Reformpädagogische Odenwaldschule: Mehr Internatsschüler jahrelang schwer missbraucht als angenommen

Neun Jahre hat es gedauert, bis das Beweismaterial zum sexuellen Missbrauch am ehemaligen Eliteinternat im Odenwald vollständig aufgearbeitet wurde. Das Ergebnis: Schätzungsweise 900 Kinder wurden missbraucht, mehr als bisher angenommen. Immer mehr Opfer wagen sich an die Öffentlichkeit. Die Beweislage ist erschütternd.
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Die Odenwaldschule in Ober-Hambach bei Heppenheim.Foto: Boris Roessler/dpa
Epoch Times26. Februar 2019

An der hessischen Odenwaldschule sind mehr Schülerinnen und Schüler massiv sexuell missbraucht worden als bisher angenommen. Das geht aus zwei Studien hervor, die letzten Freitag in Wiesbaden von Hessens Sozialminister Kai Klose (Grüne) und zwei Wissenschaftlern aus München und Rostock vorgestellt wurden.

Laut der Studie des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung München (IPP) sind zwischen 1966 und 1989 zwischen 500 und 900 Jugendliche wiederholt schwer sexuell missbraucht wurden. Bisher ist man von 132 Fällen ausgegangen.

Für die Forschungsarbeit aus München wurden zudem 64 Menschen aus dem Umfeld der Schule interviewt, 36 davon waren Schüler. Sie beschuldigten insgesamt 33 Personen, die meisten davon waren Lehrer und andere Schüler. Die Odenwaldschule als Eliteschule habe ein System geschaffen, das sich um sich selbst gedreht habe, schrieben die Münchner Autoren.

2010 wurde der sexuelle Missbrauch aufgedeckt. Die als Reformschule für ihre alternativen Bildungsansätze bekannte Odenwaldschule gab anschließend eine öffentliche Entschuldigung ab und sagte eine konsequente und lückenlose Aufarbeitung zu. 2015 musste die Schule ihren Betrieb einstellen.

Manipulativ, selbstherrlich und schäbig

Florian Straus vom IPP kritisierte am Freitag, die dort über Jahrzehnte praktizierte sexuelle und emotionale Ausbeutung der Schüler. Sein Fazit: Es handelt sich um „ein manipulatives, selbstherrliches und schäbiges pädagogisches System, in dem alle Kinder und Jugendlichen massiven Entwicklungsrisiken ausgesetzt wurden“.

Laut Jens Brachmann, Verfasser der zweiten Studie, die am Institut für Allgemeine Pädagogik und Sozialpädagogik der Universität Rostock erstellt wurde, geben die ausgewerteten Akten Rückschlüsse auf mehr als zwei Dutzend Täter unter den pädagogischen und technischen Mitarbeitern der Odenwaldschule.

Auch Frauen sind Täter

Zudem seien die Täter an dem Eliteinternat nicht ausnahmslos Männer gewesen. Die Unterlagen ließen Rückschlüsse auf mindestens fünf pädagogische Mitarbeiterinnen zu. „Die haben noch Täterinnen und Täter entdeckt, von denen wir nichts wussten“, so Adrian Körfer, ehemaliger Gründungsvorsitzender des Vereins Glasbrechen. Körfer und Opfer von sexuellem Missbrauch an der Odenwaldschule.

Aufarbeitung und Veröffentlichung der Studien hätte schon viel früher erfolgen sollen, so Straus. Die Studien des IPP und der Universität Rostock waren 2014 vom damaligen Trägerverein der Odenwaldschule und dem Verein Glasbrechen in Auftrag gegeben und vom hessischen Sozialministerium mitfinanziert worden.

Alle Täter befinden sich auf freien Fuß und wurden wegen Verjährung des Falls nicht belangt.

Pädophile unter dem Deckmantel der Reformpädagogik

Der als charismatisch beschriebene Gründer und damalige Schulleiter der Odenwaldschule, Gerold Becker, war bis in die höchsten Kreise der deutschen Gesellschaft vernetzt. Wie die „Zeit“ mutmaßte, könnte dies der Grund sein, dass der Missbrauch nicht früher an die Öffentlichkeit gelangte.

Lehrer und Schüler in einer Doku des „ARD“ beschrieben Becker als jemanden, dem es leicht fiel, das Vertrauen eines Menschen zu gewinnen und herauszufinden, was sein Gegenüber gern mochte. Mit seiner Art zog er sowohl die Lehrer als auch die Schüler in den Bann. Freiheiten aller Art waren an der Odenwaldschule erlaubt. Dafür waren manche bereit, den pädophilen Schulleiter gewähren zu lassen.

