„Fassungslos“: Grüne Jugend hält Asylreformkompromiss für „unmenschlich“

Mit ihrem zähneknirschenden Ja zum EU-Asylkompromiss haben die grünen Minister Baerbock und Habeck eine Entscheidung gefällt, die kaum einem ihrer Parteimitglieder wirklich schmecken dürfte. Besonders für die Grüne Jugend scheint eine Welt zusammenzubrechen.
Timon Dzienus, Co-Chef der Grünen Jugend, ärgert sich über den Umgang der Grünen mit der Klimabewegung.
Archivbild: Timon Dzienus, der Co-Chef der Grünen Jugend, will die Reformpläne der EU zum Asylrecht „so nicht akzeptieren“.Foto: Kay Nietfeld/dpa
Von 9. Juni 2023

Nach dem EU-Asylkompromiss müssen sich Außenministerin Annalena Baerbock und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (beide Grüne) mit Kritik aus den eigenen Reihen auseinandersetzen: Timon Dzienus, der Co-Chef der Grünen Jugend, schrieb auf Twitter von einem „unmenschlichen“ Beschluss, den er „so nicht akzeptieren“ werde: „Mit dem gestrigen Kompromiss wird es mehr Leid, mehr Chaos, mehr Unsicherheiten geben. Die Koalition ist an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert“, meinte Dzienus.

Seine Mit-Chefin Sarah-Lee Heinrich unterstrich ihre Fassungslosigkeit über die von ihr als „Abschottung“ empfundene Einigung. Nun müssten „mehr Menschen leiden“.

Lang: „Fehler, aber schwierige Entscheidung“

Auch für Parteichefin Ricarda Lang war es ein Fehler, den EU-Plänen für ein „Gemeinsames Europäisches Asylsystem“ (GEAS) zuzustimmen, nach denen Asylbewerber ohne Bleibeperspektive eine Entscheidung künftig grundsätzlich in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen abwarten müssen.

Trotzdem bemühte sich Lang, ihre Kritik an den beiden Ampelministern nicht zu scharf aussehen zu lassen: Es sei „eine verdammt schwierige Entscheidung“ gewesen, „die sich niemand leicht gemacht“ habe. „Deshalb habe ich Respekt für alle, die in der Gesamtabwägung zu einem anderen Entschluss gekommen sind als ich“, twitterte die Grünen-Vorsitzende.

Lang bedauerte, dass der Vorschlag eines „verpflichtenden Verteilmechanismus“ innerhalb der EU nicht durchsetzbar gewesen sei und dass es nun auch „keine grundsätzliche Ausnahme von Kindern bei Grenzverfahren“ geben solle.

Nouripour: „Ein notwendiger Schritt“

Letzteres war auch für ihren Mitparteivorsitzenden Omid Nouripour eine Kröte, die es zu schlucken galt. „In der Gesamtschau“ komme er allerdings „zu dem Schluss, dass die heutige Zustimmung ein notwendiger Schritt ist, um in Europa gemeinsam voranzugehen“, twitterte Nouripour.

Die beiden grünen Fraktionschefinnen Britta Haßelmann und Katharina Dröge äußerten sich ähnlich reserviert und differenziert.

Haßelmann bezeichnete den EU-Asylkompromiss als „notwendigen Schritt“. „Aus europapolitischer Perspektive wäre ein Scheitern einer GEAS-Reform […] ein schlechtes Signal“ gewesen. Dröge drückte sich auf Twitter dagegen ähnlich wie Lang aus: Wäre es nach ihr gegangen, hätte die Bundesregierung dem Ministerratspapier nicht zustimmen dürfen. Ihr Ideal sei trotz aller Bemühungen nicht erreicht worden:

„Es wurden in den Verhandlungen durch das deutsche Engagement Verbesserungen erzielt, aber für mich werden sie dem Anspruch auf Solidarität und Humanität in Europa nicht ausreichend gerecht.“

Auch über 700 weitere Reformgegner der Grünen hatten ihre Ampelminister bis zuletzt beschworen, den EU-Asylreformplänen auf dem Innenministertreffen nicht zuzustimmen.

„Ich habe hohe Achtung vor denen, die aus humanitären Gründen zu anderen Bewertungen kommen“, erklärte Wirtschaftsminister Habeck gegenüber der dpa in Richtung seiner Kritiker in den eigenen Reihen. Er hoffe aber, dass auch diese sehen würden, „dass es Gründe gibt, dieses Ergebnis anzuerkennen“.

Reform des EU-Asylsystems auf den Weg gebracht

Am 8. Juni hatten sich Minister aus allen EU-Staaten im Rat zu Luxemburg nach jahrelangen schwierigen Debatten mehrheitlich darauf geeinigt, das Asylrecht zu verschärfen. Der Kompromiss war von der schwedischen Ratspräsidentschaft um Kommissarin Ylva Johansson vermittelt worden.

