Siemens: Tage des Joe Kaeser könnten gezählt sein – Fachpresse bescheinigt ihm Blamage

Mit seinem Versuch, der Bewegung „Fridays for Future“ entgegenzukommen, hat Siemens-Vorstandschef Joe Kaeser seine Variante eines Stakeholder-Ansatzes möglicherweise überspannt. Sogar wohlmeinende Beobachter bescheinigen ihm einen führungstechnischen Super-GAU.
Von 14. Januar 2020

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Diese bittere Erkenntnis holt derzeit den Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser ein. Der Publizist Gabor Steingart fühlte sich am Dienstagmorgen (14.1.) in seinem „Morning Briefing“ sogar genötigt, jetzt schon „den Nachruf auf Joe Kaeser zu verfassen“.

Einer der großen Männer der deutschen Wirtschaft, so Steingart, sei an sein Ende gekommen: „Sein Vertrag läuft noch, aber seine Autorität ist erloschen. Er wird der Marke Siemens, die in ihren besten Tagen für Pioniergeist stand, keinen Dienst mehr erweisen können.“

Auch die „Neue Zürcher Zeitung“ bescheinigt ihm, sich mit dem Versuch verspekuliert zu haben, deutsche Klimafundamentalisten, die an der vereinbarten Lieferung von Siemens-Bahntechnik für ein Kohlebergwerk des indischen Adani-Konzerns in Australien Anstoß nahmen, durch proaktive Maßnahmen zu besänftigen.

Rückzieher hätte weltweit Vertrauen in Vertragstreue von Siemens zerstört

Die Bewegung „Fridays for Future” hatte die Serie von Wald- und Buschbränden in Australien, für die sie den „menschengemachten Klimawandel“ verantwortlich macht, zum Anlass genommen, öffentlich den Rücktritt des Konzerns von der Lieferung zu fordern. Kaeser erklärte sich bereit, sich mit der deutschen Sprecherin der Bewegung, Luisa Neubauer, zu treffen – und setzte eine außerordentliche Vorstandssitzung an, die darüber entscheiden sollte, ob man tatsächlich an dem Vertrag festhalten sollte.

Der Vorstand machte keinerlei Anstalten, an dem rechtsgültigen Vertrag oder dessen Erfüllung zu rütteln. Ein Rückzieher, auf den „Fridays for Future“ nach der Zusage einer nochmaligen Überprüfung gehofft hatte, hätte mehr als nur die Gefahr einer Vertragsstrafe für den Konzern nach sich gezogen. In einer globalisierten Wirtschaft, in der ein Auftrag dieser Art problemlos auch an einen Konkurrenten aus den USA, Großbritannien oder anderen Ländern gehen könnte, hätte Siemens als das einst weltweit geachtete Flaggschiff deutscher Wertarbeit mit einem Mal den Ruf gehabt, selbst im Zusammenhang mit Millionenaufträgen jederzeit vor radikalen politischen Pressure Groups in die Knie zu gehen.

Kaeser versuchte die Situation zu retten, indem er die Einrichtung eines „Nachhaltigkeitsgremiums“ ankündigte und Luisa Neubauer gar einen gut dotierten Posten bei Siemens Energy anzubieten. Unmittelbar nach dieser Ankündigung gab der Börsenkurs der Siemens-Aktie deutlich nach. Und Neubauer selbst, die außer einer politischen Haltung keine erkennbaren Qualifikationen für einen Posten dieser Art mitbringt, lehnte am Ende gar „irgendwelche Aufsichtsratsgeschichten“ ab und schlug vor, stattdessen einen Vertreter der „Scientists For Future“ damit zu betrauen.

Extensive Interpretation des Stakeholder-Gedankens

Mit der Häme, die sich darob in sozialen Medien über Kaeser ergoss, hätte der Konzernchef leben können. Dass er mit seinem nicht einmal erfolgreichen Anbiederungsversuch allerdings auch das Vertrauen der Aktionäre und potenzieller Kunden auf dem Weltmarkt aufs Spiel gesetzt hatte, könnte allerdings schon zeitnah ein Nachspiel auf Vorstandsebene haben. Wenn Kaeser stürzt, könnte damit künftig aber auch der Management-Ansatz, für den er steht, in Misskredit geraten sein.

Es ist unklar, ob Joe Kaeser den früheren Continental-Konzernchef Hubertus von Grünberg als sein persönliches Negativbeispiel vor Augen hatte, dem er um keinen Preis nacheifern wolle, als er 2013 vom Finanzvorstand von Siemens an den Posten des Vorstandsvorsitzenden gewechselt war.

