsspektrum wollte der Verlag sich ebenso wenig äußern wie auf die künftige Auswahl von Werken.

Auch ob anstelle der Ächtung des Kinderbuches nicht eine Diskussion zu den Inhalten hilfreicher gewesen wäre, ließ der Verlag unkommentiert. Stattdessen übersandte ein Sprecher eine allgemeine Stellungnahme mit den bereits bekannten Argumenten.

So werde „angesichts der geschichtlichen Wirklichkeit, der Unterdrückung der indigenen Bevölkerung, hier ein romantisierendes Bild mit vielen Klischees gezeichnet“. Der Stoff sei weit entfernt von dem, wie es der indigenen Bevölkerung tatsächlich erging. „Verharmlosende Klischees“ wolle man nicht wiederholen und verbreiten.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 60, vom 03. September 2022.



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