Eingeständnisse ja, Entschuldigung nein – Lauterbach über Schulschließungen
Schwierigkeiten beim Lesen, Probleme beim Rechnen und auch Konflikte im Umgang miteinander. Die Defizite der Kinder und Jugendlichen durch Schulschließungen sind offensichtlich, wie eine neue Meta-Studie zeigt. Damals wusste man es nicht besser, könnte man sagen. Aber ist das wirklich so?
Um „Verzeihung“ will Lauterbach nicht bitten
„Wir werden einander viel verzeihen müssen“, so lautet der Titel eines im Herbst 2022 erschienenen Buches des früheren Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU). Diesen Satz prägte er im Rahmen einer Regierungsbefragung des Bundestages am 22. April 2020. Um „Verzeihung“ will Spahns Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) nicht bitten. Gegenüber dem „ARD-Morgenmagazin“ sagte er am 30. Januar:
Das würde ja bedeuten, dass man damals hätte etwas anders machen müssen, weil man es besser wusste.“
Dies sei jedoch „nicht oft“ der Fall gewesen. Man müsse vorliegend klar unterscheiden zwischen Dingen wie „Bereicherung, Abkassiererei, Raffgier und Fehlern“ – wie bei den Maskendeals oder überteuerten Tests. „Das sind Dinge, die hätten nie passieren dürfen.“
Anders sehe es jedoch bei den Schulschließungen aus: „Zum Beispiel war es im Nachhinein betrachtet ein Fehler, die Schulen und Kitas so lange geschlossen zu halten. […] Damals wurde das aber von den Wissenschaftlern, die die Bundesregierung beraten haben, angeraten“, schildert Lauterbach weiter.
Der Kenntnisstand sei „einfach nicht gut genug“ gewesen, fügt der Minister hinzu, was viele als Kritik in Richtung Robert Koch-Institut und des Virologen Christian Drosten sehen.
Erst vor einer Woche hatte sich der scheidende RKI-Präsident Lothar Wieler zu den Schulschließungen geäußert, wie die „Zeit“ berichtete. Es habe nie nur die Alternative gegeben: Entweder wenige Tote oder Schulen offen halten. „Der vorhandene Spielraum ist während der ganzen Pandemie nicht ausreichend mit der nötigen Sorgfalt, Ruhe und Sachlichkeit betrachtet worden“, so Wieler. Das RKI habe „immer Empfehlungen abgegeben, mit denen man den Betrieb in Schulen und Kitas hätte laufen lassen können, wenn auch unter Anstrengung“.
Der Virologe Drosten gab bereits klar in einem Tweet am 16. März 2020 zu verstehen: „Vielmehr war ich mir nicht sicher, was ich empfehlen sollte. Denn ich bin Virologe und Schulschliessungen gehören nicht in mein Fachgebiet.“
Kekulé: Schulschließung „alternativlos“
Sein Kollege Alexander Kekulé vom Universitätsklinikum Halle, der damals in den Medien ebenfalls sehr präsent war, hielt die Schließung von Schulen und Kindergärten – und zwar bundesweit – zur damaligen Zeit für „alternativlos“. Bereits im Januar 2020 hatte er diese empfohlen.
Gegenüber dem „ZDF-Morgenmagazin“ sagte Kekulé am 13. März 2020: „Wir haben keine andere Möglichkeit, als das zu machen. Die Frage ist nur, ob wir es heute machen oder in einer Woche oder in zwei Wochen“. Der Unterschied sei, dass jedes Kind, das in der Schule infiziert sei und nicht erkannt werde, statistisch pro Woche zwei bis drei Kinder infiziere. Diese würden dann ihre Eltern anstecken, sodass es zu einer „Infektions-Lawine“ komme, die nach einigen Wochen nicht mehr zu bremsen wäre.
Aber nicht nur in Deutschland wurden Schulen und Kitas geschlossen – als erstes Land machte Italien alle Schulen und Universitäten dicht. Später forderten weitere europäische Staaten wie Frankreich, Belgien, Luxemburg, Portugal, Spanien, Norwegen und Irland. Schweden hingegen ging einen Sonderweg und vermied einen Lockdown.
Spahn stellt Studie infrage
In einer Bundestagssitzung am 22. April 2020 – fünf Wochen nach der Schulschließung im Lockdown – prägte Spahn den Satz, dass „wir miteinander in ein paar Monaten viel verzeihen müssen“.
In jener Sitzung wies der AfD-Abgeordnete Dr. Robby Schlund Spahn auf eine Studie mit 13.000 Teilnehmern hin, die am 14. April 2020 im „New England Journal of Medicine“ erschienen war. Diese zeigte, dass Kinder in Island bis zum zehnten Lebensjahr praktisch nicht infiziert worden waren. „Auch aktuelle chinesische Daten zeigen, dass nur 0,7 bis 0,8 Prozent der Infizierten überhaupt Kinder unter zehn Jahren waren“, schilderte Schlund.
„Ich denke, angesichts dieser Studienlage kann man die Schulklassen bis zur dritten Klasse und auch die Kindergärten öffnen“, sagte der Abgeordnete an Spahn gerichtet.
Dieser antwortete, dass die Studie Fragen offenlassen. Außerdem gehe es nicht nur darum, „wie es sich gesundheitlich bei den Kindern entwickelt.“ Man müsse auch wissen, ob Kinder und Familien, die sich treffen, „möglicherweise die Infektionen in die Elternhäuser und Großelternhäuser [tragen], wo es ja möglicherweise Vorerkrankungen gibt“.
Auf die Frage von Detlev Spangenberg (AfD), warum Spahn keinen Stab eingerichtet habe, der auch Wissenschaftler mit anderen Meinungen zu diesem Thema zu Wort kommen lasse, antwortete dieser: „Ich sage es noch einmal: Das Robert Koch-Institut ist eine Institution der Bundesregierung […] Wir haben mit dem Robert Koch-Institut eine der weltweit angesehensten Institutionen für öffentliche Gesundheit.“
Außerdem würden alle unterschiedlichen Meinungen zur Geltung kommen – ob im Fernsehen, im Radio oder in Plenardebatten. Allerdings müsse man letztendlich am Ende zu Entscheidungen kommen.
Kinder- und Jugendärzte kritisieren Schulschließungen
Im Gegensatz zu den Regierungsberatern, die Lauterbach für die Schulschließung nun verantwortlich macht, gab es auch Spezialisten, die die Schulschließungen im Frühjahr 2020 klar kritisierten.
„Pauschales Verbot von Präsenzunterricht ist medizinisch nicht gerechtfertigt!“, kritisierte der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) am 22. Mai 2020. Der ersatzweise angebotene Onlineunterricht überfordere insbesondere lernschwache Kinder und Jugendliche.
Aber nicht nur Kinder waren hier Leidtragende. „In die Praxen kommen immer mehr verzweifelte Eltern, die mit der aus wissenschaftlicher Sicht umstrittenen Schulschließung massive, teils existenzielle Probleme bekommen haben, weil sie aufgrund von Homeschooling und Kinderbetreuung ihrer Erwerbsarbeit nicht nachgehen können“, beklagte der Verband weiter. „Wir sehen Kinder, die stark unruhige bzw. rastlose Verhaltensweisen zeigen, die zuvor nicht bestanden haben. Die negativen Folgen der Schulschließungen erleben wir auch an der sprunghaft angestiegenen Inanspruchnahme der Kinderschutzhotlines.“
„Aus wissenschaftlicher Sicht ist es unstrittig, dass insbesondere jüngere Kinder bis zehn Jahre nur sehr selten schwer an COVID-19 erkranken. Tun sie dies ausnahmsweise doch, so stecken sie Erwachsene nur in seltenen Fällen an, sie selbst hingegen wurden in über 80 Prozent der Fälle nachweislich von Erwachsenen angesteckt“, heißt es weiter in der Stellungnahme. Jenseits des zehnten Geburtstages seien Kinder in der Regel in der Lage, Hygienemaßnahmen umzusetzen.
Gegenüber der Epoch Times äußerte Jakob Maske, BVKJ-Bundespressesprecher, im Hinblick auf die Schulschließungen: „Am Anfang der Pandemie waren diese Fehler zu verzeihen, nur hätte man in den folgenden Wellen aus diesen Fehlern lernen müssen. Wir haben sehr schnell vor den verheerenden Folgen für Kinder und Jugendliche gewarnt.“ Er fügte hinzu: „Aber natürlich ist dieser späte Einsicht hoffentlich präventiv für einer erneute Pandemie, welcher Art auch immer. Hier muss Politik aus der Vergangenheit lernen.“
Eher vom Blitz getroffen als auf Intensivstation
Auch nach einer Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie in Verbindung mit dem Deutschen Krankenhausgesellschaft vom 21. April 2021 war eine Schließung von Kitas und Schulen nicht gerechtfertigt.
