Selbstbestimmung bis in den Tod – Suizidassistenz und das Karlsruher Urteil

2020 fällte Karlsruhe ein folgenschweres Urteil, wodurch das Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ aufgehoben wurde. Seitdem gibt es ein Ringen um eine neue gesetzliche Regelung.
Selbsttötung: Suizidassistenz und das Karlsruher Urteil
Seit Oktober 2020 versuchte der gelähmte Mann für sich Sterbehilfe geltend zu machen (Symbolbild).Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa
Von 22. September 2022

Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2020 ist die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung in Deutschland nicht mehr gesetzlich verboten. Laut den Richtern leitet sich aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) das Recht ab, seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen und dafür die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Dabei bestehe das Recht auf einen selbstbestimmten Tod in jeder Lebensphase und sei nicht auf einen krankheitsbedingten Sterbeprozess begrenzt, so die Richter.

Damit hoben sie das 2015 vom Gesetzgeber eingeführte Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ (§ 217 StGB) auf. Dieses regelte bis dahin, dass Menschen, die wiederholt anderen bei der Durchführung ihres Suizidwunsches halfen, eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bekommen konnten.

Als Konsequenz auf das Urteil hob der Deutsche Ärztetag (Hauptversammlung der Bundesärztekammer) 2021 das bisherige Verbot der Suizidassistenz aus der Berufsordnung auf. Ursprünglich stand in der bundesweiten Musterberufsordnung der Satz „Der Arzt darf keine Hilfe zur Selbsttötung leisten.“

Bundesärztekammerpräsident Klaus Reinhardt betonte damals jedoch, dass „Suizidassistenz keine ärztliche Aufgabe“ sei. Das schließe aber nicht aus, dass ein Arzt einem leidenden Patienten im Einzelfall nicht helfen dürfe.

Bundestag legt drei Gesetzentwürfe vor

Die Karlsruher Richter ermutigten bei ihrem Urteilsspruch 2020 den Gesetzgeber, die Suizidassistenz im Rahmen bestimmter Vorgaben gesetzlich neu auszugestalten.

Nach dem Richterspruch versuchten Bundestagsabgeordnete in fraktionsübergreifenden Gruppen mehrere Gesetzentwürfe auf den Weg zu bringen. Bis jetzt ohne Erfolg. Die Parteien fanden keine gemeinsame Linie. In der aktuellen Legislaturperiode des Bundestags liegen drei fraktionsübergreifend erarbeitete Anträge vor. Ende Juni wurden sie im Bundestag in erster Lesung beraten.

Alle Entwürfe geben Sterbewilligen nach unterschiedlich gearteter Beratung Zugang zu tödlich wirkenden Medikamenten. Einer der Entwürfe für eine Neuregelung sieht ein Verbot geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe sowie bestimmte Auflagen für vorherige Beratungen vor.

Die anderen Vorlagen sehen liberalere Regelungen vor, setzen aber ebenfalls auf bestimmte Auflagen oder Beratungsangebote. Die Anträge müssen noch in den Ausschüssen beraten werden. Mit einer Entscheidung des Bundestags wird erst für den Herbst gerechnet.

Für die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO) ist der jetzige Zustand gefährlich. Sie hält es für dringlich, Bedingungen für die Suizidassistenz gesetzlich klar zu regeln. Denn das 2020 eingetretene „Vakuum“ berge die Gefahr, dass sich Strukturen und Handlungskonzepte entwickeln oder gar etablieren würden, die politisch nicht gewollt sein könnten.

„So muss sichergestellt werden, dass mit der Not oder der Unsicherheit von Menschen keine Geschäfte gemacht werden“, erklärte die BAGSO kürzlich.

Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, hält alle drei Entwürfe für unpassend. „Wenn der Bundestag die organisierte Suizidbeihilfe regeln will, muss die Selbstbestimmung der Sterbewilligen gestärkt werden und der Schutz vor Fremdbestimmung gewährleistet sein. Keiner der drei Gesetzentwürfe kann diesen Ansprüchen gerecht werden“, so Brysch Ende Juni. Die vorgesehenen Pflichtberatungen gingen an der Realität vorbei.

