Integrationsbeauftragte: „Antisemitische Straftaten zu fast 90 Prozent von rechts“ – Betroffene geben anderes Bild ab

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung erklärt auf Twitter, 90 Prozent der antisemitisch motivierten Straftaten in Deutschland gingen von Rechtsextremen aus. Dies bestätige die PMK. Die Erfahrungen Betroffener zeigen ein weniger eindeutiges Bedrohungsbild.
Von 22. Mai 2020

Am Dienstag (19.5.) teilte das Amt der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz, auf Twitter mit, dass mit 89,1 Prozent die mit Abstand meisten antisemitisch motivierten Straftaten dem Rechtsextremismus zuzuordnen seien.

Einschätzungen dieser Art hatten bereits im Vorjahr mancherorts Irritationen ausgelöst, nachdem von mehreren Seiten, insbesondere Betroffener, geäußert worden war, dass diese Angaben sich nicht mit ihren Erfahrungen deckten.

Integrationsbeauftragte nimmt BKA-Zahlen für 2019 vorweg

Die Integrationsbeauftragte bezieht sich offenbar auf den Jahresbericht 2019 des Bundesinnenministeriums zur „Politisch motivierten Kriminalität“ (PMK), der sich auf Zahlen des Jahres 2018 bezog, den Stand vom 14. Mai des Vorjahres wiedergibt und Anfang des Monats in Berlin vorgestellt wurde. Illustriert wurde der Tweet mit einer Grafik, der zufolge das Bundeskriminalamt (BKA) im Jahr 2019 bereits monatlich 167 antisemitische Vorfälle erfasst habe.

Anlass der Veröffentlichung war offenbar die Präsentation des Berichts des Kabinettausschusses der deutschen Bundesregierung zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus, der seit Mittwoch zum Download bereitsteht.

Inwieweit die Kritik an der Zuordnung mancher antisemitisch motivierter Straftaten, die der PMK-Bericht im Vorjahr ausgelöst hatte, Änderungen im Bereich der Erfassung nach sich gezogen hat, geht aus dem diesjährigen Report nicht hervor. Aus dem BKA selbst hieß es im Vorjahr noch auf Anfrage des ARD-„Faktenfinders“, die „Bewertung politisch motivierter Straftaten durchläuft eine mehrstufige Qualitätskontrolle“. In den vergangenen Jahren hätten sich diesbezüglich „im Rahmen qualitätssichernder Maßnahmen keine Hinweise auf eine statistisch verzerrende Wirkung dieser Zuordnungsregel ergeben“.

Verwendung von Nazi-Parolen durch Linke und Islamisten automatisch „rechtsextrem“?

Im PMK-Bericht selbst heißt es im Unterkapitel „Hasskriminalität“, das sich mit „Straftaten, die durch gruppenbezogene Vorurteile motiviert sind“, beschäftigt, antisemitische Straftaten seien um 19,6 Prozent gegenüber dem Jahr 2017 angestiegen (2018: 1.799; 2017: 1.504). Weit überwiegend seien die antisemitischen Straftaten „nach wie vor dem Phänomenbereich PMK-rechts“ zuzuordnen“ (89,1 Prozent).

Umfragen unter Juden in Deutschland, die selbst Opfer antisemitisch motivierter Gewalttaten wurden, deuteten jedoch bereits in früheren Jahren auf eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Daten der PMK und den Erfahrungen der Betroffenen hin.

Wie die „Jüdische Allgemeine“ im Mai des Vorjahres berichtete, gaben 62 Prozent der Opfer antisemitischer Beleidigungen und 81 Prozent der Betroffenen körperlicher Übergriffe an, die Täter seien muslimischen Einwanderercommunitys zuzuordnen.

Zudem wären über Jahre hinweg Straftaten wie „Sieg Heil“-Rufe bei der antisemitischen Al-Kuds-Demonstration proiranischer Vereinigungen in Berlin, „Juden raus“-Schmierereien oder die Verwendung von SS-Runen bei einer BDS-Kundgebung stets automatisch rechtsextremistischer PMK zugeordnet worden – auch wenn die Urheber im linksextremen oder radikal-islamischen Spektrum anzusiedeln waren.