Im Jahre 2006 hatte er die Nachfolge von Heinz-Joachim Neubürger als Finanzvorstand des Konzerns angetreten, der wegen Schmiergeldvorwürfen unter Druck geraten war – von denen Kaeser nichts gewusst haben wollte. Zu dieser Zeit beherrschte noch ein Managertyp in deutschen Großkonzernen die Szenerie, die wie von Grünberg für Linke, Gewerkschaften und die sogenannte Zivilgesellschaft exakt ihren Mythos vom „Raubtierkapitalismus“ verkörperten: Manager, die den Gedanken des „Shareholder Value“ als einzig relevante Richtschnur der Konzernpolitik betrachteten.

Demnach liege die einzige Aufgabe und Verantwortung eines Konzernchefs darin, den Börsenwert des Unternehmens zu steigern. In den 1990er Jahren galt von Grünberg dadurch in Deutschland und Österreich, wo in Traiskirchen das zuvor aufgekaufte Semperit-Werk geschlossen wurde, phasenweise zum meistgehassten Manager des Landes. Von Grünberg verordnete dem angeschlagenen Konzern drastische Sparmaßnahmen, schloss Betriebsstätten und entließ tausende Beschäftigte.

„Gesellschaftliche Verantwortung“ und „Moral“ im Vordergrund

Dass am Ende des Programms nicht nur Continental auf der Erfolgsspur war, sondern auch die zuvor entlassenen Arbeiter, in deren Weiterbildung der Konzern im Rahmen seiner Sozialpläne investiert hatte, anderswo wieder in Lohn und Brot standen, erlangte vergleichsweise weniger an öffentlicher Aufmerksamkeit als die Werksschließungen.

An Wirtschaftsuniversitäten und in Management-Lehrgängen war der „Shareholder Value“-Ansatz mittlerweile durch den „Stakeholder“-Gedanken verdrängt worden. Unternehmen sollten in ihrer Geschäftspolitik demnach nicht nur die Anteilseigner im Auge behalten, sondern auch Menschen und Interessen, die durch diese potenziell beeinflusst werden. Schmiergeldskandale wie bei Siemens und Affären wie die „Lustreisen“ für Hamburg-Mannheimer-Mitarbeiter in Budapest hatten das Image namhafter deutscher Wirtschaftsgrößen in der Öffentlichkeit zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen.

Joe Kaeser gehörte zu denjenigen, die dieser Entwicklung gegensteuern wollten, indem sie den Stakeholder-Ansatz möglichst extensiv interpretierten: nämlich dahingehend, dass Industriekonzerne auch eine Verantwortung für die „Moral“ und für die „gesamte Gesellschaft“ hätten.

Er meldete sich in Debatten wie jener um das bedingungslose Grundeinkommen zu Wort und wies AfD-Fraktionschef Alice Weidel öffentlich nach einer polternden Rede über „Messermänner“ und „Kopftuchmädchen“ im Bundestag zurecht. Sogar mit den „Seenotrettern“ von Sea-Watch erklärte er sich auf Twitter solidarisch.

Weiche Knie in Peking, Moskau und Teheran

Mit härteren Gegnern als der AfD, dem CO2 oder der europäischen Grenzsicherung tat Kaeser sich etwas schwerer. Als die VR China Proteste in Hongkong niederknüppeln ließ, hinderte ihn dies nicht daran, Bundeskanzlerin Angela Merkel dorthin zu begleiten und nicht zu hart mit dem Regime ins Gericht zu gehen. Mit Blick auf die Marktchancen des Konzerns plädierte Kaeser dafür, „kulturelle Besonderheiten im Umgang miteinander [zu] respektieren“. In Peking kritisierte er offen die Versuche des US-Präsidenten Donald Trump, sich gegen unlautere Handelspraktiken und Industriespionage durch das festlandchinesische Regime zur Wehr zu setzen.

Bereits 2014 hatte er in Moskau dem Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, seine Aufwartung gemacht – kurz nachdem dieser mit der Abspaltung der Halbinsel Krim von der Ukraine ein Exempel am Westen statuieren wollte, den er für den damaligen Machtwechsel in Kyjiw verantwortlich machte.

Seine Geschäfte mit dem Iran, die nach dem Abschluss des Atomabkommens JCPOA deutlich ausgeweitet worden waren, fuhr der Konzern erst zurück, als neue Sanktionen der USA 2018 unerwünschte Folgewirkungen auf das Geschäft mit den Amerikanern befürchten ließen.



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