Hindernisse auf dem Weg zu einer modernen Demokratie: Mit dem Mittel der Listenplätze werden Parteimitglieder diszipliniert

Für den Bundestag ist gesetzlich eine Größe von 598 Mitgliedern vorgeschrieben - derzeit sitzen 709 Abgeordnete im Saal. Helmut Schmidt hat einmal gesagt, dass die Demokratie alles andere als ideal ist, aber wir haben nun mal nichts Besseres. Daher sollte die Demokratie weiterentwickelt werden.
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Der Plenarsaal des Bundestages in Berlin.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 23. November 2018

Seit Jahren wird die Bundesregierung vom Verfassungsgericht aufgefordert, das Wahlrecht zu reformieren. Geschehen ist fast nichts. Der aktuelle Bundestag verzeichnet die Rekordanzahl von 709 Mitgliedern und aufgrund des Systems von Überhang- und Ausgleichsmandaten können es in Zukunft noch mehr werden. Wieder einmal müssten radikale Veränderungen angedacht werden, um dieses Problem zu lösen.

Vom Kapitalismus wird gesagt, er befinde sich im Endstadium und der finale Zusammenbruch sei nur noch eine Frage der Zeit. Betrachtet man den Zustand unserer Demokratie, ist es nicht falsch, eine analoge Feststellung zu treffen.

Beide haben während der letzten 100 Jahre gezeigt, dass sie die großen Erwartungen nicht erfüllen konnten, die man sich erhofft hatte: Wohlstand und Frieden für alle. Bezüglich der Wirtschaftsordnung haben wir bereits ein neues, revolutionäres System vorgestellt: „Die Humane Marktwirtschaft“ nach Haisenko/ von Brunn. Jetzt haben wir uns Gedanken gemacht, wie das Problem der Überhangmandate gelöst und gleichzeitig die Demokratie volksnäher gestaltet werden könnte. Auch dazu muss man sich von alten Dogmen verabschieden.

Mit dem Mittel der Listenplätze werden Parteimitglieder diszipliniert

Die repräsentative Demokratie ist grundsätzlich nicht schlecht, ist aber durch den Parteienklüngel verkommen zu einem Apparat, der freies Denken verhindert und nur noch Jasager in lukrative Posten befördert. Parteimitglieder werden mit dem Mittel der Listenplätze diszipliniert. Wer abweichende Positionen auch nur andiskutiert oder gar „Führungspersonen“ in Zweifel zieht, wird auf die letzten Plätze abgeschoben.

Auf diese Weise wird jegliche innerparteiliche Diskussion im Keim erstickt. Hinzu kommt das Problem mit den Überhangmandaten. Natürlich wird man mich wieder einen Populisten schimpfen, wenn ich eine verblüffend einfache Lösung für beide Probleme auf einmal vorstelle.

Ein Direktmandat, also wenn ein Kandidat die meisten Stimmen eines Wahlbezirks auf sich vereinigen konnte, ist in der Demokratie geradezu etwas Heiliges.

Das war logisch und richtig, solange es in der jungen BRD im Wesentlichen nur drei Parteien gab. Heute aber sitzen bereits sechs Parteien im Bundestag und bei der letzten Wahl zum Berliner Senat durfte sich die SPD mit gerade mal etwas mehr als 20 Prozent als „Wahlsieger“ bezeichnen.

Da muss man sich schon fragen, welchen Wert ein Direktmandat überhaupt noch hat, wenn es mit lächerlichen zwanzig Prozent der Stimmen „gewonnen“ werden kann. Angesichts solcher Verzerrungen ist es also durchaus denkbar, dass eine 25-Prozent-Partei alle Direktmandate gewinnt und durch die dann zu vergebenden Überhangmandate die Parlamente auf nahezu die doppelte Größe anwachsen.

Gerecht wäre ein System des innerparteilichen Wettbewerbs

Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei durch Direktmandate mehr Sitze im Parlament erhält, als ihr nach dem prozentualen Ergebnis zustünden.

Zum Ausgleich müssen dann alle anderen Parteien im Verhältnis des Wahlergebnisses zusätzlich Sitze erhalten. Mit diesem System sind alle Parteien zufrieden, denn alle Fraktionen erhalten so mehr Sitze und können dem entsprechend mehr Parteimitglieder an die begehrten Fleischtöpfe bringen.

Das dürfte denn auch der Grund sein, warum die Aufforderung des Verfassungsgerichts zu einer Reform, die den Bundestag zu seiner gesetzlich vorgeschriebenen Größe von 598 Mitgliedern zurückführte, derart nachlässig behandelt wird. Dabei wäre es im Grunde ganz einfach. Man müsste dieses Überhangprinzip nur umkehren. Und das sieht so aus:

Die zur Verfügung stehenden Sitze werden einfach nach dem prozentualen Ergebnis an die Parteien verteilt. Gibt es für eine Partei mehr Direktmandate, fallen dann eben einige einfach weg.

Um das aber auch innerparteilich „gerecht“ zu gestalten, muss das System der Listenplätze komplett abgeschafft werden.

Es sollte durch ein System des innerparteilichen Wettbewerbs ersetzt werden: Die prozentual verfügbaren Parlamentssitze werden vergeben an diejenigen, die in ihren Wahlkreisen das beste Ergebnis erzielen konnten – der Reihe nach im Vergleich zu ihren Mitbewerbern aus der eigenen Partei.

Auf diese Weise kann das Disziplinierungs-Instrument Nummer eins, nämlich die Vergabe von Listenplätzen, entmachtet werden. Die ist eigentlich undemokratisch, weil sie Seilschaften und Häuptlingen eine Macht verleiht, die es in einer Demokratie nicht geben sollte.

Auf den unteren Ebenen funktioniert Demokratie noch

Um das nochmals zu verdeutlichen: Alle Parteien, die sich zur Wahl stellen, erhalten in den Parlamenten ihren prozentualen Anteil an Sitzen.

Welchen Volksvertreter diese Parteien dann in die Parlamente entsenden dürfen, bestimmt nicht mehr ein Parteienklüngel, sondern der Wähler direkt.

Er – und nur er – sollte mit seiner Stimme entscheiden, welcher Kandidat letztlich ins Parlament einzieht. Das gilt für die „großen“ Parteien genauso, wie für die kleinsten. Da kommt natürlich sofort der Einwand, dass ein gewonnenes Direktmandat auch ausgeübt werden muss. Ich stelle die Gegenfrage: Warum eigentlich?

In der heutigen Zeit ist es die krasse Ausnahme, wenn ein Direktkandidat mehr als 50 Prozent auf sich vereinigen kann. Es gibt bereits diverse „Direktmandate“, die keine 25 Prozent der Stimmen für sich reklamieren können. Ist es da noch vertretbar, diesen Direktkandidat als alleinigen Vertreter der Mehrheit eines Wahlbezirks zu bezeichnen? Sicher nicht!

Zudem ist es illusorisch anzunehmen, dass ein Direktkandidat im Bundestag tatsächlich Interessen wahrnehmen kann, die spezifisch für seinen Wahlkreis wichtig wären. Derlei Themen werden in den Regionalparlamenten bis hinunter in die Gemeinderäte abgehandelt.

In diesen Bereichen existiert tatsächlich vielfach noch eine Form der Demokratie, die volksnah und parteiunabhängig ist. Nicht wenige Bürgermeister und Landräte stehen beispielhaft dafür, wenn sie entgegen dem großen Wahltrend als Mitglied einer Minderheitenpartei oder gar parteilos in ihre Ämter gewählt worden sind. Auf diesen unteren Ebenen funktioniert Demokratie noch.

Mein Vorschlag zur Änderung des Wahlrechts ist revolutionär, aber auch bewahrend. Er ändert wenig an der repräsentativen Demokratie, zwingt die Parteien aber, intern basisdemokratischer zu handeln. Es kommt nicht mehr darauf an, seinem Parteichef nach dem Mund zu reden, um sich einen guten Listenplatz zu sichern, sondern vielmehr den Wählerwillen zu ergründen, um in seinem Wahlkreis Erfolg zu haben.

Die grundgesetzwidrige Praxis des Fraktionszwangs muss verboten werden

Mit der Abschaffung des Listenplatzsystems muss natürlich auch die grundgesetzwidrige Praxis des Fraktionszwangs verboten werden. Alle Abstimmungen in den Parlamenten sollten namentlich erfolgen, damit der Wähler sehen kann, wie seine Vertreter tatsächlich abstimmen.

Nur so kann er bei der nächsten Wahl entscheiden, wer tatsächlich seinen Willen vertritt und entsprechend seine Wahl treffen. Mit diesen Maßnahmen ist es dann auch einfacher, eine Minderheitsregierung zu bilden. Die Regierung wird gezwungen so zu regieren, dass sie die Zustimmung des Parlaments erhalten kann. Parteiübergreifend. DAS wäre Demokratie!

Ein weiterer Vorteil der Abschaffung des Listenplatzsystems wäre die Förderung der Redlichkeit der Politiker. Wie viele Skandale haben Politiker schadlos überstanden, weil sie ihren sicheren Listenplatz behalten durften.

Müssten sie sich aber dem Wähler direkt stellen, würden sie sich gut überlegen, bevor sie Handlungen begehen, die der Wähler nicht gutheißen kann. Raffzähne, Sitzungsschwänzer und Lobbyisten würden schnell vom Wähler aus den Parlamenten entfernt.

Das dürfte denn auch der Grund sein, warum die Regierung die Weisungen des Verfassungsgerichts so wenig beachtet. Im bestehenden System sitzen alle Häuptlinge und Apparatschiks sicher an ihren Fleischtöpfen – inklusive üppiger Pensionen.

Auch die Demokratie kann sich weiterentwickeln

Helmut Schmidt hat einmal gesagt, dass die Demokratie alles andere als ideal ist, aber wir haben nun mal nichts Besseres. Dem stimme ich zu, wende aber ein, dass die Demokratie kein Gottesgebot ist, sondern aus einer Entwicklung entstanden ist. Diese Entwicklung ist gestoppt. Vielleicht deswegen, weil man sich so bequem im aktuellen Status einrichten kann, wenn man erst einmal in die Nähe der Spitze gekommen ist.

Weil aber die Demokratie ausschließlich aus menschengemachten Regeln besteht, darf es nicht verboten sein, über eine Weiterentwicklung nachzudenken.

Ja, sie soll verteidigt werden, die Demokratie, schreien die Profiteure. Aber muss man nicht etwas eher weiterentwickeln, das schon Helmut Schmidt als verbesserungswürdig erkannt hat?

Anstatt etwas zu verteidigen, was sich mehr und mehr als untauglich erweist? Das nicht mehr in der Lage ist, zum Beispiel Großprojekte überhaupt noch zu vollenden?

Ein System, das mehr und mehr Demokratieverdrossenheit produziert? So, wie heute Demokratie und „westliche Werte“ mit religiöser Inbrunst an einer Weiterentwicklung gehindert werden, sollte damit ähnlich wie mit dem Christentum umgegangen werden: Schön, dass es das gibt, aber wir wollen es den Umständen der Gegenwart anpassen, ohne es grundsätzlich infrage zu stellen.

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