Das reformpädagogische Konzept der Schule entsprach dem damaligen liberalen Zeitgeist der Nachkriegszeit und folgte einer  radikalen antiautoritären Erziehung, in dessen Zentrum das Kind und seine Entwicklung stand. Lehrer und Schüler lebten in sogenannten Familien eng zusammen und duzten sich. „Werde, wer du bist“, lautete das Motto der Schule.

Jungen wurden für Sexdienste eingeteilt

Auf seinem Blog zitiert der taz-Redakteur Christian Füller ein Opfer bei einer Zusammenkunft der ehemaligen Lehrer und Schüler zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der ehemaligen Turnhalle der Schule: „Es kam nicht von mir. Ich habe es hier gelernt, dass es normal ist, zu einem Erwachsenen ins Bett zu steigen. Ich war neun Jahre alt, als ich hier ankam“, so eines der Opfer.

Ein anderes Opfer erzählte, wie er als Dreizehnjähriger regelmäßig von Schulleiter Becker durch Oralverkehr nachts aus dem Schlaf gerissen wurde und Angst hatte, dass dieser ihm sein Glied abbeißt. Zudem habe das morgendliche Weckritual des Schulleiters darin bestanden, die Glieder der Jungen zu reiben. „Jeden Tag, jeden verdammten Tag. Nur am Tag des Herrn ließ er uns ausschlafen“, so Schüler.

Margarita Kaufmann, die spätere Schulleiterin äußerte sich in einem „Zeit“-Interview: Einer der früheren Lehrer habe einen zehn Jahre alten Schüler jede Nacht zu sich geholt. Später habe dieser Lehrer in einer Wohnung in Heppenheim gelebt, wo Schüler auf Partys für Sexdienste eingeteilt worden seien. „Das waren richtige Vergewaltigungen. Analverkehr“, so Kaufmann. Das alles sei auch gefilmt worden.

Wer Widerstand leistet, wird eingeschüchtert

Der Erziehungswissenschaftler Jürgen Oelkers beschreibt das Schulsystem Beckers gegenüber der „Zeit“ als  generationenübergreifendes Missbrauchssystem mit verschiedenen Tätern, die voneinander wussten und sich gegenseitig schützten. Widerständige Kinder wurden mit Intrigen und Lügen eingeschüchtert.

In leichteren Fällen wurden sie einer anderen Internatsfamilie der Schule zugeteilt. In schwereren Fällen wurden sie unter Vorwänden wie Drogenmissbrauch oder Diebstahl von der Schule verwiesen. Becker empfahl Eltern, die Kinder in Therapie zu geben oder schlug ihnen ein englisches Internat als Alternative vor. Das habe Oelkers in Briefwechseln zwischen Becker und den Familien gefunden.

Ein Schweigekartell?

Am 17. November 1999 hat die Frankfurter Rundschau erstmals in einem großen Bericht über sexuelle Übergriffe auf Schüler der Odenwaldschule berichtet. Ausführlich schilderte der Artikel, wie Becker die Schüler immer wieder „begrapscht“ habe und ihnen „an den Genitalien herumfuhrwerkte“. Ebenso, dass Becker „ständig im Schülerbereich geduscht“ und „Kinderpornohefte konsumierte“ habe.

Entgegen der Annahme von Jörg Schindler, dem Journalisten, der den Artikel schrieb, griffen die überregionalen Medien den Fall nicht auf. Für eine Beeinflussung der Medien gab es laut „Zeit“ keine Beweise. Fakt sei jedoch, dass Becker und vor allem sein Lebensgefährte Hartmut von Hentig einflussreiche Bekannte in vielen Redaktionen hatten, darunter auch bei der „Zeit“ .

Hentig, ebenfalls bekannter Reformpädagoge und Begründer der Laborschule in Bielefeld war mit der langjährigen Herausgeberin, der verstorbene Marion Gräfin Dönhoff befreundet. Hentigs Reformwerk und auch die Odenwaldschule, wurde in der „Zeit“ wohlwollend besprochen. „Man darf seinen Lehrer auch einmal anfassen, ihn umarmen“, schrieb die „Zeit“ 1985 über die Pädagogik des Eros, Grundlage der Reformpädagogik. (nh)



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