RIAS soll repräsentativeres Bild liefern

Aus diesem Grund sprach sich damals auch der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen dafür aus, dass die Kriminalstatistik dringend überprüft werde. Durch die bis dahin gepflegte Praxis entstehe „möglicherweise ein nach rechts verzerrtes Bild über die Tatmotivation und den Täterkreis“, äußerten auch schon 2017 Autoren eines Berichts des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus.

Die Bundesregierung selbst scheint die kritischen Anmerkungen zumindest registriert zu haben. Bereits im Oktober 2018 hatte sie den Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in Berlin gegründet. Dieser hatte im Jahr 2018 allein für die Bundeshauptstadt insgesamt 1.083 antisemitische Übergriffe gezählt – darunter 46 Angriffe, 46 Bedrohungen, 43 gezielte Sachbeschädigungen, 873 Fälle „verletzenden Verhaltens“ sowie 117 antisemitische Massenzuschriften.

Die Forschungsstelle zählt allerdings alle antisemitisch motivierten Vorfälle, die ihr zur Kenntnis kommen, auch solche, die noch nicht die Grenze zu einem Straftatbestand erreichen oder nicht zur Anzeige gelangen. Zwar ordnet auch RIAS die meisten antisemitischen Übergriffe dem Rechtsextremismus zu – allerdings seien dies dessen Erkenntnissen zufolge lediglich 18 Prozent.

Dem islamistischen Spektrum habe man nur zwei Prozent der erfassten Fälle insgesamt zugeordnet, wobei in diesem Fall die Zahl der konkreten Bedrohungen auffallend hoch gewesen sei. Mit neun Prozent liege „israelfeindlicher Aktivismus“ auf Platz zwei hinter den rechtsextremistischen Vorfällen. Bei fast der Hälfte der erfassten Vorfälle sei kein eindeutiger Hintergrund auszumachen gewesen.

EU-weite Studie: Antisemitische Übergriffe von Islamisten und Linksextremen häufiger

Eine Untersuchung zum Antisemitismus auf EU-Ebene zeigt ebenfalls, dass es deutlich mehr an Übergriffen gegen jüdische Mitbürger und Einrichtungen zu geben scheint, die nicht dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sind, als die deutsche PMK-Statistik suggeriert. Auch dies habe damit zu tun, dass ein erheblicher Teil der Vorfälle gar nicht zur Anzeige komme.

Mit 30 Prozent gehen der Untersuchung zufolge antisemitische Belästigungen von Personen mit radikal-islamischer Überzeugung aus, in 21 Prozent der Fälle wären Linksextreme die Urheber. Erst danach kämen Arbeitskollegen, Mitschüler oder Studienkollegen sowie Personen mit einer rechtsgerichteten politischen Orientierung, die in 13 Prozent der registrierten Fälle verantwortlich gewesen seien.

Der Antisemitismusbeauftragte des Bundes koordiniert nun eine ständige Bund-Länder-Kommission zur Sensibilisierung der Gesellschaft für aktuelle und historische Formen des Antisemitismus durch Öffentlichkeitsarbeit sowie politische und kulturelle Bildung, heißt es im aktuellen Bericht des Kabinettsausschusses.

Ein zentrales Projekt dieser Kommission sei es, in Kooperation mit den Ländern ein bundesweites Meldesystem zur Erfassung antisemitischer Vorfälle unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit einzurichten. Dem RIAS soll dabei eine zentrale Rolle zukommen. Seit 2019 wird der Verband aus Mitteln der Bundesregierung finanziert.

Nicht nur hausgemachtes Problem – aber auch nicht nur importiertes

Die Erkenntnisse, die daraus gewonnen werden, sollen helfen, ein repräsentativeres Gesamtbild über das Phänomen des Antisemitismus in Deutschland zu erlangen, um damit eine bessere Grundlage für Präventionsarbeit zu erlangen. Dass die Bundesregierung diese Bemühungen forciert, deutet darauf hin, dass auch sie von einer hohen Dunkelziffer antisemitischer Vorfälle ausgeht, die sich entweder gar nicht oder nicht in repräsentativer Weise in den Aufzeichnungen zur PMK wiederfinden.

In Summe zeichnet sich ab, dass zu einem seit Jahrhunderten in Europa selbst verankerten, religiös oder politisch-ideologisch motivierten Antisemitismus auch ein importierter dazustößt, der zunehmend an Bedeutung gewinnt.



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