Terror-Opfer vom Breitscheidplatz: „Fassungslos, dass die Bundesregierung uns immer noch anlügt“
Am heutigen Donnerstagabend (19.12.) jährt sich zum mittlerweile dritten Mal der Anschlag des Islamisten Anis Amri auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz in Berlin. Zwölf Menschen starben und mehrere Dutzende wurden zum Teil schwer verletzt, als der wenige Tage später bei einer Polizeikontrolle in Italien erschossene Extremist einen gestohlenen Lkw mutwillig in die Menge steuerte.
Zum Gedenken an die Opfer werden deshalb um 20.02 Uhr – dies war der Zeitpunkt, an dem sich der Anschlag ereignete – die Glocken der Gedächtniskirche zwölf Mal schlagen. Zu einer Gedenkzeremonie werden, wie der „Focus“ berichtet, neben Hinterbliebenen auch der Opferbeauftragte der Bundesregierung, Edgar Franke (SPD), und der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, Ralf Wieland (SPD), erwartet.
Erheblicher Unmut über „VP01“-Affäre
Auch drei Jahre nach der Tat ist bei Überlebenden des Anschlags und Hinterbliebenen keine Normalität eingekehrt. Viele von ihnen hadern auch mit der Art und Weise, wie die Politik mit der Situation umgegangen ist. Dies beginnt bei der aus Sicht vieler Betroffener teilnahmslosen Reaktion der Bundesregierung und der Kanzlerin Angela Merkel und erstreckt sich bis zum Vorwurf fehlenden Aufklärungseifers bezüglich potenzieller Versäumnisse der Behörden im Vorfeld der Tat.
Die Sprecherin der Hinterbliebenen des Anschlages vom Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, Astrid Passin, erhebt angesichts der jüngsten Enthüllungen im Untersuchungsausschuss des Bundestages schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung und fordert eine schnelle Vernehmung des damaligen Bundesinnenministers Thomas de Maizière (CDU). „Wir sind zutiefst enttäuscht über die neuesten Nachrichten aus dem Untersuchungsausschuss“, sagte Passin den Zeitungen des „Redaktionsnetzwerks Deutschland – RND“ (Samstagsausgaben). Man fordere die „Vernehmung von Thomas de Maizière“, so die Sprecherin der Hinterbliebenen weiter.
Im Untersuchungsausschuss des Bundestages war es am Donnerstag der Vorwoche (12.12.) erstmals zu einer Konfrontation zweier Beamter des BKA und des LKA NRW gekommen, die zu einem äußerst pikanten Detail in der Amri-Affäre entgegengesetzte Einschätzungen geäußert hatten.
Der LKA-Beamte M. gab an, der erste Kriminalhauptkommissar im BKA, Philipp K., habe ihm am Rande einer Besprechung beim Generalbundesanwalt am 23. Februar 2016 gesagt, der Informant „VP01“ des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamtes, der damals auf die Gefährlichkeit des späteren Attentäters Anis Amri hingewiesen habe, „mache zu viel Arbeit“
Spielt de Maizière auf Zeit?
Wie sich später herausstellte, stammte „VP01“ aus dem engsten Umfeld Amris. Ob er tatsächlich in der Lage gewesen wäre, die Behörden rechtzeitig vor konkreten Anschlagsplänen Amris zu warnen, ist unklar – die diesbezügliche Wahrscheinlichkeit wäre jedoch ohne die Anweisung, die Quelle abzuschalten, zumindest nicht gesunken.
K. soll M. Anfang des Jahres 2016 unter vier Augen darüber in Kenntnis gesetzt haben, dass es eine solche Anweisung gab. Dabei hieß es, dass die Anweisung „von ganz oben“ autorisiert gewesen wäre. Sogar der Name des damaligen Bundesinnenministers Thomas de Maizière fiel in M.s Aussage in diesem Kontext. Eine eindeutige Klärung gab es jedoch auch im Rahmen der Konfrontation nicht.