Vom 17. März 2020 bis 11. April 2021 wurde bei insgesamt vier Kindern COVID-19 als Todesursache festgestellt, teilten die Verbände unter Bezug auf ein Register für in Kinderkliniken stationär behandelte Kinder und Jugendliche mit. 62 der 1.259 Patienten mussten auf einer Intensivstation behandelt werden.
Laut Schätzungen leben in Deutschland 14 Millionen Kind und Jugendliche. Wenn nur etwa 1.200 mit einer COVID-Infektion im Krankenhaus landen, sei das weniger als 0,01 Prozent, so die Verbände. In Bezug auf die vier Todesfälle liege die Quote sogar bei unter 0,00002 Prozent. Diese Beobachtung sollte Anlass sein, um „Eltern übergroße Sorgen vor einem schweren Krankheitsverlauf bei ihren Kindern zu nehmen“, hieß es in der gemeinsamen Presseerklärung.
Der Direktor der Abteilung für Kinderkardiologie und Intensivmedizin im Klinikum Großhadern in München drückte es etwas bildlicher aus: „Menschen werden in Deutschland eher vom Blitz getroffen, als dass Kinder wegen einer COVID-Erkrankung auf der Intensivstation landen.“
Lerndefizite durch Corona-Krise offensichtlich
Die COVID-19-Pandemie habe „zu einer der größten Lernstörungen in der Geschichte“ geführt, heißt es in einer Studie, die am 30. Januar auf „Nature Human Behaviour“ erschienen ist. Dies sei zum großen Teil auf Schulschließungen zurückzuführen, wovon schätzungsweise 95 Prozent der weltweiten Schüler betroffen seien. In der Meta-Analyse wurden 42 Studien aus 15 Ländern geprüft.
Besonders groß seien die Lerndefizite bei Kindern aus ärmeren Schichten. In Mathematik seien die Defizite tendenziell größer als im Lesen. Eine mögliche Begründung sehen die Autoren in der Tatsache, dass schulisches Lernen im Lesen zu Hause leichter zu kompensieren gewesen sei als beispielsweise Mathematik oder auch andere naturwissenschaftliche Fächer.
Ländern mit mittleren Einkommen schnitten im Vergleich zu Ländern mit hohem Einkommen schlechter ab. Die Lerndefizite hätten sich schon früh in der Pandemie gezeigt.
„Lockdowns haben die Bewegungsfreiheit der Kinder und ihre Fähigkeit zu spielen, andere Kinder zu treffen und sich an außerschulischen Aktivitäten zu beteiligen, eingeschränkt“, so die Autoren.
Der Lernfortschritt habe sich während der COVID-Pandemie erheblich verlangsamt. Etwa 35 Prozent des Lernwertes eines Schuljahres sei den Schülern entgangen. Dass die Lerndefizite nach wie vor bestehen, zeige, wie wichtig nun „gut durchdachte, solide finanzierte und entschlossene politische Initiativen“ erforderlich seien, um diese auszugleichen.
Als Beispiel verweisen die Autoren auf eine Aktion im Süden von Afrika. In Botswana habe man durch das Versenden von SMS-Nachrichten mit Rechenaufgaben erhebliche Lernfortschritte erzielt. In Brasilien hätte das Versenden von motivierenden Textnachrichten Lernverluste in Mathematik und Portugiesisch erfolgreich eingeschränkt.
Mögliche Wege seien neben gezielten staatlichen Bildungsprogrammen Angebote wie Sommerschulen, Lerncamps, die Verlängerung von Schultagen und Schulwochen sowie die Ausweitung von Nachhilfeprogrammen. Auch Lern-Apps, Online-Lernplattformen oder Bildungs-TV-Programme kämen infrage. Selbst relative einfache und kostengünstige Lernmaßnahmen im Rahmen des Fernunterrichts könnten erheblich positive Auswirkungen auf den Lernfortschritt der Schüler haben.
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