Jährlich 10.000 Suizide

In Deutschland nehmen sich jedes Jahr fast 10.000 Menschen das Leben, wobei die Zahl der Suizidversuche auf circa 100.000 pro Jahr geschätzt wird. Die Zahl der Suizide steigen proportional mit zunehmendem Alter an. Dabei fällt auf, dass sie überwiegend von Männern be­gangen werden. Im Jahr 2018 haben sich laut amtlicher Statistik mehr als 3.000 Personen im Alter von über 70 Jahren selbst das Leben genommen.

Es gibt unterschiedliche Formen der Sterbehilfe: Aktive Sterbehilfe ist das Töten eines anderen Menschen auf sein ausdrückliches Verlangen hin mithilfe einer tödlichen Substanz. Assistierter Suizid ist die Hilfe bei der Selbsttötung, beispielsweise durch das Bereitstellen eines Giftes, das der Suizident selbst zu sich nimmt. Passive Sterbehilfe ist das Sterbenlassen durch Unterlassen oder Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen.

Indirekte Sterbehilfe (zum Beispiel in Form der Palliativmedizin) bedeutet die Inkaufnahme eines verfrühten Todes aufgrund einer schmerzlindernden Behandlung im Einverständnis mit dem Betroffenen.

Die Beteiligung an einem freiverantwortlichen Suizid ist nach derzeitiger Rechtslage straflos für Angehörige und Ärzte ebenso wie für „organisierte“ Personen. Hingegen ist die Mitwirkung an nicht freiverantwortlichen Suiziden als unterlassene Hilfeleistung, fahrlässige Tötung, Totschlag oder sogar Mord strafbar.

Die Straflosigkeit der Teilnahme an freiverantwortlichen Suiziden beruht strafrechtsdogmatisch – aus Sicht der Sterbehilfebefürworter – darauf, dass die eigenverantwortliche Selbstschädigung kein strafwürdiges Unrecht darstellt. Folglich kann sie auch kein Ansatzpunkt für eine Beteiligungsstrafbarkeit sein.

Freiverantwortlich bedeutet aus Sicht der „Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben“: Die freitodwillige Person weiß, was sie tut (Urteils- und Entscheidungsfähigkeit). Sie handelt nicht aus einem Affekt heraus und kennt die möglichen Alternativen (Wohlerwogenheit). Zudem muss der Freitodwunsch dauerhaft sein (Konstanz) und von Dritten nicht beeinflusst (Autonomie). Hinzu kommt noch, dass der Freitod eigenhändig ausgeführt werden muss (Tatherrschaft).

Im Jahr 2021 haben deutsche Sterbehilfe-Organisationen in fast 350 Fällen Suizide begleitet oder Assistenz für die Selbsttötung vermittelt. Die Zahlen beruhen auf den eigenen Angaben der „Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben“ (120 Fälle), „Dignitas Deutschland“ (97 Fälle) und „Verein Sterbehilfe“ (129 Fälle). Alle drei Sterbehilfe-Organisationen stellten auch Hilfe für Paare bereit, die gemeinsam sterben wollten.

Sterbehilfe aus Sicht der Kirchen und Religionen

Aus christlicher Sicht ist alles Leben ein göttliches Geschenk und das Sterben Teil des Lebens. Abgeleitet von diesem Grundsatz lehnt die Kirche die organisierte oder kommerzielle Beihilfe zum Suizid sowie den ärztlich assistierten Suizid ab. Sie sehen sich verpflichtet, das Leben von Beginn an bis zum Ende zu schützen.

Anders sieht es bei der passiven Sterbehilfe oder ambulanten und stationären Hospiz- und Palliativangeboten aus. Diese unterstützen sie. Menschen in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten und zu versorgen, schließt für sie Seelsorge und Schmerzmedikamente ein.

Ähnlich sieht es der Islam und auch das orthodoxe Judentum.

Im Gegensatz dazu ist im liberalen und progressiven Judentum auch aktive Sterbehilfe nicht generell verboten.