Woran die Hinterbliebenenvertreter ebenfalls Anstoß nehmen: De Maizière sei als Innenminister für die direkt nach dem Anschlag verhängte Informationssperre verantwortlich gewesen. Seine Aussage sei deshalb sehr wichtig. „Uns wurde immer gesagt, dass die Zeugen der oberen Etage erst am Schluss vernommen werden sollen. Aber das halten wir zumindest in diesem Fall für falsch“, äußerte sich Passin.
Die Zeit könnte auch knapp werden. Tempo sei geboten, weil die Legislaturperiode spätestens 2021 zu Ende gehe und zudem Neuwahlen nicht ausgeschlossen seien, so die Sprecherin der Hinterbliebenen. Damit ende automatisch auch der Untersuchungsausschuss.
Passin, die selbst bei dem Anschlag ihren Vater verloren hatte, wittert eine „Hinhaltetaktik der Bundesregierung“. Die Angehörigen seien „fassungslos, dass ihre Vertreter sich mit uns an einen Tisch setzen und uns anlügen – und hinterher kommen immer wieder solche Tatsachen heraus. Das macht uns wütend“, so die Sprecherin der Hinterbliebenen weiter. Sie hoffe, dass noch mehr Menschen „den Mut finden, die Dinge beim Namen zu nennen – so wie es jetzt im Ausschuss geschehen ist“, sagte Passin den Zeitungen des RND.
„Ich habe den Eindruck, dass wir den Behörden zu teuer werden“
Anlässlich des Gedenktages erklärte der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller, es dürfe nicht zugelassen werden, dass „solche Untaten einen Keil in unsere Gesellschaft treiben“. Unsicherheit und Angst sollten nicht das Leben bestimmen. Eine Botschaft des 19. Dezembers 2016 sei, die Freiheit nicht aufzugeben.
Die Überlebenden mussten jedoch bereits am Tag des Anschlags viel an Freiheit ungefragt und dauerhaft aufgeben. „Der Alltag fällt mir schwer. Unbeschwert einkaufen gehen, Kino, S-Bahn fahren: All das geht nicht mehr“, erklärte Terroropfer Sieglinde Heinemann gegenüber rbb24. Sie sei aus Berlin weggezogen, weil Menschenansammlungen bei ihr Panik- und Angstattacken auslösen. Einmal pro Woche sei sie wegen einer diagnostizierten Posttraumatischen Belastungsstörung und einer Depression in Therapie. An Arbeit in ihrem Beruf ist für die gelernte Verkäuferin unter diesen Umständen nicht zu denken.
Zugleich sei die Verdienstausfallszahlung durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales ausgelaufen, nun müsse sie sich langwierig um die Hilfe bemühen, die den Opfern eigentlich als „schnell und unbürokratisch“ in Aussicht gestellt worden wäre. „Ich habe den Eindruck, dass wir den Behörden zu teuer werden“, erklärt sie gegenüber rbb24. „Ich möchte die Ordner eigentlich gerne schließen und den ständigen Rechtsstreit endlich beenden. Wir sind diesen Lkw nicht gefahren – wir sind doch die Opfer.“
Mehrere Dutzend Opfer bis heute arbeitsunfähig
Mindestens ein Dutzend der Überlebenden soll dem Sender zufolge heute noch Pflegeleistungen erhalten. Der Opferschutzbeauftragte Franke sprach von einem Verletzten, der rund um die Uhr gepflegt werden müsse, und etwa 20 ihm persönlich bekannten Betroffenen, die immer noch unter den psychischen Folgen dieser schrecklichen Tat litten.
Etwa ebenso viele könnten bislang ihrer Arbeit nicht wie vor dem Anschlag nachgehen. Bisher seien rund 4,3 Millionen Euro finanzieller Hilfe an Betroffene und Hinterbliebene ausgezahlt worden. Die Höhe der Opferrenten betrügen für die Verletzten derzeit je nach Grad der Schädigung zwischen 151 und 784 Euro im Monat. Mindestens drei Menschen würden lebenslang monatliche Entschädigungszahlungen erhalten.
(Mit Material von dts und dpa)
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