Künftig sollen Asylbewerber eine finale Entscheidung über ihr Aufenthaltsrecht in bewachten „Asylzentren“ an den EU-Außengrenzen abwarten müssen. Das „beschleunigte Verfahren“ soll im Idealfall nur noch maximal zwölf Wochen dauern. Die EU will dafür mehr Daten der Bewerber sammeln und zentral speichern. Falls die Entscheidung der Behörden am Ende negativ ausfällt, weil im Heimatland kein Krieg herrscht oder nicht von „politischer Verfolgung“ ausgegangen werden kann, dürfte sofort abgeschoben werden – auch in „sichere Drittstaaten“, die nicht zur EU gehören.

Infrage kämen dafür Länder, zu denen die Asylbewerber irgendeine Verbindung hätten, und sei es auch nur, dass sie das Land auf dem Weg zu den EU-Außengrenzen durchquert hatten. Asylbewerber aus Afghanistan oder Syrien dürften allerdings auch weiter wenig Probleme haben, einen Aufenthaltstitel zu bekommen.

Das sogenannte „Grenzverfahren“ soll zwar nicht für unbegleitete Minderjährige, dafür aber durchaus für Familien mit Kindern gelten. Dies zu verhindern, war eine der zentralen Forderungen der deutschen EU-Abgesandten Annalena Baerbock und Robert Habeck gewesen. Doch sie konnten sich nicht durchsetzen.

Faeser will beim „historischen Erfolg“ nachbessern

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte allerdings an, gemeinsam mit Portugal, Irland und Luxemburg versuchen zu wollen, entsprechende Ausnahmeregelungen doch noch zu erreichen. Auf Twitter bezeichnete sie den aktuellen Kompromiss aber bereits als „historischen Erfolg“, und zwar „für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten“.

Künftig sollen sämtliche EU-Länder auch gezwungen werden können, Flüchtlinge aufzunehmen, um für eine gleichmäßigere Belastung der EU-Staaten zu sorgen. Die Aufnahmequoten sollen per „Verteilschlüssel“ festgelegt werden. Wie dieser exakt aussehen soll, wurde noch nicht geklärt. Nationale Regierungen, die sich nicht an ihre Aufnahmeverpflichtung halten wollen, sollen aber auf jeden Fall „Ausgleichszahlungen“ für jeden nicht aufgenommenen Asylbewerber leisten müssen. Ungarn wehrte sich vor allem gegen diese Pflicht – allerdings erfolglos.

Beschluss soll noch vor EU-Wahl im Juni 2024 stehen

Die Kompromisspläne müssen nach Angaben der dpa noch durch das EU-Parlament gehen. Dabei könne es noch zu Änderungen am aktuellen Reformentwurf kommen. Das EU-Parlament besitzt zwar kein Veto-, aber ein Mitspracherecht.

Die finale Entscheidung zur Umsetzung hängt von der Zustimmung einer einfachen Mehrheit in der EU-Kommission um Ursula von der Leyen (CDU) ab. Sämtliche Gespräche könnten, sofern alles gut laufe, noch 2023 beendet sein. Somit könnte ein Beschluss noch vor der EU-Wahl im Juni 2024 feststehen.

Asyl und Migration seit Jahren Streitthema

Spätestens seit 2015/16 war das Thema Asyl zu einem der heftigsten Streitpunkte innerhalb der EU geworden. Die Weigerung der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihres Innenministers Thomas de Maizière, die Grenzen zu schließen, um unschöne Kamerabilder zu vermeiden, hatte zu einer faktischen Einwanderung in Millionenhöhe geführt.

Die Dublin-Verordnung der EU, nach dem jenes Mitgliedsland, auf dessen Territorium ein Migrant zuerst seinen Fuß setzt, auch für das Asylverfahren zuständig ist, wurde und wird bis heute verletzt. Auch der Grundgesetz-Artikel 16a, Absatz 2 findet keine Anwendung mehr in der Bundesrepublik: Demnach dürfte sich ein Migrant eigentlich nicht mehr auf ein Asylrecht berufen, sobald er auf seiner Flucht einen sicheren Drittstaat oder einen „Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften“ betreten hat.

Migrationszahlen explodieren

Der ungebremste Zustrom von Menschen vor allem aus Nahost und Afrika in Richtung Europa dauert nach wie vor an.

Im Zug des NATO-Abzugs aus Afghanistan und des Ukraine-Kriegs erfuhr der Andrang von Migranten einen erneuten Höhepunkt: Allein im Kalenderjahr 2022 waren in den 27 EU-Mitgliedstaaten über 881.000 Erstanträge auf Asyl gestellt – ein Anstieg um 64 Prozent gegenüber 2021. Dabei nicht mitgerechnet sind Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Sie genießen in der EU einen vorübergehenden Sonderstatus, müssen kein Asylverfahren durchlaufen und genießen ein automatisches Bleiberecht. Nicht einmal die Hälfte der Asylanträge führt am Ende zur Anerkennung eines Flüchtlingsstatus.

(Mit Informationen aus Agenturen)



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