Im Buddhismus gilt die Sterbehilfe als ein schlimmes Vergehen, das nur zusätzliche Schwierigkeiten bringt. Dies gilt nicht nur für denjenigen, der sich eigenhändig das Leben nimmt, sondern auch für Helfer, seien es Ärzte oder Angehörige. Der aktive Sterbehelfer tötet und erzeugt damit für sich ein schlechtes Karma.

Der Mensch, der sein Leben mit fremder Hilfe vorzeitig beendet, handelt aus buddhistischer Sicht sogar doppelt verkehrt. Er vernichtet Leben, verkürzt die Zeit für neue Erkenntnisse und verhindert den Abbau von Karmaschulden durch Leiden. Damit verschiebt er sein Leid auf das nächste Leben.

Zahl der aktiven Sterbehilfefälle und assistierten Suizide steigt

In den meisten europäischen Ländern ist Beihilfe zur Selbsttötung oder aktive Sterbehilfe verboten. Sonderregelungen gibt es in Belgien, Luxemburg, Niederlande, Spanien und der Schweiz.

Die Zahlen aus Belgien, den Niederlanden und der Schweiz zeigen, dass die Zahl der aktiven Sterbehilfefälle beziehungsweise assistierten Suizide seit 2002 fast kontinuierlich ansteigt. Darin sehen sich Kritiker bestätigt, die vor dem Sinken der Hemmschwelle zur Tötung warnten.

In den Niederlanden starben 2020 laut offiziellem Bericht 6.938 Menschen durch Tötung auf Verlangen. Das sind täglich 19 Fälle. Durchgeführt wurde die aktive Sterbehilfe hauptsächlich von Hausärzten (82,4 Prozent) und zu Hause (81,8 Prozent). Laut dem Bericht litt die Mehrheit der Suizidenten an einer Krebserkrankung (65 Prozent). Zugleich nahmen aber Ärzte auch andere Diagnosen zum Anlass, den Weg zur Euthanasie freizugeben. Dazu gehörten etwa die „Kumulation von Altersbeschwerden“ (235 Fälle) oder Demenz (170 Fälle).

Von den in der Schweiz registrierten Todesfällen – etwa 70.000 pro Jahr – sind aktuell 1,5 Prozent  Suizidbegleitungen. 2020 lag der Anteil der Tötungen auf Verlangen in den Niederlanden, bezogen auf alle Todesfälle im Jahr, bei etwa 4 Prozent. Die genauen Hintergründe für den Anstieg sind nicht bekannt.

Die Angst vor Einsamkeit und Schmerz

Oftmals stecken hinter dem Suizidwunsch Ängste. Das kann die Angst vor Einsamkeit, Kontrollverlust, anderen eine Last zu sein oder die Angst vor Schmerzen oder langem Leiden sein. Gleichsam gibt es Menschen, die des Lebens müde oder satt sind aufgrund von Depressionen oder fehlendem Lebenssinn. Andere sehen aufgrund einer schwerwiegenden Krankheitsdiagnose keinen anderen Ausweg. Wiederum andere Leiden jahrelang unter Schmerzen und fehlender Aussicht auf Heilung.

Für viele Sterbebegleiter gehört der Kontrollverlust zum Sterben dazu und nur Vertrauen und Hingabe kann die Angst auflösen. Sie appellieren dafür, statt einen assistierten Suizid zu suchen, sich dem Prozess des Übergangs und des Sterbens hinzugeben und für die passenden Umstände zu sorgen. Medikamente könnten heutzutage unerträgliche Schmerzen gut lindern. Mit einer Patientenverfügung kann man vorab schriftlich festlegen, ob und wenn ja, in welcher Form passive Sterbehilfe für einen infrage kommt, wenn man nicht mehr ansprechbar ist. Aktive Sterbehilfe oder assistierter Suizid kann nicht per Patientenverfügung festgelegt werden, da in einem Zustand der Nicht-Ansprechbarkeit keine freiverantwortliche Entscheidung mehr getroffen werden kann.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Epoch Times Wochenzeitung, Ausgabe Nr. 62, vom 17. September 2022.



Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion