Medien und der UN-Migrationspakt: „Tradiertes Leitbild des moralisierenden Belehrungsjournalismus“

In einer Studie hat die Otto-Brenner-Stiftung rund 700 Beiträge deutscher Leitmedien zum UN-Migrationspakt sowie Stichproben der ARD-„Tagesschau“ ausgewertet. Das Ergebnis: Die Medien hätten erst berichtet, nachdem dessen Gegner den Pakt offensiv zum Thema gemacht hatten – und nicht alle berichteten ausgewogen.
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Foto: dts
Von 20. Mai 2019

Im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung hat der Medienwissenschaftler Michael Haller die Berichterstattung deutscher Leitmedien über den UN-Migrationspakt untersucht und vor allem überregionalen Publikationen dabei Versäumnisse attestiert.

Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Haller zu einem solchen Ergebnis kommt. Bereits 2017 war er federführend an einer Studie der Stiftung über die Berichterstattung zur Flüchtlingskrise beteiligt. Damals resümierte er, die meistkonsumierten tagesaktuellen Informationsmedien hätten zumeist „einseitig, meist aus Sicht der politischen Eliten und meinungsbetont“ berichtet.

Auf diese Weise hätten die „nicht diskursiv, sondern polarisierend“ gewirkt. Erst die Ereignisse der Silvesternacht 2015/16 habe einen Wandel hin zu einer differenzierteren und stärker am Alltag der Normalbürger orientierten Berichterstattung geführt.

Uneinheitliche Lernprozesse

Das nunmehrige, auf der Webseite der Otto-Brenner-Stiftung abrufbare Arbeitspapier befasst sich unter anderem mit dem Thema von „Lernprozessen“ der betroffenen Medien in Anbetracht des Themas „UN-Migrationspakt“. Immerhin, so zitiert man unter anderem Stimmen wie den Chefredakteur des „Hamburger Abendblatts“, Matthias Iken, habe deren „Hurra-Journalismus“ jener Jahre eine Ursache der heute beklagten Medien- und Vertrauenskrise gesetzt.

Es habe in Deutschland „nie eine rationale Debatte über Chancen und Grenzen der Einwanderung“ gegeben, sondern einen „irrationalen Überschwang“ inklusive systematischer Abwertung und Dämonisierung von Gegenmeinungen. Der britische Politologe Anthony Glees charakterisierte Deutschland 2015 im Deutschlandfunk gar als einen „Hippie-Staat, der sich nur von Gefühlen leiten lässt.

Der Eindruck, den Haller und sein Team nunmehr aus der Auswertung von rund 700 Beiträgen in „Süddeutscher Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Bild“, „taz“ und WELT sowie aus Stichproben der ARD-„Tagesschau“ zum UN-Migrationspakt gewonnen haben, ist uneinheitlich.

Haller stellt zwar fest, dass „einige Medienredaktionen die Art der Themenvermittlung verändert haben und vom Kathederjournalismus herabgestiegen sind“, insgesamt sei aber eine Tendenz festzustellen gewesen, sich des prägenden Themas der letzten Monate des Vorjahres erst angenommen zu haben, als sich dies infolge der öffentlichen Aufmerksamkeit nicht mehr vermeiden ließ.

Reschke: Nur „blumiges Diplomatenpapier“

Zeitlich lasse sich die Phase der Beschäftigung von Leitmedien mit dem UN-Migrationspakt im Wesentlichen auf etwa sechs Wochen vor dessen Unterzeichnung am 10. Dezember 2018 in Marrakesch einschränken. Die Vorarbeiten für den „Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ reichen jedoch bereits in die Zeit der Flüchtlingskrise zurück.

Haller hielt dieses späte Interesse für „erstaunlich“, denn es hätte klar sein müssen, dass der Pakt, der helfen sollte, legale Migration besser zu organisieren, „von großem öffentlichem Interesse“ war. Die Medien hätten damit ein „Konfliktthema verschlafen“. Er warf die Frage auf, ob hinsichtlich einer breiteren und offeneren Debatte „nicht allein die regierenden Politiker die Verhinderer waren, sondern auch die Leitmedien, in dem sie der Themenagenda der Bundesregierung folgten und die Bedeutsamkeit des Vorgangs nicht erkannten“. Es liege die Annahme nahe, so Haller, „dass die Leitmedien weiterhin der Agenda der institutionellen Politik und ihrer Elite folgen und Konfliktstoff erst bearbeiten, wenn er von den Polit-Akteuren öffentlich thematisiert wird“.

Eine Einschätzung, die NDR-Journalistin Anja Reschke nicht teilt. Sie hatte sich im Dezember 2018 in einer von ihr präsentierten Ausgabe des Magazins „ZAPP“ darüber beklagt, dass es sich bei diesem Pakt nur um ein „blumiges Diplomatenpapier“ gehandelt hätte, das eigentlich nicht weiter der Rede wert gewesen wäre, hätten die „Verschwörungstheorien“, die die Rechte darüber verbreitet habe, nicht das Thema über die sozialen Medien am Ende auch den Redaktionen aufgezwungen.

Wehling: „Andere Fronten eröffnen“, um den Deutungsrahmen zu bewahren

Die zuletzt durch das „Framing-Handbuch“ für die ARD in Erscheinung getretene Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Wehling pflichtete ihr damals bei. Die Argumente der AfD und anderer Gegner des Abkommens aufzugreifen, die argwöhnten, es werde an der Öffentlichkeit vorbei ein Pakt unterschrieben, der auf gesetzlich legalem Wege viel mehr Flüchtlinge ins Land bringen würde, bestätige deren Diskursstrategie.

Aus Sicht der Wissenschaftlerin, die in ihrem Handbuch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk als elementaren Garanten einer „kontrollierten Demokratie“ umschrieb, hätten die Medien versuchen sollen, der Debatte einen eigenen Frame zu verpassen: Um den „Deutungsrahmen“ weiter setzen zu können, der Diskurse auf einen „Wahrheitsgehalt“ festlege, empfehle es sich, so Wehling, Diskurse nicht immer nur aufzugreifen, sondern auch andere Fronten zu eröffnen.

Am Ende war es die Erklärung des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, der am 31. Oktober 2018 erklärt hatte, das Abkommen nicht zu unterzeichnen, der eine Kettenreaktion auslösen sollte. Da fortan mehrere weitere EU-Mitgliedsländer und auch Mittelmeer-Anrainerstaaten wie Israel eine Verweigerung der Unterzeichnung in Auge fassten, wurde das Thema auch in den führenden Medien zum Dauerbrenner.

Die von Haller und seinem Team ausgewerteten Publikationen seien „sehr spät, aber dann kraftvoll in den öffentlichen Diskurs“ eingestiegen. Die „Bild“ habe dabei innenpolitische Konflikte rund um das Abkommen in den Vordergrund gestellt. Die FAZ und die „Welt“ hätten das Thema umfassend und unter Darlegung unterschiedlicher Position behandelt. Dabei hätten sie auch Argumente von Lesern aufgegriffen.

Lokaljournalismus als letzte Zuflucht vor „Echokammern“

Anders Formate wie die „Süddeutsche“, die „taz“ oder die „Tagesschau“. Diese hätten sich „dem Diskurs entzogen“, indem sie Gegenargumente gar nicht erst zur Kenntnis genommen und Gesinnungsethik über die sachliche Aufklärung gestellt hätten. Sachverhaltsdarstellung und Kommentierung seien dort kaum getrennt worden, die „Tagesschau“ sei in ihren Beiträgen zum Thema einmal mehr „ihrem tradierten Leitbild des moralisierenden Belehrungsjournalismus“ gefolgt.

Nicht erneut ausgewertet hatte die Otto-Brenner-Stiftung den Lokaljournalismus. Grundsätzlich deuten Studien an, dass der überschaubare Rahmen des Lokalen und die damit verbundene stärkere Nähe der Akteure zueinander eine soziale Kontrolle schafft, die dem Vertrauen zwischen Medien und Publikum zuträglich ist.

Dennoch mangele es dort immer mehr an Ressourcen für Qualitätsverbesserung und Lernprozesse. Starre Produktionsroutinen und „halbautomatisierte“ Wiedergabe der Berichterstattungswünsche lokaler Behörden, Vereine oder Veranstalter würden die Möglichkeiten zu eigener Recherche und qualitativ hochwertiger Berichterstattung dort einschränken. Dies sei gefährlich, befürchtet Haller:

„Wenn der Lokaljournalismus untergeht, wird der öffentliche Diskurs in Echokammern zerfallen und das Feld den Ideologien radikalisierter Gruppen überlassen.“



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